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Das gefährdete Ich Über den Sturm-und-Drang-Literaten Rolf Dieter Brinkmann
Ein Essay von
Lothar Struck |
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Fünfzig Jahre ist es her, dass Rolf Dieter Brinkmann im Alter von 35 Jahren in London tödlich verunglückte, von einem Auto überfahren, weil, wie es heißt, er die Umstellung auf Rechtsverkehr nicht berücksichtigt hatte. Jürgen Theobaldy, ein Schriftsteller-Kollege (die Bezeichnung »Freund« ist bei Brinkmann eher schwierig) war dabei und kein Buch kommt ohne die Schilderung des Unfalls durch Theobaldy aus. Auch die beiden neuen Bücher machen da keine Ausnahme. Da ist zunächst eine unlängst erschienene, neue Brinkmann-Biografie Ich gehe in ein anderes Blau von Michael Töteberg und Alexandra Vasa. Töteberg ist Filmjournalist und leitete lange Jahre die Agentur für Medienrechte im Rowohlt Verlag; Alexandra Vasa ist Literaturwissenschaftlerin. Der Titel ist einem melancholischen Gedicht Brinkmanns aus den 1970ern mit dem kargen Titel Gedicht entlehnt, welches mit
»Wer hat gesagt, daß
sowas Leben endet. Passend hierzu wurde als Cover das längst ikonisch gewordene Foto Brinkmanns von Günther Knipp blau eingefärbt. Michael Töteberg steuert auch das Nachwort zur erweiterten Neuausgabe der Gedichtsammlung Westwärts 1 & 2 bei, die 1975, kurz vor Brinkmanns Tod (gekürzt) erschienen war. Und im Verlag Andreas Reiffer erscheint demnächst ein als Zettelkasten apostrophiertes biografistisches Buch des Schriftstellers und Journalisten Frank Schäfer. Man könnte von einem weiteren Versuch sprechen, den Todestag als eine Wiederbelebung von Rolf Dieter Brinkmanns Werk, das derzeit nur bruchstückhaft lieferbar ist, zu etablieren.
Aufsässig, aber nicht rebellisch Der Vater, im Gegensatz zur jähzornigen, fast immer missgelaunten Mutter ein geselliger Mensch, kam beim Finanzamt unter. Man arrangierte sich; die Zeit war entbehrungsreich. Rolf Dieter ging zur Volksschule, ab 1951 ins Gymnasium. Brinkmann wird immer wieder die Lehrer, die Schule, den Katholizismus schmähen und beschimpfen (nur der Deutschlehrer wird ausgenommen). Er war aufsässig, aber nicht rebellisch. 1956 trat er dem Debattierklub »Rhetorika« bei, der dem Gymnasium angegliedert war. Er referierte über Existentialismus und trug seine eigenen Gedichte vor. Die ersten literarischen Helden waren Sartre, Camus – und Benn, dem er einen Brief mit seinen Gedichten schrieb (der unbeantwortet bleibt). Seine Vorträge wurden kontrovers aufgenommen; Sartre stand auf dem Index. 1957 führte die »Rhetorika« Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür auf. Brinkmann spielte mit Begeisterung die Hauptrolle des Kriegsheimkehrers Beckmann. Brinkmann wollte unbedingt publizieren, schickte seine Gedichte an Literaturzeitschriften und diverse Verlage, unter anderem auch an Peter Suhrkamp. Er ist siebzehn Jahre alt, machte sich manchmal älter – es half nichts. Einzelne, noch erhaltene Gedichte aus dieser Zeit lassen, wie es heißt, die Absagen verständlich erscheinen. Er schwänzte die Schule, ging lieber in den Wald, schrieb immer weiter. Als seine Mutter an Brustkrebs erkrankte, verfasste er eine gnadenlose Erzählung über deren körperlichen Verfall (Der Arm). Die Fehlzeiten nahmen zu, der Vater zog die Reißleine. Brinkmann verließ 1958 ohne Abschluss die Schule. Über den kurzen Weg beim Finanzamt Oldenburg ging es schließlich nach Essen zu einem Buchhändler. Hier begegnete er Ralf-Rainer Rygulla; beide waren Sonderlinge, wurden Freunde. Brinkmann ließ von seinen Bewerbungen nicht ab, schrieb an Rowohlt, wo damals Peter Rühmkorf tätig war. Seinen Gedichten legte er ausführliche Interpretationen und Selbstwürdigungen bei. Ohne Erfolg. Schließlich verlegte er sich auf Erzählungen. Töteberg und Vasa schildern Brinkmanns langen, dornigen Weg zur Publikation nüchtern und unaufgeregt. Früh wird Brinkmanns Eigensinn deutlich, mit dem er sich häufig schadete. So schlug er eine Einladung zur Gruppe 47 aus. Schon damals widert ihn der Betrieb an. Über die zeitgenössischen Autoren sprach er verächtlich. Er zog Jakob Wassermann Thomas Mann vor. Er mochte inhaltslose, handlungslose Prosa, fühlte sich inzwischen vom Nouveau Roman angezogen, ließ aber nur Robbe-Grillet gelten. Später wurde er zum Kinogeher. Auch hier interessierte ihn das Abseitige, die Nouvelle Vague. Der Leser erhält einen guten Überblick, welche Filme er anschaute – deutsche Autorenfilme und Hollywood-Blockbuster waren es eher nicht. Begeistert war er allerdings von Nicht versöhnt von Jean Marie Straub und Danièle Huillet, einer Adaption von Heinrich Bölls Roman Billard um halbzehn, die damals in mehrfacher Hinsicht skandalös war. Brinkmann fand den Film besser als das Buch. Er zog nach Köln, studierte an der Pädagogischen Hochschule und lernte Maleen Kramer, die Tochter eines Bibliothekars, kennen. Die beiden heirateten 1964. Wenige Monate später wurde Sohn Robert geboren, der, wie sich später herausstellte, geistig behindert war. Die Familie lebte in einer Wohnung, die teilweise untervermietet werden musste. Er sah sich eingeschränkt, fand keine Ruhe. Mit Dieter Wellershoff, der damals bei Kiepenheuer & Witsch arbeitete, fand er eine Mischung aus Mentor, literarische Vaterfigur und verständnisvollen Lektor, der die Eskapaden des jungen Autors zu nehmen verstand. Es entstanden jetzt tatsächlich Gedichtbände. Brinkmann war versessen darauf, bis ins letzte Detail Cover, Druck und Schriftbild zu definieren. Wehe, man hielt sich nicht daran. Seine Schaffenskraft war so groß, dass er auch bei Klein- und Kleinstverlagen Bücher publizierte, die häufig nur eine Auflage von 200 oder 500 Exemplaren erreichte. Waren die Probleme bei KiWi schon groß, so schienen sie bei den kleinen Verlagen noch größer zu sein. Aber die Gedichte fanden im Feuilleton kaum Aufmerksamkeit.
