Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik Impressum & Datenschutz |
||
Home Belletristik Literatur & Betrieb Krimi Biografien, Briefe & Tagebücher Politik Geschichte Philosophie |
||
|
||
Hauptkampfplätze
der Völkerkunde |
||
Der Nestor der deutschen Ethnologie Karl-Heinz Kohl widmet sich in seinem neuen
Buch dem sogenannten
»Primitivismus«:
Es geht um den Einfluss der indigenen Völker auf die europäische Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte. Das Feld wurde lange Zeit von dem einfachen
Unterdrückungsparadigma einer Ausbeutung der Menschen und der Ressourcen durch
den Kolonialismus beherrscht. Kohl widmet sich der umgekehrten Perspektive. Er
untersucht an neun wichtigen Beispielen die Entstehung der kulturellen
westlichen Moderne im Rückgriff auf die Kulturen der drei Kontinente. »Stellt es nicht ein Hindernis für das wechselseitige Verstehen da, wenn es nur noch den Angehörigen der eigenen Kultur erlaubt sein soll, über deren Geschichte und gegenwärtige Lebensformen zu forschen?« So fragt Kohl in einem etwas naiven Ton. Arglos ist es anzunehmen, dass der Kolonialismus nicht existiere; ebenso nichtsahnend wäre es aber auch, sich vorzustellen, dass kein gegenseitiger kulturellen Austausch zwischen den Kulturen stattgefunden hätte. Kohls Interpretationen gehen dagegen von dem Gedanken einer gegenseitigen Aneignung aus. Die sogenannten primitiven Kulturen leben nicht in der Steinzeit, sondern ebenfalls in der Moderne und sie profitieren auf ihre Weise von dem Kontakt mit den Kolonisatoren. Kohl stellt damit das Modell der Ausbeutung nicht grundsätzlich in Frage, er folgt aber einer Dialektik der Kulturaneignung insofern, als er von einer zweiten Linie der wechselseitigen Aneignung ausgeht. Entsprechend will Kohl auf Hartmut Rosas Vorstellung von Resonanz zurückgreifen und beschreibt, wie beispielsweise die Hopi in Nordamerika die sie exotisierenden Bilder, die Franz Boas, Aby Warburg und die Smithsonian Institution sich von ihrer Kultur machten, zu nutzen wussten: »Die einstigen Fremdbilder sind so gewissermaßen selbst zu einem Teil ihres authentischen Kulturerbes geworden. Sie helfen Ihnen dabei, auf ihre nach wie vor prekäre Lage aufmerksam zu machen. Dass sie sich dabei der neuesten digitalen Medientechniken und sozialen Online-Netzwerke bedienen, versteht sich von selbst. Denn die indigenen Völker, die so viel zur Kultur der Moderne beigetragen haben, sind längst selbst in der Moderne angekommen.« Mit dieser Perspektive untersucht der Ethnologe die brasilianischen Tupinambá der Guanabarabay und die Boroboro im Nordwesten des Landes, er widmet sich den erwähnten Schlangentänzen der Hopis ebenso wie dem Langhaus der Irokesen und den Potlatsch der kanadischen Ureinwohner in Nordamerika. Kohl berichtet auch von den Aranda in Zentralaustralien, den Einwohnern Tahitis ebenso wie von den Einwohnern Samoas und den Dogon in Mali. Mit anderen Worten, es handelt sich um Hauptkampfplätze der Ethnologie, in denen die europäische Kultur auf die autochthone Bevölkerung trifft, deren Aneignung einen wichtigen Rückstand in der europäischen Kultur hinterlässt. Die moderne Kunst eines Picassos und eines Braques ist ohne diese Zusammenhänge ebenso wenig denkbar wie die Psychiatrie Eugen Bleulers und die Ethnopsychoanalyse Paul Parins ohne die Auseinandersetzung mit der Ansicht der Dogon, die Weißen dächten zu viel.
From the enemy’s point of view
|
Karl-Heinz
Kohl
|
|
|
||