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So viele Fragen …
In seinem neuen
Buch
»Die
Illusion der Materie«
beschreibt
Von Wolfgang Bock |
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Guido Tonelli ist ein
wunderbarer Erzähler. Er beginnt seine Geschichte der Materie mit einem Bericht
über den Unfall seines antifaschistischen Großvaters kurz vor Ende des Zweiten
Weltkriegs. So erfahren wir in dem Buch, von dem man erwartet, dass es von
physikalischen Fakten und Ergebnissen handelt, zunächst etwas über seine
Familiengeschichte. Tonelli ist Experimentalphysiker, der an leitender Stelle am
Teilchenbeschleuniger CERN bei Genf an der Entdeckung von neuen subatomaren
Bausteinen der Materie beteiligt war. Er ist aber kein Nerd, sondern ein
gebildeter Italiener. Er kennt sich aus mit der Geschichte und den Mythen seines
Landes und Europas, er ist politisch bewusst, gegen den Faschismus in
Deutschland und in Italien und für eine Aufklärung eingestellt. Außerdem kennt
er sich aus mit den verschiedenen modernen ästhetischen Richtungen von der
Materialmalerei eines Alberto Birri bis hin zur Arte Povera von
Michelangelo Pistoletto. Diese umfassende Bildung kommt seinem Verständnis der
Physik zugute. Sie erlaubt es ihm, deren Erkenntnisse in einen allgemeinen
Kenntnisstand der Welt so einzuordnen, dass dank seiner luziden Darstellung auch
naturwissenschaftlich weniger spezialisierte Leser etwas von der Materie
verstehen können. »Niemand kann ausschließen, dass da, wo sich die gewaltigsten und katastrophalen Phänomene des Kosmos abspielen, andere unantastbare physikalische Prinzipien gelten, die wir noch nicht kennen. […] Kurzum, alles, aber wirklich alles ist nichts anderes als eine Form von Vakuum. Was wir uns als eine feste materielle Grundlage vorgestellt hatten, die sich den schwammigen idealistischen Anschauungen entgegensetzen ließ, erwies sich als ebenso unfasslich und flüchtig wie ein philosophisches Konzept.«
Mit solchen
Bekenntnissen ist auch die Grenze von Tonellis offizieller Perspektive erreicht.
Denn auch philosophische Konzepte sind alles andere als flüchtig und unfasslich.
Innerhalb bestimmter Grenzen besitzen sie durchaus Geltung. So hat Tonelli zwar
recht, wenn er eine abstrakte idealistische Philosophie in einer Linie mit einem
eindimensionalen Materialismus als dessen Reversi sehen will. Im neunten Kapitel
kritisiert er in diesem Sinne die mechanistische Vorstellung, wie sie sich bei
Lenin, dann auch bei dem stalinistischen Physiker Schadow in der Sowjetunion
dogmatisch entwickelt hatte. Zugleich wurde auch dort an den Universitäten eine
moderne Physik betrieben, mit deren Hilfe Atombomben gebaut und Raumschiffe zum
Mond geschickt werden konnten. Jiri Gagarin war ja der erste Mensch im All.
Dennoch kritisiert Tonelli zu Recht das dogmatische materialistische Weltbild
eines östlichen Sozialismus. Zugleich spart er auch nicht mit Kritik an dem
westlichen Positivismus eines Ernst Mach oder Otto Neurath. Er will sich wie
diese nicht anmaßen, die Bedeutung ästhetischer und philosophischer Phänomene
aus Sicht der Physik zu verwerfen und respektiert damit die Grenzen seiner
Profession. Dennoch enthält seine Argumentation doch zwei epistemologische
Schwellen, die auch er nicht überwinden kann. »Früher oder später wird es an einem Teilchenbeschleuniger oder in einem astrophysischen Labor geschehen, dass eine junge Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler in einer Forschungsgruppe Daten auswertet und dabei auf etwas völlig Unerwartetes stößt, dass vielleicht zur Beantwortung einer unserer Fragen führt. Ein solches Ergebnis könnte unsere Sichtweise von der Materie und vom Universum einmal mehr radikal verändern.«
Das ist der
Wissenschaftsaufbau eines Francis Bacon und eines Galileo Galilei auf der
Grundlage von William von Ockham. Ob nur aus einem solchen, auf einen
Nominalismus zurückgehenden Setting notwendig eine radikale Veränderung des
Weltbildes hervorgeht, wird sich allerdings noch erweisen müssen. Hier sind die
Philosophen Karl-Heinz Haag und Günter Mensching anderer Meinung.[2]
In den 1939 Jahren hatte bereits der Franco-russische Wissenschaftshistoriker
Alexandre Koyré in seinen Studien über Galilei Ähnliches festgestellt. Galilei
konnte die angenommenen Prämissen eines messbaren physikalischen Weltbildes
selbst noch gar nicht erfüllen, da es keine exakten Uhren gab. Er musste also
von dessen Annahme ausgehen, die er zuvor auf seine Ergebnisse projiziert hatte.
Durch zwei Rechenfehler gelangte er dann eher zufällig in die Nähe der richtigen
Berechnung der Gravitation. Hinter Galileis Ergebnis stand also ein bestimmtes
Konzept, das dieses erst möglich gemacht hatte. Die Wechselwirkung von Konzept
und Daten will auch Tonelli reflektieren. Galilei ist auch Tonellis Held,
schließlich hat auch er, wenn auch 300 Jahre später, in dessen Stadt Pisa
Physik studiert. Tonelli tut das aber entgegen seiner eigenen Annahme weniger
gründlich in dem Teil des Buches, in dem er die physikalischen Ergebnisse
präsentiert als vielmehr in seinen erzählerischen Ausführungen über seine
Familie und die Beziehung zu Musik, Literatur und Malerei.
Dann nämlich macht er sich Gedanken
über die historische Konstellation des Stands der Produktivkräfte und die
entsprechende epistemische Fragestellung.
Diese stellen nicht die Begleitmusik zu der physikalischen Forschung dar,
sondern sie enthalten in der Narration zugleich deren lebensweltlichen
erkenntnistheoretischen Grundlagen, die apriori in die Erstellung und Auswertung
des Experiments mit eingehen. Ein ähnliches Gespräch über die Weltbilder und
Fragen, die die entsprechenden Ergebnisse erst ermöglichen, hatten schon der
Physiker Albert Einstein, der Kulturwissenschaftler Aby Warburg und der
Philosoph Ernst Cassirer über die Grundlagen der Erkenntnis geführt.[3]
[1] Vgl. Stephen Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit. Rowohlt 1993. [2] Vgl. Günter Mensching, Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart: Metzler 1992; Alexandre Koyré, Leonardo, Pascal und die Entwicklung der kosmologischen Wissenschaft (1939), Berlin: Wagenbach 1994 und Haag, Karl Heinz, Der Fortschritt in der Philosophie (1983), Frankfurt am Main: Humanities Online 2005. [3] Horst Bredekamp, Claudia Wedepohl, Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne, Berlin: Wagenbach 2015.
Artikel online seit 27.01.25 |
Guido Tonelli |
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