Der einzige Roman Primär geht es in dem Roman um die fragile psychische Verfasstheit des Studenten, der sich in permanenter Unrast befindet und, wie man damals sagte, manisch-depressive Züge trägt. Diese Diagnose vermeidet der Text natürlich; die Interpretation liegt beim Leser. Mit Verlauf des Buches scheinen seine zunächst nur imaginierten physischen Angriffe gegen seine Frau in der Realität stattzufinden; ganz sicher ist das nicht. Zumeist erfolgt rasch eine Art Versöhnung, meist über einvernehmlichen Sex. Gegen Ende scheint er sogar eine Vergewaltigung zu beginnen, stoppt dann jedoch noch. Der Roman quillt über von Beobachtungen und Anschauungen, die ungefiltert und ohne aufeinander Bezug zu nehmen wiedergegeben werden. »Schnappschüsse des Augenblicks«, nannte Brinkmann in einem anderen Zusammenhang dieses Verfahren. Die Gefühlswelt des Studenten ist starken Schwankungen unterworfen. Mal ist es Hass, mal Geilheit, mal Müdigkeit, mal Verzweiflung über seine Unmöglichkeit, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Man bekommt den Eindruck einer tickenden Zeitbombe. Immer stärker dreht es sich um seine sexuelle Befriedigung, die auf unterschiedliche Weise (als Spanner, mit Prostituierten oder als Masturbation mit oder ohne Zuschauer) exerziert und drastisch geschildert wird. Das Ende gerät dagegen fast ein bisschen spießig: »Abends sah dann schon wieder alles ganz anders aus. Am nächsten Tag auch. Und so ging das gut. Immer weiter…« Schließlich scheint der nahende Sommer das Gemüt zu beruhigen. Die zahlreichen pornographischen Stellen provozierten Reaktionen, die den Roman in die Schlagzeilen brachte. Man musste schließlich beim Kauf eine Erklärung unterschreiben, dass man volljährig ist und den Roman nur zum privaten Gebrauch verwendet. Der Coup gelingt nur teilweise; im ersten Jahr wurden trotz Erwähnung in der Spiegel-Bestseller Liste nur 18.898 Exemplare verkauft. Bis heute sind es 50.000.
Amerika-Anthologien Sein bester Freund Rygulla war zeitweise nach London gezogen, nicht zuletzt, um seine Homosexualität ausleben zu können. Brinkmann besuchte ihn mehrmals dort, erlebte hier eine Freiheit, die er aus Deutschland nicht kannte, machte Bekanntschaft mit Undergroundliteratur, amerikanischer Lyrik und den Autoren der Beat-Generation, ihrer Cut-up-Technik. Die beiden schmiedeten Pläne. 1969 erscheinen in kurzer Folge zwei heute längst kultig verehrte Textsammlungen, die Brinkmann mit herausgibt. Zum einen zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla ACID im März-Verlag von Jörg Schröder. »Neue amerikanische Szene« lautete der Untertitel. ACID bestand aus Gedichten, Prosa, Essays, Interviews, Textmontagen, Comics, Bildern, Collagen und Fotos. Kurz darauf erschien die Anthologie Silver Screen (Untertitel: »Neue amerikanische Lyrik«) bei seinem Hausverlag Kiepenheuer & Witsch. Brinkmann wirkte hier (mit anderen) als Arrangeur, Übersetzer und Herausgeber US-amerikanischer Lyrik. Seine Vorbilder waren jetzt William S. Burroughs und Frank O'Hara. Die Entdeckerlust kannte keine Grenzen. Die Biografie dokumentiert ausführlich die Schwierigkeiten der Produktionen, die Verwerfungen und Verlagswechsel. Aber sie zeigt auch Brinkmanns Begeisterungsfähigkeit.
Exkurs: Brinkmanns Zorn Eine längere Sequenz bildet eine Reise nach Vechta. Frauen in weißen Kniestrümpfen mit und ohne Kinderwagen auf der Straße. Ein Zeitdokument. Die milde, städtische Welt wird rasch konterkariert, die Bildfolge ist atemberaubend schnell. Ausgiebig und aus allen Perspektiven bekommt man das Gefängnis gezeigt, auch Brinkmanns Gymnasium flasht auf. Schmutzige Stellen am Rande des Waldes. Torfabbau. Ölförderung. Tristesse, aber keine Zeit zur Ruhe. Immer wieder geht der Blick nach oben, in den Himmel: Militärflugzeuge scheinen dort auf, Hubschrauber (entsprechend untermalt im Ton). Brinkmann stört sich nicht daran, dass ein Faden auf der Kamera liegt – es ist ein Augenblick, dann noch ein Augenblick, dann noch einer und immer so weiter. Wackelkamera. Ein paar Jahre später wird Brinkmann in dem großartigen Hörspiel Besuch in einer sterbenden Stadt die Eindrücke von gelegentlichen Besuchen in seine Heimatstadt in eine expressive Erzähl-Collage verdichten.
