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Vom Sound einer
dystopischen Utopie
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»Was ich will, schrie er, diese Nabelschnur durchreißen. Die drückt mir die Kehle ab. Alles anders machen. Ohne Fabriken, ohne Autos, ohne Zensuren, ohne Stechuhren. Ohne Angst, Ohne Polizei. Er schlug mit der Faust gegen das Regal, aber die Müdigkeit bleib in seiner Stimme. Von vorne anfangen in einer offenen Gegend.« Komm ins Offene Freund! Inmitten der DDR, wo es für den wilden Geist von den Söhnen keine Möglichkeit gab. In diesem Ton schwingt Sturm und Drang, Expressivität und es klingt eine Menge Büchner-Sound heraus. Samt einer Prise politischer Hölderlin. In einem Essay von 1972, der erst 2012 dann in »Sinn und Form« abgedruckt wurde, heißt es: »Aber Büchner war schon der beste der Köpfe. Ich muß das sagen, obwohl es an Versuchen bei mir nicht fehlt, ihn zu übertreffen.« Freilich ist jene Figurenrede in »Vor den Vätern« nicht immer Autorenrede, aber bei einem nahe am Lyrischen schreibenden Autor ist jene Ich-Instanz nie weit weg. Noch inmitten der traurigen Liebe: »Warum bist du nicht eine andere, das Licht hinter den Lidern. Das Fenster ist zu. Wenn ich mir den Schädel aufbrechen könnte. Ich will nichts hören. Das Brennen im Fleisch. Dieses endlose Selbstgespräch. Du und ich. Das Trümmerfeld hinter der Stirn. Sei endlich ruhig, Kein Wort mehr.« Aber das Gefängnis ist hier nicht das von Büchners »Danton«. Es ist ein ganzes Land und das wächst sich bis ins Innere aus. Ein Stirnwandgefängnis, eine Mauer. Jene Väter, die es, wie der von Brasch, in einem sozialistischen Staat 1949 besser machen wollten und am Ende den Antifaschismus als Erpressungsmodel benutzten, um die Repression und den politischen Gruppenzwang durchzusetzen und damit noch die Seelen zu demolieren. Daran ging einer wie Brasch feste und womöglich auch viel zu früh zugrunde. Nun naht Thomas Braschs 80er Geburtstag. »Jubiläen«, sagen manche verächtlich, »der alte Feuilleton-Ton!« Nein, falsch. Vielmehr ist es so: solche Daten geben Anlass zu prüfen. War er einer jener Dichter, die ihre Zeit hatten? Alte DDR, West-Berlin zu Mauerzeit und kurz danach, Wendeberlin, Capital B. Oder hält solche Prosa bis heute, über die politische Konstellation hinweg? Das können wir prüfen, denn nun ist, nach Braschs gesammelten Gedichten »Die nennen das Schrei« (2015) auch die gesammelte Prosa erschienen, und zwar mit dem für Brasch biographisch wie auch ästhetisch sehr zutreffenden Titel: »Du mußt gegen den Wind laufen«. Es sind Geschichten aus der Produktion, ganz wie bei Heiner Müller, zuweilen mit der geschichtsphilosophischen Aufladung eines Theatrum Mundi, es treten Ödipus und Sophokles auf, im Blick auf die trojanische Schwarzseherin heißt eine der Prosaminiaturen im Titel »Halts Maul, Kassandra«. Aber immer wieder sind es vor allem die normalen Arbeiter und Angestellten der DDR, die in surreale Situation versetzt werden. Es ist eine Art Bitterfelder Weg, den Brasch beschreitet – aber einer, der nicht die Lage verklärt, sondern der sagt, was ist, was der Fall ist. Die Tatsache DDR, manchmal im brutalen Märchenton erzählt, manchmal ist es eine Art magischer Realismus. Durchaus mit dem Wunsch, dass auch der Arbeiter schriebe. »Kunst schult den Blick nicht, solange ihre Konsumenten nicht Produzenten im weitesten Sinn werden. Sie lenkt ihn ab«, so formuliert es Brasch 1969 in seinem Tagebuch (S. 585). Kumpel, greif zur Feder! Brasch macht das, aber als Intellektueller; und er war sich dieses Widerspruchs bewusst. Es ist dieser harte DDR-Sound, der bei