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Hauptkampfplätze der Völkerkunde

Karl-Heinz Kohl über das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne.

Von Wolfgang Bock

Der Nestor der deutschen Ethnologie Karl-Heinz Kohl widmet sich in seinem neuen Buch dem sogenannten »Primitivismus«: Es geht um den Einfluss der indigenen Völker auf die europäische Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Das Feld wurde lange Zeit von dem einfachen Unterdrückungsparadigma einer Ausbeutung der Menschen und der Ressourcen durch den Kolonialismus beherrscht. Kohl widmet sich der umgekehrten Perspektive. Er untersucht an neun wichtigen Beispielen die Entstehung der kulturellen westlichen Moderne im Rückgriff auf die Kulturen der drei Kontinente.

Dafür verwendet Kohl den inkriminierten Begriff »Stämme«, der im Deutschen nach Archaismus klingt. Kohl versucht dagegen glaubhaft zu machen, dass es sich hierbei, wie bei vielen anderen Begriffen in der interkulturellen Debatte, um Übersetzungsfehler aus dem Englischen handele. Im Englischen gehe es um tribes und die »zwölf Stämme Israels« und die »deutschen Stämme«, von denen in der Weimarer Verfassung von 1919 noch die Rede ist, sollen dazu Gegenbeispiele darstellen. Dazu mag man stehen, wie man will: Was Kohl mit einigen Recht nicht behagt, ist der einfache Vorwurf einer kulturellen Aneignung an westliche Ethnologen, die sich mit anderen Kulturen befassen. Das Resultat trage oft genug Züge einer Herumdrehung des kolonialen Verhältnisses als einfaches Reversi:

»Stellt es nicht ein Hindernis für das wechselseitige Verstehen da, wenn es nur noch den Angehörigen der eigenen Kultur erlaubt sein soll, über deren Geschichte und gegenwärtige Lebensformen zu forschen?«

So fragt Kohl in einem etwas naiven Ton. Arglos ist es anzunehmen, dass der Kolonialismus nicht existiere; ebenso nichtsahnend wäre es aber auch, sich vorzustellen, dass kein gegenseitiger kulturellen Austausch zwischen den Kulturen stattgefunden hätte. Kohls Interpretationen gehen dagegen von dem Gedanken einer gegenseitigen Aneignung aus. Die sogenannten primitiven Kulturen leben nicht in der Steinzeit, sondern ebenfalls in der Moderne und sie profitieren auf ihre Weise von dem Kontakt mit den Kolonisatoren. Kohl stellt damit das Modell der Ausbeutung nicht grundsätzlich in Frage, er folgt aber einer Dialektik der Kulturaneignung insofern, als er von einer zweiten Linie der wechselseitigen Aneignung ausgeht. Entsprechend will Kohl auf Hartmut Rosas Vorstellung von Resonanz zurückgreifen und beschreibt, wie beispielsweise die Hopi in Nordamerika die sie exotisierenden Bilder, die Franz Boas, Aby Warburg und die Smithsonian Institution sich von ihrer Kultur machten, zu nutzen wussten:

»Die einstigen Fremdbilder sind so gewissermaßen selbst zu einem Teil ihres authentischen Kulturerbes geworden. Sie helfen Ihnen dabei, auf ihre nach wie vor prekäre Lage aufmerksam zu machen. Dass sie sich dabei der neuesten digitalen Medientechniken und sozialen Online-Netzwerke bedienen, versteht sich von selbst. Denn die indigenen Völker, die so viel zur Kultur der Moderne beigetragen haben, sind längst selbst in der Moderne angekommen.«

Mit dieser Perspektive untersucht der Ethnologe die brasilianischen Tupinambá der Guanabarabay und die Boroboro im Nordwesten des Landes, er widmet sich den erwähnten Schlangentänzen der Hopis ebenso wie dem Langhaus der Irokesen und den Potlatsch der kanadischen Ureinwohner in Nordamerika. Kohl berichtet auch von den Aranda in Zentralaustralien, den Einwohnern Tahitis ebenso wie von den Einwohnern Samoas und den Dogon in Mali. Mit anderen Worten, es handelt sich um Hauptkampfplätze der Ethnologie, in denen die europäische Kultur auf die autochthone Bevölkerung trifft, deren Aneignung einen wichtigen Rückstand in der europäischen Kultur hinterlässt. Die moderne Kunst eines Picassos und eines Braques ist ohne diese Zusammenhänge ebenso wenig denkbar wie die Psychiatrie Eugen Bleulers und die Ethnopsychoanalyse Paul Parins ohne die Auseinandersetzung mit der Ansicht der Dogon, die Weißen dächten zu viel.

From the enemy’s point of view
Gleich im ersten instruktiven Kapitel zeigt Kohl exemplarisch, wie fruchtbar sein Ansatz ist. Er zeichnet die Bilder der Menschenfresser nach, die die ersten Reiseberichte aus Brasilien von Hans von Staden und Jean de Léry durchziehen. Diese sind von dem Bemühen geprägt, die eigenen Grausamkeiten während der Religionskriege in Europa den vermeintlichen Wilden in die Schuhe zu schieben, um für sich selbst die Position des Kultivierten aufrechterhalten zu können. Das Anthropophagische-Manifest von Oswald von Andrade kehrt 1928 in der Kunstbewegung des brasilianischen Modernismus den Vorwurf des Primitivismus um und macht ihn zu einer Waffe. Bereits Claude Lévi-Strauss, aber auch die modernen Anthropologen Thilio Maranaho und Eduardo Viveiro de Castro etablieren diese anthropophage Perspektive als Dekolonialisierung der Ethnologie. Kohl verschweigt aber auch nicht, dass die realen Tupi weiterhin der Vernichtung anheimgegeben sind.

Hier tauchen also Motive auf, die auch in der Auseinandersetzung um die Perspektive des globalen Südens auf der Documenta Fifteen 2022 eine wichtige Rolle spielten. Achille Mbembe und seine Kritik der schwarzen Vernunft bezieht sich ebenso auf Motive von Aimé Césaire und Léopold Senghor und dem Konzept der Negritude. Die Transformation der verrückten Sklaven Sycorax, Caliban und Ariel aus Shakespeares Drama Der Sturm wird von den Kolonialisierten schon längst offensiv (einschließlich der Betonung des sogenannten N-Wortes) genutzt, während die westlichen Ethnologen noch oft genug der verdrehten Romantik einer einfachen Ausbeutung nachhängen. Kohls Buch klärt dagegen darüber auf, wie der Kontakt zwischen den Kulturen von Anfang an die Vorstellung der Moderne prägte.


Artikel online seit 30.06.24


 

Karl-Heinz Kohl
Neun Stämme
Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne.
C.H. Beck
312 Seiten
32,00 €
978-3-406-81350-4

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