Der zweite Roman Der Band erscheint erst 1987, ist schwer lesbar, vor allem weil Brinkmann die Unart besaß, Leerzeichen nach Kommata und Punkten auszulassen[1]. Das verstärkt noch den Eindruck des ungeordneten Erzählstroms, strengt aber ungemein an. Man spürt den Anspruch, mit den amerikanischen Vorbildern mithalten zu können. Er will einen besonderen Roman schaffen, mit sich stellvertretend für die Generation im Mittelpunkt. Aber wie? Andere Schriftsteller schweigen bei Schreibhemmungen, Brinkmann schreibt immer mehr, ergeht sich im »großen Kino des Bewußtseins«, er streunt durch Straßen und Landschaften, sieht überall Verfall, ergeht sich in repetitiven Vernichtungs- und Pornographiephantasien. Er wollte weg von der »Addition von Wörtern«, »von dem irren totalen Einzelheiten-sehen«, statt dessen »Vorstellungen […] projizieren«, »nicht die Reproduktion abstrakter, bilderloser syntaktischer Muster«. Es ist eine Programmatik, die dem Kino näher ist als der Literatur. »Angelehnt an Jack Kerouac, prägte er die Formel: Der Film in Worten«, so die Biografen. Im November 1971 geht es für ein paar Wochen nach Longkamp in eine einsame Mühle ohne fließendes Wasser und ohne Strom. Brinkmann wollte zur Ruhe kommen, entfloh den auf ihn einprasselnden und nicht mehr auszuhaltenen Bildern der Großstadt. Inzwischen hatte er eine Arno-Schmidt-hafte Idiosynkrasie entwickelt, die bisweilen in Wutschübe mündeten. Der Aufenthalt war auch der Versuch einer Art Entziehungskur von Zigaretten und Drogen. Später kam der Künstler Henning John von Freyend, den er aus den Zeiten der Künstlergruppe EXIT kannte, hinzu. Nach drei Wochen fuhren sie wieder zurück; man ging sich inzwischen auf der Nerven und stellte die Frage nach dem Sinn des Aufenthalts.
Villa Massimo, Rom Es begann damit, dass Bernhard nicht neben Reich-Ranicki sitzen wollte, Hartung beschimpfte und schließlich die Bühne verließ. Dann Brinkmanns Auftritt, der sofort gegen Hartung polterte und beklagte, dass seine Generation ihre Macht missbrauchen würde, in dem man die jungen Autoren nicht genügend berücksichtige. Hartung ließ das nicht gelten, zeihte Brinkmann Ahnungslosigkeit. Der steigerte sich nun in Rage: »Sie wollen mich in dieser Situation zu einer Differenzierung nötigen. […] Es geht nicht um Differenzierung, es geht vielleicht gar nicht um Literatur. Ich müsste ein Maschinengewehr haben und Sie über den Haufen schießen.« Töteberg/Vasa schreiben, der Vorgang sei durch einen Mitschnitt des SFB dokumentiert. Was die Dokumentation nicht vermag, ist die Frage nach der Schreibweise des »Sie« zu beantworten. Ist mit »Sie« Hartung gemeint? Reich-Ranicki bezog es sogar auf sich und wollte es skandalisieren, witterte Undank. Noch in seinem Nachruf auf Brinkmann erinnerte er an die Szene. Oder war es ein allgemeines »sie«, also die Kritiker insgesamt? Oder meinte er das Publikum mit?
»Miese Gemeinschaft« und »Schlamper« 1979, vier Jahre nach seinem Tod, erschien Rom, Blicke, ein Reisetagebuch, gespickt mit Eindrücken, Meckereien und Briefen. Die von ihm evozierten »Sinnbilder« (Selbstbeschreibung) mit ihren »cut-ups«, dieser heftige, fast unkontrollierte Mitteilungsdrang, wirkt etwas domestizierter als die Aufzeichnungen von 1971. An Maleen schreibt er Karten und Briefe epischen Ausmaßes; ein Brief ist länger als 100 Seiten, zwischenzeitlich telefonieren sie. Brinkmann ist notorisch unzufrieden – mit dem Quartier, der Leitung der Villa, den anderen Stipendiaten dort, die er pauschal »Schlamper« nennt aber auch mit der Stadt Rom, den Italienern. Die zeitgenössischen Schriftsteller seien alle »nicht zu ertragen«, »erbärmlich bürgerlich- kitschig und stink-konventionell«. Er attestiert ihnen, dass sie »Schnittmuster-Bogen des Bewußtseins an sich angelegt« hätten. Die wenigen Zusammenkünfte in der Villa Massimo widern ihn an, er sieht »diese miese Gemeinschaft«. Gelegentliche Ausflüge mit den Stipendiaten geraten zu Torturen. Er entdeckte überall »nur noch gesellschaftliches Leer-Gerede, Sätze, die vor Entleerung einen totalen negativen Unterdruck im Raum hervorriefen« und wunderte sich, dass wegen des »negativen Unterdrucks« keine Fenster zersprungen waren. Schon ein »Du« eines Menschen, den er nicht kannte, brachte ihn zum Kochen. »Ich habe Schwierigkeiten, die ganze enorme Häßlichkeit der Gegenwart zu akzeptieren«, schrieb er Maleen, die er neben seinen Eindrücken auch noch überschüttet wird mit seinen sexuellen Vorstellungen und Wünschen, Rückblicken aus der Kindheit und Jugend und Zukunftsängsten (auch um seinen Sohn Robert).