Brasch betört und wo ein Titel bereits zum geflügelten Wort wurde: »Vor den Vätern sterben die Söhne«, gleich der erste Prosatext dieses Bandes. Neue Wege der Beobachtung des sozialistischen Alltags. Eine Welt, abgezirkelt und doch den 1970er Jahren der BRD nicht fremd. Zu allen Texten gibt es im Anhang kurze Hintergrundinformation: wann sie geschrieben wurden, ob sie schon einmal veröffentlicht wurden und zuweilen auch ein paar zeitgeschichtliche Hintergründe, die man sich freilich bei manchem Stück ausführlicher gewünscht hätte. Viele der Texte stammen aus der DDR, aber es sind ebenso solche aus dem Westen vorhanden, in den Brasch 1976 übersiedelte. Er verbrachte als Beobachter seines Alltags, wenn man die Kindheit einmal abzieht, am Ende mehr Zeit im Westen als im Osten. Die DDR freilich hatte er, auch in Westberlin, nie verlassen. Die Mauer war immer fußläufig erreichbar. In der Art wie Karl Kraus es in »Die Welt der Plakate« aufschrieb, »den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit«, finden wir diesen Blick aufs Alltägliche auch bei Brasch. Seine Texte, halb Prosa, halb Essay manchmal, sind in solchen Beobachtungen zuweilen auch eine Poetik: »Mich interessiert der Alltag der Epoche, die Epoche des Alltags. Mich interessiert, was mir/uns zustößt. Der Unfall.« (S. 194). Alltagsprosa der DDR, poetisch wie auch politisch aufgeladene Ethnologie. Im Arbeitsalltag lauert immer schon der Protest. »Die Reklametexte werden als filosopfische Aphorismen unserer Zeit herausgegeben werden. Das wirkliche Zeitbewußtsein ist in den ungewollt ausgesprochenen, abgeschriebenen Texten enthalten.« (S. 193) Unter der Schicht liegt noch einmal eine neue und andere Schicht: unsere Existenz, wie wir leben, wie wir leben wollen und wie wir leben müssen. Sie, diese Bürger der DDR. Wobei sich Brasch selber niemals als Ethnologie verstand, das wäre, gerade im Blick auf die DDR, seiner Heimat, für Brasch eine Herabwürdigung gewesen. Er wollte immer ein Dichter sein. Kein DDR-Schriftsteller. Und das ist er, ein großartiger sogar – auch wenn ich, wie sich im Laufe der Rezension zeigen wird, nicht ganz zufrieden mit diesem neuen Buch bin. Die DDR ist zwar Braschs Erfahrungsraum, doch will er sich nicht auf sie reduziert wissen. In dem Interviewband »Ich merke mich nur im Chaos« sagt es Brasch deutlich: »Ich glaube nicht, daß jemand auf die Idee käme, Beckett zu fragen, was das spezifisch Irische am ‚Godot‘ sei.« Und auch: »Das Problem eines Schriftstellers ist nicht das Land, in dem er lebt, sondern das Problem, das er hat. Vielleicht unterscheidet mich das von Biermann.« Teils trifft es zu. Doch den DDR-Hintergrund, das Arbeitskollektiv und diese spezifische Art von Arbeit, Repression und Gemeinschaft hat es in der BRD in dieser Form nicht gegeben. Brasch greift diese Welt auf und transformiert sie zugleich ins Poetische, ins Hyperrealistische. Manchmal in eine surreale Szenerie gebracht, wenn da in einer Erzählung der Tod in der Wohnstube bei einem 37-Jährigen Verkäufer zu Gast ist, der gerade von seiner Arbeit nach Hause kommt. So in »Der fremde Herr« (1970). Manche dieser Prosaminiaturen tragen Züge einer Kafka-Skizze: absurde Szenarien, wenn ein Handelsvertreter über die 15 Jahre seiner Dienstreise Rechenschaft ablegt: Marktforschung, Warenkunde, die Produkte, die jene ominöse Firma anbietet. »Wir alle konnten nicht genau sagen, wo sich die Firma, auf die wir uns ständig beriefen, tatsächlich befindet oder womit sie handelt.« Kafka ist einer von Braschs Ahnen. Doch während dessen Existenzialprosa auf ein Allgemeines ausgreift, das überall und an jedem Ort spielen kann, das Ominöse wird zum Numinosen, unheimliches Über-Ich und seltsame Macht, kaprizieren sich Braschs Erzählungen auf jene unbegreifliche und doch ganz irdische Macht, sozialistischer Vater Staat als strafendes Über-Ich – zumindest lässt sich die Vielzahl seiner Allusionen so lesen. Nicht jede der Prosaminiaturen halte ich für gelungen. Manches wirkt wie aus der Schreibwerkstatt (und ist es auch) oder trägt den Charakter einer Skizze. Manche Verspieltheit oder Absurdität, so wie der Dialog zwischen Sophokles und dem Kasperle in »Erfolg haben ist Pflicht«, wirkt heute bemüht und ich habe solches zu oft schon in postmoderner Manier gelesen. Eine Prosaminiatur wie »Neun Punkt Drei Punkt Acht Punkt. Wenn man die Geschichten anderer Menschen schreibt – Ein Robotermärchen« mag in einer Zeit, als KI noch kein Thema für die Literatur war und Digitalität samt Literatur noch in den Anfängen steckten, vom Sujet her avanciert sein. Aber die Durchführung überzeugt nicht: zu konstruiert, zu sehr auf Tagesaktualität geschrieben und zu viel hineingepresste These: das, was zu zeigen wäre, die Idee, die zu versinnlichen wäre, wurde nicht adäquat erzählt. Man liestʼs und zuckt die Schultern: so what? Das spricht keineswegs gegen Braschs Prosa im ganzen, es zeigt aber doch dessen Grenzen. Auch in der Rubrik »Verstreut veröffentlichte essayistische Prosa« finden sich viele Texte, die eher aus philologischen, kulturgeschichtlichen oder biographischen Gründen interessant sind – so etwa Braschs öffentlicher Brief an die Bundesregierung, den er zusammen mit Günter Grass, Sarah Kirsch und Peter Schneider gegen den NATO-Doppelbeschluss schrieb. Gleiches gilt für die von Fritz J. Raddatz 1979 in einem umfassenden Dossier der ZEIT angestoßene Debatte zur Literatur, Auschwitz, Nationalsozialismus und zum Beginn der deutschen Nachkriegsliteratur. Der Anhang gibt zwar Aufschluss über den Kontext von Braschs Debattenbeitrag mit dem gelungenen Titel »Neben Mord strahlen Reime«, aber ohne Raddatzʼ Ausgangsessay und ohne Marcel Reich-Ranickis scharfen Widerspruch bleibt Braschs Text konturlos. Braschs politische Statements, etwa seine Polemik zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses 1989, sind der Zeit geschuldet und leider trivial. Viele dieser Texte mögen aus der unmittelbaren Situation heraus nachvollziehbar sein. 35 Jahre später überblättere ich sie, weil es niemanden mehr interessiert. Auch der zweite Text in dieser Gruppe dort, Braschs Jahresarbeit aus dem Jahr 1968 an der Filmhochschule Potsdam zum Verhältnis von Marxʼ Entfremdungsdialektik und Brechts Filmtheorie, scheint zunächst eher aus historischen und werktechnischen Gründen von Interesse. Allerdings zeigt dieser Text die hohe intellektuelle Begabung eines 23-Jährigen Mannes und gibt Einblicke auch in Braschs Ästhetik. Aber am Ende sind solche Texte eher etwas für Fans und solche Leser, die sich noch einmal den Zeithorizont jener Jahre vergegenwärtigen wollen. Aber es gibt eben auch jene starken Textstücke, bei denen man gar nicht mehr den genauen Kontext kennen muss – etwa die Würdigung des Filmregisseurs Konrad Wolf zu dessen Tod am 7. März 1982, darin Brasch eine Szene aus dem Antikriegsfilm »Ich war neunzehn« herausgreift: die Sowjetsoldaten in einem Schloss, wenige Kilometer vor Berlin, kurz vorm Ende des Krieges. »Das Licht des beginnenden Sommers«, das Harmoniumspiel eines der Sowjetsoldaten, die sich dazugesellenden, besiegten Deutschen, die hilflos und unsicher daneben stehen, samt dem Feuerwehrorchester, das für die Russen ausgerechnet einen Marsch spielt. Mit dem können die Russen nichts anfangen, weil sie dazu nicht tanzen können und aus dem Schloss heraus übertönt der Gesang der Russen plötzlich die deutsche Musik, »ein Lied aus Schwermut und Pathos, vielstimmig und leise läßt das Feuerwehr-Orchester abbrechen.