Plädoyer für den Einzelnen Der Einzelne war für Brinkmann der »Künstler, Entdecker, Erfinder, Herausfinder, Beobachter«, jemand der »über dem Durchschnitt« ist. Brinkmann war erregt über Piwitts Eskapismus-Vorwurf gegen ihn (er schrieb es, vermutlich um dessen Altertümlichkeit zu illustrieren, »Escapismus«) und wehrte sich gegen das Vorgehen, »jede Winzigkeit über den Leisten der gesellschaftlichen Nützlichkeit zu schlagen.« Brinkmanns »große Einzelne« waren zu dieser Zeit Wilhelm Reich, David Cooper (beide gegen Freud), Hans Henny Jahnn (mit dem er kurz vor dessen Tod 1959 einen kleinen Briefwechsel begonnen hatte) und Giordano Bruno. Mit Ergriffenheit zitierte er die Legende, Bruno habe die Schmerzen auf dem Scheiterhaufen still ertragen, um den Richtern keinen Triumph zu gönnen. Seine Abrechnung mit dem kollektivistischen Wortgeklingel seiner Zeit ist schlicht großartig. Brinkmann versucht sogar die Onanie als Demonstration des Einzelnen zu interpretieren. Eine Antwort von Piwitt darauf ist nicht im Buch. Brinkmann war mental auf einem Tiefpunkt angelangt, »nichts: keine Freude, kein Genuß«. Wenige Tage vor Weihnachten verließ er Rom und ließ sich in Olevano Romano, ca. 50 km von Rom entfernt, in die Casa Baldi, einer Dependance der Villa Massimo nieder. Olevano ist ein kleines Bergdorf, 571 m hoch, mit 6.160 Einwohnern. Das Leben in der Casa Baldi war spartanisch, er musste Lebensmittel und Brennstoff einkaufen, aber er hatte seine Ruhe. Für kurze Zeit lebten auch der Dichter Ludwig Tieck und der Maler Franz Theobald Horny in dem kleinen Ort. Brinkmanns Beobachtungsmaschine läuft auf halber Kraft; er findet plötzlich Gefallen an Wolkenformationen (»grelle weiße Wolkenbäuche« wechseln mit »brennenden, glühenden Wolkenscheiten« ab) und Lichtverhältnisse: »zuerst und immer anwesend ist eine Stille und mit der Stille das Licht«. Zwar sieht er auch hier hässliche Gebäude und Verfall (»überalteter Ort« in »ranziger Armut«), aber nicht mehr ausschließlich. In Westwärts 1 & 2 kann man im wunderbar sanften Gedicht Canneloni in Olevano, dem ein italienisches Wort von Tieck voran- und ans Ende gestellt ist, Brinkmanns Entspannung erleben: »Weit weg düsterte Westdeutschland dahin, der / Albtraum, zusammengefallen, rauchende Industrie« und er konstatiert: »zog man die Industrie / ab, was blieb dann davon?« Die heißen Canneloni machten es, »sich gut zu fühlen«. Das Kapitel um Villa Massimo und Casa Baldi ist das gelungenste in der Biografie, weil die Verschmelzung der Ereignisse mit den Zitaten aus dem Reisetagebuch kongenial gelingt. Am Ende schien, so Töteberg und Vasa, Brinkmann fast mit Italien versöhnt zu sein. Rom, Blicke lässt das nicht unbedingt erkennen. Er lernte gegen Ende Róbert Wittinger kennen, einen Komponisten, mit dem er sich wie auch mit dem Zeichner und Fotograf Günther Knipp anfreundete. Weniger verträglich endete das Stipendium. Die Verlängerung wurde ihm nicht gewährt und er hatte 6.000 Mark Telefonschulden.
»Das alltägliche Leben in der Gegenwart« Brinkmann traf sich auch privat mit den Studenten. Mit Hartmut Schnell, »einem fast gleichaltrigen Studenten im zehnten Semester«, freundete er sich an. Man machte Ausflüge. Brinkmann reflektierte seine Zeit in den letzten Jahren, fasste neuen Mut. Maleen hatte das Studium an den Pädagogischen Hochschule wieder aufgenommen und auch Brinkmann erwog dies und schickte seinem Professor in Köln Vorschläge für neue Unterrichtsformen an Schulen. Im Mai ging es wieder zurück in die Enge Kölns. Die wirtschaftliche Lage hatte sich nicht verändert. Das Telefon war auch zu Hause abgestellt, der Gerichtsvollzieher ging ein und aus, es drohte die Abschaltung des Stroms. Aber er hatte wieder Lust aufs Schreiben, schwor dem Roman ab, überarbeitete zurückgelegte Gedichte und auch neue entstanden. Zusätzlich verfasste er ein Art Essay, eine Gegenwartsbeschreibung seines Denkens, Fühlens und Schreibens, die immer umfangreicher wurde. Wieder gab es Ärger; Brinkmann reizte jede Frist für die Zusendung des Manuskripts aus. Westwärts 1 & 2 sollte der Band heißen. Den Klappen- bzw. Pressetext diktierte er dem Verlag per Telefon. »Ihre Themen sind das alltägliche Leben in der Gegenwart, Sexualität, die Umgebung, die Unruhe, die Sprache und das Sprechen, das Hin und Her zwischen den verschiedenen Orten, Menschen und Bewußtseinszuständen.« Er selber kategorisiert seine Lyrik als »oft lange ausschweifende und abschweifende, rauschhafte Texte«, die »zu einem intensiven Erlebniswirbel« würden. Schließlich musste er Kompromisse machen, einige Gedichte wurde gestrichen und der Essay schaffte es auch nicht ins Buch. Dennoch war er zufrieden und freute sich auf die Einladung zum »Cambridge Poetry Festival«. Die weiterhin großen finanziellen Schwierigkeiten sowie die mögliche Trennung von Maleen konnte er ausblenden; die ersten Vorabexemplare von Westwärts 1 & 2 waren da. Er nahm eines mit. Und dann kam die Katastrophe. Bemerkenswert, dass Brinkmann in Keiner weiß mehr einen Unfall beschrieben hatte, der dem seines Todes verblüffend ähnelte, freilich für eine andere Person: »Sie rennt über eine Straße, die Kreuzung dort bei den Hochhaus, Wagen kommen schnell, und dicht hintereinander aufgefahren heran, ein Wagen schleudert sie weg, gegen einen anderen Wagen. Alles geschieht sehr schnell und ist nur ein einziges zusammengeschobenes Geräusch…« In den Erkundungen wird der »Tötungsinstinkt eines Autofahrers« beschrieben. Diesmal ist er das Opfer: »als ich die Straße überquere, und er direkt auf mich zurast und sogar einen kleinen Schwenker macht, neben ihm saß so eine Fotze, und er fuhr wie ein Irrer tatsächlich irre«. Auch in seinen Materialien kommen immer wieder Autounfälle vor, als hätte er eine Ahnung gehabt.