« Und inmitten dieser Szene bei den Russen jener junge deutsche Jude, der vor den Nazis floh, in die Sowjetunion emigrierte und als Offizier der Roten Armee nach Deutschland zurückkam. Und so steht er da in dieser mit unterschiedlicher Musik aufgeladenen Brandenburger Landschaft zwischen seinen beiden Kulturen. Konrad Wolfs Verhältnis zum Staat DDR, die Kritik der Oppositionellen an Wolf, die ihn für einen jener Mitläufer hielten, Braschs dialektische Würdigung: »Sie verstanden dabei nicht, daß seine Haltung weder mit Anpassung noch mit Kalkül zu tun hatte, sondern mit der Sehnsucht und der Trauer eines Fremden, für den das Wort Kommunismus mit seiner Jugend, mit dem Krieg, mit dem Tod, mit der russischen Musik und mit dem Haß auf die Besatzergesellschaft zu tun hatte, aus deren Schoß die Konzentrationslager geboren waren.« (S. 316) Eine ganz und gar großartige Miniatur, darin die Verhältnisse aufscheinen, warum die DDR einerseits Land der Sehnsucht und doch auch Haß- und Kritikobjekt war: das Trauma des Krieges, Kommunismus, Exil, der neu aufzubauende Sozialismus samt seiner Beamtenmentalität, die sich im Feuerwehrorchester manifestiert. Linke Kritiker wie Thomas Brasch waren darin nicht willkommen. Spannend wird es ebenfalls in den Texten, wo wir als Leser etwas über das Leben in der DDR erfahren, die Scheinheiligkeit und das Auseinanderklaffen von Utopie und Wirklichkeit: »Leute, die diese Träume nie für realistisch hielten, sie im äußersten Fall auswendig lernten, um ihren Facharbeiterbrief oder ihr Abitur zu bekommen« (S. 289), so Brasch in seiner Rezension zu Maxie Wanders »Guten Morgen, du Schöne«. Aber ebenfalls jene Frage, wie die angeblich nichtentfremdete Arbeit im Sozialismus eben doch genauso entfremdet und fade ist wie in jenem anderen Deutschland hinter der Mauer. Das ist immer wieder Thema in Braschs Prosa. Auch in der dritten Rubrik »Fiktionale Prosa: Texte, Entwürfe, Skizzen« – von den frühen Texten aus dem Jahr 1961 bis hin zum Jahr 1997 – kann man die unterschiedliche Qualität ausmachen. »Schrei lauter, Engel« (1960/1961) ist eine kleine Erzählung von einem Bahnwärter und seine Frau in Norditalien, die auf einen lebenswichtigen Anruf warten. Zumindest imaginiert der Bahnwärter dies: seine Beförderung und damit die Versetzung nach Brescia stünde bevor, im Schreiben am im Stil des italienischen Neorealismus orientiert. Man sieht hier, auch wenn die Erzählung Mängel aufweist, doch das Talent eines jungen Autors, der dicht am Detail schreibt und Spannungsbögen aufzubauen versteht. Psychologie und dramaturgisch gekonnte Aufsteigerung. Insofern ist es gut, diesen frühen Text aufgenommen zu haben. Zwei Jahre später dann, 1963, bereits eine derartig fein und genau erzählte Geschichte von einem Mann, der bei seiner Arbeit eine junge Frau beobachtet. Sie steht vor einem Gebäude und weint. »Fahne am Haus«, lakonisch erzählt und da ist er bereits in frühen Jahren: dieser geniale Brasch-Sound. »Mittwoch würde Feiertag sein und man hatte ihn un[d] den zweiten damit betraut, die Fahnen an diesem Staatsgebäude anzubringen. Ihn verband mit diesen Fahnen nichts, außer, daß er versuchte, den günstigen Wind abzupassen, um sie einzuschrauben.« Eine von Brasch genau beobachtete und beschriebene Szenerie, in personaler Erzählweise: wie ein Mann hoch vom Dach aus einer Frau zusieht. Es geht, wie so oft bei Brasch, nicht gut aus: »Das letzte, was er spürte, war, daß er die Fahne losließ und einen unwahrscheinlich großen Himmel über sich sah den er vorher nicht bemerkt hatte.