Zettelkasten In Frank Schäfers Zettelkasten entdeckt man naturgemäß Überschneidungen mit der Biografie. Dennoch könnten beide Bücher nicht unterschiedlicher sein. Schäfer hat Thesen zu Person und Werk und liefert Interpretationen. Überprüfen kann man seine Zitate leider nicht; es gibt keine Fuß- oder Endnoten. Er kommt am Ende zu der Konklusion, dass »die wahre Tragik« dieses Schriftstellers darin liege, dass sein Werk »seine posthume Auratisierung zur Kultfigur gar nicht nötig gehabt« habe. Auf den 160 Seiten unternimmt Schäfer tatsächlich alles, um diese Auratisierung – falls es sie überhaupt gegeben hat - einzureißen und das sich angeblich selbst feiernde »Genie« auf den Boden zu holen. So wird beispielsweise über Brinkmanns »stinkenden Achselschweiß« berichtet, den nicht einmal seine Mutter »ab« konnte. Schäfer hat in Erfahrung gebracht, dass Brinkmann während seiner Ausbildung Bücher gestohlen hatte. Beides findet sich in der Biografie nicht. Schäfer berichtet zwar, dass das 1940 geborene Kind bei den alliierten Luftangriffen auf Vechta, seiner Geburtsstadt, von »zerspringenden Einweckgläsern auf dem Kellerregal« die Erfahrung von »Zerstörung, Verheerung, Angst« breit gemacht hatte. Aber es stört ihn, er wittert, dass sich Brinkmann als Opfer des Krieges sehe, was dieser aber, so Schäfer dekretierend, gar nicht dürfe. Ein weiterer Beleg wird in Brinkmanns Identifikation für Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür gebastelt, denn Borcherts Stück sei eine »larmoyante Klage über die Zeit« und mystifizierte den Wehrmachtssoldaten. Der Gymnasiast Brinkmann auf der falschen Spur. Immerhin geht Schäfer nicht so weit wie der SS-Mann und spätere Kritiker Holthusen, der in Borcherts Stück »sauren Kitsch« konstatierte. Zusammen mit einigen später gemachten Äußerungen Brinkmanns wird dieser politisch fast als Revisionist charakterisiert. Zum Beispiel als er in einem Brief an Maleen in Rom, Blicke, feststellte, es herrsche bei den Deutschen »die dumpfe Atmosphäre einer Kollektivschuld«. Mit weiteren Recherchen hätte Schäfer vielleicht noch die Stelle in den Erkundungen gefunden, in der er sich ähnlich äußert, von »Ritualen eines eingeübten Schuldbewußtseins« schreibt und für sich feststellt: »ich habe keine Schuld.« »Es wird einem mulmig bei diesem Opferlamento«, so Schäfer, »bei dem das Leid der anderen nur als Ursache für die gesellschaftliche Zwangsjacke der Nachkriegszeit in die Wertung kommt.« Schäfer erkennt in der Ablehnung von persönlicher Schuld das gängige deutsche Opfernarrativ und macht dies zur Ursache für Brinkmanns Jähzorn, seine Zornes- und Wutausbrüche, seine Gewalttätigkeit. Brinkmann kompensierte, so die These, diesen Hass mit einem Geniekult. Bei näherer Betrachtung seines Werkes ist dieser Einwurf mindestens zweispältig. Und wenn Brinkmann seine persönliche Schuld an Nazismus und Krieg negiert, so ist dies nicht zwingend falsch. Brinkmann indirekt (neu-)rechtes Gedankengut zu unterstellen, ist absurd. Die Hypothesen hindern Schäfer nicht, sich zuweilen dem Duktus Brinkmanns anzunähern. Dabei ist es durchaus erfrischend, wenn einige der ganz frühen Gedichte und Prosa-Dinge verworfen werden. Wie etwa die »Robbe-Grilletsche Technik des Beinahe-Stilllebens« in Raupenbahn. Und damit der Leser einen Eindruck bekommt, wird noch der Lektüre-Eindruck des Autors Schäfer vom Nachsommer von Adalbert Stifter angeführt, von dem er »nie mehr als 50 Seiten« geschafft habe. Nur: Wen soll das interessieren? Die realen wie vermeintlichen Beeinflussungen Brinkmanns werden feuilletongemäss abgehakt: Zunächst Existentialismus, dann Nouveau Roman, später Pop-Literatur-Pionier. Dass Schäfer eine Definition des Pop-Literatur-Begriffs verweigert, ist ihm nicht anzulasten – schließlich erleichtert es die Deutungen, wenn alles im Ungefähren, Oberflächlichen bleibt. Und dann kommen schließlich »literarische Zeitströmung[en]« die man, wie Schäfer weiß, heute »Neue Subjektivität«, »Neue Empfindsamkeit« oder »Neue Innerlichkeit« nennt. Das klingt gut, hat aber mit dem literarischen Oeuvre von Brinkmann nichts zu tun. Der begab sich nach einer Phase großer Schaffenskraft ins öffentliche Schweigen, bevor er sich schließlich in einem schmerzhaften Prozess der Lyrik zuwandte. Es wäre interessanter gewesen, über diese komplexitätsreduzierende Emblematik hinweg diese Entwicklung herauszuarbeiten. Die Materialien hierzu liegen ja jetzt auf dem Tisch. Sicher, da wird immer der »Beschreibungsgenerator« Brinkmann thematisiert, etwas, was sich durch sein ganzes Werk zieht. Aber worin liegt der Zweck dieser »Beschreibungspotenz«, wie Schäfer das einmal nennt? Und wie verträgt sich das mit der »Django-Attitüde« des Schriftstellers? Am Ende kommt er dann drauf, spricht von den »profane Epiphanien« »aufgehoben« in Gedichten, die, wie es mir scheint, manchmal Beschwörungen nahekommen und dies, wie Schäfer konstatiert, »inmitten zivilisatorischen Zerfalls«, den Brinkmann immer wieder wütend feststellte. Zwei Kapitel in diesem Zettelkasten sind sehr instruktiv. Zum einen der Abdruck einer Rezension, oder besser: Buchkritik von Helmut Salzinger aus dem Jahr 1970 zu Brinkmanns Silver Screen. Der Text weckt Interesse an dem leider nur antiquarisch lieferbaren Buch. (Der Leser fragt sich nur, warum Brinkmann in Rom, Blicke knapp drei Jahre später schrieb, »die USA-Dinger« hätte er »gar nicht machen« dürfen.) Und zum anderen die Ausführungen zu Fritz Mauthner, den Sprachphilosophen und -skeptiker, den Brinkmann zunehmend als Referenz entwickelte. Demnach wäre sein Schreiben ein Paradoxon: »Sprache zu überwinden mit der Sprache«. Hier punktet Schäfer und wie wichtig Mauthner für Brinkmann ist, kann man bei ihm selber nachlesen. Leider zitiert er dann Zeitzeugen, die über Brinkmann urteilen. Den Bruch mit Piwitt rekapituliert Schäfer aus Rom, Blicke und nennt Brinkmanns Replik »pedandisch-psychologisierend«. Nach den Recherchen der Biografen Töteberg und Vasa in Piwitts Vorlass weiß man, dass der reale Auslöser dieser kleinen »Beleidigungssuada« (Schäfer) vermutlich eine saloppe Formulierung Piwitts an Brinkmann war: »Ich finde, es wird Zeit, daß wir unseren Briefwechsel versilbern«. Brinkmann war höchst irritiert. Das klang doch arg nach Nützlichkeitsdenken, etwas, was ihm zutiefst verhasst war. Diese Passage sowie die Antwort Brinkmanns darauf wurde in Rom, Blicke getilgt. Das »versilbern« wird allerdings von Brinkmann auf Seite 333 noch einmal erwähnt. Wolf Wondratschek kann in seinem Statement nicht widerstehen, für sich selber Publicity zu machen. In den Erkundungen kann man nachlesen, dass Brinkmann abgestoßen und fasziniert zugleich von ihm war. Bisweilen ist nicht klar, ob die Urteile über Brinkmann aus Nachrufen erfolgen (wie bei Nicolas Born) oder aus anderen Zeiten (wie bei Jörg Schröder). Wohltuend die Schilderungen von Hartmut Schnell, den Brinkmann in Austin kennenlernte. Hier erfährt man von Brinkmanns Liebe zu den alten texanischen Eichen. Man bekommt den Eindruck, dass Hartmut Schnell einer der wenigen war, die Brinkmann nicht als Profilierung für ihre eigenen Aktivitäten sahen.