« Wie man in wenigen Seiten eine scheinbar bedeutungslose Alltagsszene derart aufladen kann, darin wie in einem Nebensatz auch das Politische mitschwingt, das ist schon eine starke Sache. Ebenso die Erzählung »Das Gesicht«: Geschichten aus der Produktion und dem Privaten. Unglück des Arbeiters, Lebensscheitern schon von Anfang an und so lautet dann auch der erste Satz dieser Erzählung: »Bodnarek war unten angekommen, bevor sein Fall begann, bevor er das Gesicht zum ersten Mal sah. Sein Leben war eine verunglückte Skizze im Vergleich zu dem, das er sich ausgemalt hatte.« (S. 452) Dies ist eine ganz neue Art von Literatur, 1970 geschrieben, Hardboiled Sound of Work, samt Lovestory als traurige Ehe. Doch dreht sich das ganze zunehmend ins Surreale und Phantastische, wird zu einer Doppelgängergeschichte, wohl auch dank anhaltendem Alkoholkonsum des Protagonisten. Doch steht solche Prosa zugleich in der Tradition eines Bitterfelder Weges, wie es auch Erik Neutsch in »Spur der Steine« tat. Beschreiben ja, verklären nein. In kurzer, knapper Skizze. Brasch selbst weiß, wovon er schreibt, wenn er diese Geschichten aus der Arbeitswelt erzählt, die oftmals eine existenzielle Volte nehmen, Subjektivismus und fehlendes Klassenbewusstsein, schließlich wurde Brasch als Bewährungsauflage nach seiner Haft 1968 wegen Parteinahme für den Prager Frühling zur sozialen Besserung und zur Erlangung des richtigen Klassenbewusstseins in die Produktion geschickt: Transformatorenwerk Oberschöneweide, Kabelwerk Oberspree. Daneben dann wieder mäßige Miniaturen wie »Kriminal« – eher Werkstattskizze und Entwurf. Auch sprachlich nicht ausgearbeitet und vom Sujet her unfertig. In dieser »Fiktionale Prosa« finden sich unterschiedliche Textarten: Skizzen, Traumnotizen, ausgereifte und abgerundete Erzählungen, Exposés für Filme. Aber auch hier wieder: manches ist gut, aber bei vielem frage ich mich, ob man es wirklich hätte veröffentlichen müssen. Was man in diesen gesammelten Prosa-Schriften sieht: Brasch ist ein Autor, der seine Kraft ins Fragment versenkte, obwohl er mit immer neuer Intensität Werke schaffen wollte, aber oft blieben es dann Wege, die nicht beschritten wurden. »Vor den Vätern sterben die Söhne« jedoch zeigt, dass Brasch zu ganz anderem fähig ist: Wege nämlich, die zu einem avancierten Werk werden, das weit über das Etikett DDR-Literatur hinausragt. Schade insofern, dass aus seinem über die Jahre verfolgten Großprojekt »Mädchenmörder Brunke« kein fertiger Roman wurde. Jedoch: das Fragmentarische ist bei Brasch eben nicht Selbstzweck, wie er es 1977 in einem Interview der Zeitschrift »Theater heute« sagt: »Ich kann Fragmente nicht herstellen. Schubert konnte sich nicht an den Tisch setzen und sich vornehmen, eine Unvollendete zu schreiben. Fragmente entstehen, weil einer nicht fertig wird mit etwas, obwohl er es will, nicht weil er es will.« Unbedingt hinzuweisen ist auf die wunderbaren Tagebucheintragungen aus den Jahren 1969 und 1970. Da finden sich Überlegungen zur Literatur, wie Literatur und Alltag, Produzenten und Konsumenten in einer sozialistischen Gesellschaft aufeinander wirken bzw. besser gesagt: nicht wirken. Nach 9 1/2 Stunden sozialistischer Maloche ist bei den meisten der Kopf leer. »Wenn hier kein Bedürfnis für Kunst befriedigt oder wenigstens geweckt wird, bleibt die Konsumtion von Kunstprodukten in der ‚Freizeit‘ Onanie und führt von der Milderung des Gegensatzes Arbeit als Lebensmittel weg, statt ihn potentiell zu beseitigen.