Weg von diesen »Scheiß-Personen«: Es wäre leichtfertig, diesen Text, den Brinkmann Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten überschreibt, zu überschlagen, stellt er doch ein Extrakt all der (zur damaligen Zeit) unveröffentlichten Notiz-, Collagen- und Materialbände dar. Hier bündelt Brinkmann nicht mehr und nicht weniger als seine poetische Programmatik. Es ist eine Quintessenz der Jahre öffentlichen Schweigens und unentwegten Beobachtens und Notierens. Dieses Nachwort ist zugleich eine wilde Emanzipation von Brinkmanns Göttern und Geschichten der Vergangenheit. Hinzu kommt eine unbarmherzige Negation aller geisteswissenschaftlichen Analysen, seien sie literarisch oder soziologisch, psychologisch oder politisch grundiert, die unter dem Schmähbegriff »Viehlologie« subsummiert werden. Dagegen setzt er simple (simple?) Beobachtungen, wie etwa: »Hat wer den schwarz verkohlten Ginster am Bahndamm gesehen?« Er bricht er sogar mit dem einst so verehrten Gottfried Benn, den er karikiert als jemand, der in »Gamaschen mit einer Dienstaktentasche über die Eisfelder geflüchtet« sei, attestiert ihm eine »schluchzende Dunkelheit alter Männer, die auf einer Parkbank sitzen, an einem künstlichen Teich mit Trauerweiden…« Er verhöhnt lustvoll Literaturkritiker (er habe einmal jemanden »miese Nödeltrine« genannt), wünscht sich die Zerstörung des Theaters mit ihren »alten vergammelten Mythen von Liebe von Tod«, schimpft über Seminare des Universitäts- und Wissenschaftsbetriebs, die »vollgestopft mit sinnlosem Gerede« daherkommen und seit dreißig Jahren »im Irrenhaus der Tautologien« rotierten. Massenmedien, die die Sprache bestimmen, sind »installierte Kontrollmaschinen«. In den Tonbandaufzeichnungen, die Harald Bergmann in Brinkmanns Zorn collagierte, fällt der Satz, Massenmedien legten ihre Larven in den Körpern der Menschen ab. Er hasst den Kapitalismus mit seinem Konsum, der ein mehr oder weniger schnöder »Ersatz für Lebendigkeit« sei. Alles diene einer Gesellschaft, einem Kollektiv, der »Ziviehlisation« – für Brinkmann, dem Verfechter des rückhaltlosen, geradezu libertär anmutenden Individualismus, ein »Terror des Allgemeingefühls«. In den Gedichten finden sich zahlreiche, fast schon obsessive Negativa zur sozialen und politischen Lage »Westdeutschlands« in den 1970ern. Da ist zum Beispiel von einer »Krebsgesellschaft« die Rede. Und die »gegenwärtigen Gemeinschaftsformen / verderben mir jedesmal den Geschmack«, denn »der Gruppenhaß (Gruppendynamik) gilt jeder einzelnen Person, die / abweicht.« Auch von Europa hält er nicht viel: »Europa ist ein Gerümpel und die Mythen sind schlampige // Nutten, die durchs Bewußtsein lungern…« Immer wieder spricht Brinkmann von »Krieg«, dem Krieg der Geschlechter, aber auch der Krieg, der sich nahtlos nach 1945 fortgesetzt habe und sich im Zwang zur Verwertbarkeit zeige.
Die Verneinung der Sprache Hierzu passt Klaus Theweleits Hypothese im Film Schnitte Collagen innerhalb des Projektes Brinkmanns Zorn. Theweleit glaubt, Brinkmann habe (wie auch er) erkannt, dass die Sprache als Dominanzmedium ausgedient habe. »Der Impuls, mit Sprache aufzeichnen zu wollen, was alles los ist […] hat die Lyrik der Avantgarde, etwa von Pound bis Benn und die Prosa von Joyce bis Schmidt [gemeint ist Arno Schmidt], ausgereizt.«. Theweleit schließt daraus: »Hätte er [Brinkmann] angefangen, Filme zu machen, wäre das vielleicht eine Rettung gewesen.« Die Materialgemische aus Text, Foto und Collage, diese »Scrapbooks« (Helmut Pieper), müsste man sich demnach als Übergänge zum Medium Film hin vorstellen. Indirekt stützt Maleen Brinkmann diese Theorie, in dem sie darauf hinweist, Rolf Dieter hätte Filmprojekte geplant, aber keine Unterstützung gefunden. Er bleibt auf die Sprache angewiesen und wählt dafür das Gedicht, weil er sich hier auf das »Ich« konzentrieren kann. Insbesondere die polyphonen Flächengedichte mit ihren »disparaten typographischen Erscheinungsbildern« (Dieter Liewerscheidt) in Westwärts 1 & 2, in der oft drei oder vier Stimmen parallel erscheinen, zeigen Brinkmanns Versuche, sich an die Grenzen der Sprache zu begeben. Es geht um das Festhalten der (als schäbig empfundenen) Gegenwart, im Wissen darum, dass, je länger Gegenwartsmomente beschrieben werden, die Vergangenheit eingreift und das Konzept der Unmittelbarkeit sinnlicher Erlebnisse gestört oder gar verunmöglicht wird. Schon in der berühmt gewordenen Vorbemerkung in Westwärts 1 & 2 wird diese Situation manifest: »Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock 'n' Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf…« Heraklits »Alles fließt« ist für Brinkmann nicht nur Zustandsbeschreibung, sondern Motivation und Verpflichtung, denn, so heißt es auch im Unkontrollierten Nachwort, »die Tage machen weiter, die Monate, die Jahreszeiten machen weiter…«. Der Dichter gibt diesem Weitermachen eine Form, in Sprache gefasst, gleichzeitig wissend, dass dies problematisch bleibt. Brinkmanns Gedichtsammlung ist ein heterogener Korpus, ein Wirbelstrom, der einem mitreißt aber manchmal auch ausspuckt. Die erwähnten komplizierten Flächengedichte, die vielfache Gleichzeitigkeiten simulieren, stehen neben ruhigen, bei sich bleibenden, fast beschwörend-poetischen Augenblicksbetrachtungen, die zuweilen sogar ins humorige gehen. Würde man die Gedichte mit Gemälden vergleichen, dann gibt es vor allem die monströs-gruseligen Wimmelbilder eines Hieronymus Busch (die Westwärts- und Bruchstücke-Gedichte etwa oder Gedicht 30.10.74, Politisches Gedicht 13. Nov. 74 oder Fragment zu einigen populären Songs). Dann die berückenden Edward-Hopper-ähnlichen Beschwörungen eines Stehenden Jetzt, wie beispielsweise Die Orangensaftmaschine, (Ein anderes Lied, das Canneloni-Gedicht, Oh, friedlicher Mittag, Mondlicht in einem Baugerüst, Fronleichnamsblues). Schließlich diese düsteren Armutsbilder, erinnernd an den frühen van Gogh, wie das Lied von den kalten Bauern auf dem kalten Land… oder Einige sehr populäre Songs, die zuweilen in Endzeitszenarien übergehen. Dazwischen, fast versteckt, ein rührend-zärtliches Vater-/Muttergedicht (Fragment, 3). Mehrmals wird Kindheit und Jugend evoziert, freilich nie verklärend, eher als Mühlstein, der es unmöglich macht, Sinnlichkeit in der Gegenwart frei zu (er)leben. Manche Gedichte scheinen einem Motto verpflichtet, wie dem Schatten, dem Alleinsein oder einem diffusen Panik-Gefühl über alles und jeden. Wie nicht anders zu erwarten gibt es, was Motive und Metaphern angeht, Redundanzen und Wiederholungen.
Sturm und Drang Einst als »Autor seiner Generation« betrachtet, scheiterte eine nachhaltige Kanonisierung, was nicht zuletzt an den bruchstückhaften Publikationsformen seines Werkes gelegen hat. Nein, ein »Pop-Literat« war Brinkmann nie; es half vorübergehend, ein Etikett zu finden. Zumal sich der Begriff gewandelt hat. Gegenwärtige Pop-Literaten stehen der Konsum- und Warenwelt weitgehend affirmativ gegenüber; sie verwenden sie als Indizien für die Charakterisierung ihrer Figuren. Also was kann einem dieser »angry young man« (Liewerscheidt) mit seinen schon damals aus der Zeit gefallenen Gedichten heute noch sagen? Erste Antworten gibt es womöglich in der Betrachtung der Gegenwartsliteratur. Wo gibt es denn eine diese flirrende, wütende, unflätige, von Ekel getriebene, unversöhnliche und zugleich sehnsuchtsgeleitete, rasiermesserscharfe Radikalität, wie sie Brinkmann nicht nur ausdrückte, sondern exzessiv vorlebte? »Meine Wörter« schreibt er einmal: »Ficken, Titten, Fotze, Schwänze, Grün, Mond, Sterne, Tun, Kraft!« Frank Schäfer zitiert Hermann Peter Piwitt von 1979, der ihn damals verächtlich D'Annunzio aus Vechta nannte. Selbst nach dem Tod warf man noch mit Dreck. Geschah es aus Unverständnis oder aus Gehässigkeit? Sicherlich, Brinkmann war ein Wort- ein Sinnzerstörer, ein Logoklast und Denkmalstürmer. »Hallo, ich hasse Sie, ich bin der schmierige häßliche Träumer…«, schreibt er einmal. Nichts bändigt ihn in seiner Mischung aus Selbsthass und Größenwahn. Exemplarisch diese seitenlangen apokalyptischen Vernichtungsphantasien von Köln in den Erkundungen, mit »verstümmelten Körpern« auf den Straßen. Irgendwo bekennt Brinkmann, er könne nur sprechen, sobald ihm etwas nicht gefalle: »das Schöne ist für mich sprachlos«. Und zugleich zeigt er immer wieder, wie er für die Sehnsucht lebt, mit Sprache Lebendigkeit zu erzeugen. Eine Szene in Olevano aus Rom, Blicke kommt einem in den Sinn. Er fand dort Muße zur Lektüre, Klassiker bevorzugt, Jean Paul, Karl Philipp Moritz, Fluß ohne Ufer von Jahnn und entwickelte dabei fast spielerisch eine verblüffende Definition des deutschen Caspar-David-Friedrich-Romantikers, den er als jemanden sah, der sich im Zerfall, »im Kaputten, Überalterten« eingerichtet hatte, »schäbige kleine Hütten, ausgefranste Hinterhöfe, abendliche Dämmerung […], eine sterbende Welt, […] eine resignierende Welt, eine abendländische Welt, eine deutsche Welt, eine Todeswelt.« Und das ist auch seine Welt gewesen. Aber der Wunsch war ein anderer: »Ich möchte eine ganz andere Welt!« brüllte er einmal auf Band. Rolf Dieter Brinkmann war 1975 im Übergang eines Sturm-und-Drangliteraten, eines Lenz des 20. Jahrhunderts, auf dem Weg zum Romantiker. Diese Entwicklung blieb ihm verwehrt. Dazu passt dann dieser Nachruf von Peter Handke, den man in Töteberg/Vasas Biografie findet. Handke sah Brinkmann als ein »Ich, das querliegt zur Welt« und schrieb weiter: »Im Vergleich zu allen subjektiven Sachen, die jetzt als Rettung der Literatur auftauchen, ist bei Brinkmann das Ich nicht gerettet. Dieses nicht gerettete, immer noch gefährdete, immer noch bedrohte, bedrängte, erschlagene Ich, das macht für mich in den Gedichten von Brinkmann das Wahre, das Bezeichnete aus. […] Brinkmann weist in die Zukunft, dadurch, dass er zeigt, dass das Ich für immer gefährdet sein wird, und das Ich nicht gerettet sein will in irgendeiner Art von politischem System.«
Was wären das für 80er Jahre mit Rolf Dieter Brinkmann geworden…
Verwendete Materialen:
[1]
1988 erschien mit Schnitte ein weiterer Materialienband
Brinkmanns. Der spielt im weiteren Verlauf dieses Essays keine Rolle.
Eine Übersicht über diesen Band liefert das gleichnamige collagierte
Hörspiel vom BR, das 1995 produziert wurde.
Artikel online seit 10.03.25 |
Michael
Töteberg, Alexandra Vasa |
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