« Reflexionen auf hohem Niveau und radikal zudem. Aber eben auch die alte Überschätzung von Kunst, wie das so ist, wenn einer 25 und ein Kraftgenie ist. Weiterhin dort Geschichten von Freunden, ein Reigen von Eindrücken, die am ehesten noch ein Bild jener DDR-Jahre nach dem Bau der Mauer liefern. Aber auch Braschs Resignation im Blick auf solche Privatsprache des Tagebuchs, wie er in einem Brief an Rudi Dutschke festhält: »Es ist kein Dokument der Begegnung zwischen Intellektuellen und Proletariern in einem sozialistischen Land, sondern es ist das Dokument der Isolation eines Mannes in einem Land ohne öffentliches Leben […] Diese Isolation ist nur scheinbar ein psychologisches Phänomen, in Wahrheit ist es ein politisches. In der Gesellschaft ohne öffentliches Leben […] ist die Vereinsamung ihrer politisch bewußtesten Glieder eine Hauptwaffe der mächtigen Gruppe.« (S. 851) Das sind Zeichen einer zunehmenden Verzweiflung, in der DDR als Künstler nicht arbeiten zu können. Im Westen, ab 1976 dann, war es die Öffentlichkeit eines abgezirkelten sich selbst bespiegelnden Kunstbetrieb, der in andere Weise jegliche Wirkung aufhob. Mit der Freiheit des Wortes korrespondierte dessen Gleichgültigkeit. An dieser unaufhebbaren Aporie laborierte Brasch bis zu seinem relativ frühen Lebensende mit gerade einmal 56 Jahren. Diese Tagebuchtexte, diese essayistische Prosa allein wären eine separate Veröffentlichung wert. Ich möchte daraus zitieren und zitieren, weil das so gut ist, etwa die Skizze »Die Beschäftigung mit der Kunst«. Ebenso seine Überlegungen in »Brecht« zur politischen Literatur. »Seine Epigonen benutzen sein Riesenbesteck und nehmen sich vor der kleinen Mahlzeit, die vor sie gestellt ist, natürlich lächerlich aus.« Aber auch der Zeithorizont Brechts gerät in die Kritik, der lange nicht mehr der von Braschs Gegenwart ist. »Die Zeit der großen einfachen Wahrheiten ist vorbei, wenn es sie je gegeben hat. Sätze wie ‚denn die Verhältnisse, die sind nicht so‘ etc. sagen nichts mehr. Sie klingen wie ein effektvolles Geklingel.« Platte Dialektik, die kaum noch brauchbar ist, so Brasch. Bis man jedoch zu diesen wunderbaren Texten ganz zum Ende des Bandes kommt, hat vermutlich mancher eifrige Leser schon lange aufgegeben, sich durch den Berg zu graben. Was ist das Fazit aus der Lektüre all dieser Geschichten, der politischen Essays, der Skizzen? Für all jene, die sich mit Braschs Dichtung befassen – sei es als Forscher oder als Fans – ist solche gesammelte Prosa eine Fundgrube. Auch um die unterschiedliche Qualität in den Blick zu bekommen: nicht jeder dieser Texte ist gelungen. Manches freilich, was in der Werkstatt entstand und in der Werkstatt noch liegt, wäre besser in der Werkstatt geblieben. Auch wenn das Weiterlesen eines vermeintlich uninteressanten Textes dann doch manche Überraschung birgt. Dennoch ist dieser Band eher eine Gabe an die kleine Brasch-Gemeinde. Der hochpreisige Buchklotz mit seinen fast neunhundert Seiten wirkt als Mauerstein, der den Zugang zu Braschs Werk eher versperren dürfte. Und das eben ist schade. Hier hätte man sich zum 80. Geburtstag eine gut kuratierten Textauswahl gewünscht. Oder aber als Geburtstagsgruß eine schön gestaltete Ausgabe dieses Meilensteins »Vor den Vätern sterben die Söhne«, die zum Wiederlesen einlädt, dazu dann noch Texte aus dem Umfeld dieser fragmentierten, kaleidoskopartigen Prosa, samt Dokumenten zur Rezeption. 300 Seiten, gebunden, Fadenheftung, rotes Kaptalband. Leinen. Das wäre schön gewesen.Artikel online seit 10.02.25 |
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