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So viele Fragen …

In seinem neuen Buch »Die Illusion der Materie« beschreibt
Guido Tonelli was die moderne Physik über unsere Welt verrät.

Von Wolfgang Bock
 

Guido Tonelli ist ein wunderbarer Erzähler. Er beginnt seine Geschichte der Materie mit einem Bericht über den Unfall seines antifaschistischen Großvaters kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. So erfahren wir in dem Buch, von dem man erwartet, dass es von physikalischen Fakten und Ergebnissen handelt, zunächst etwas über seine Familiengeschichte. Tonelli ist Experimentalphysiker, der an leitender Stelle am Teilchenbeschleuniger CERN bei Genf an der Entdeckung von neuen subatomaren Bausteinen der Materie beteiligt war. Er ist aber kein Nerd, sondern ein gebildeter Italiener. Er kennt sich aus mit der Geschichte und den Mythen seines Landes und Europas, er ist politisch bewusst, gegen den Faschismus in Deutschland und in Italien und für eine Aufklärung eingestellt. Außerdem kennt er sich aus mit den verschiedenen modernen ästhetischen Richtungen von der Materialmalerei eines Alberto Birri bis hin zur Arte Povera von Michelangelo Pistoletto. Diese umfassende Bildung kommt seinem Verständnis der Physik zugute. Sie erlaubt es ihm, deren Erkenntnisse in einen allgemeinen Kenntnisstand der Welt so einzuordnen, dass dank seiner luziden Darstellung auch naturwissenschaftlich weniger spezialisierte Leser etwas von der Materie verstehen können.

Der britische Physiker Stephen Hawking berichtet, dass sein Verleger ihm mitgeteilt hatte, dass jede Formel in seinem Bestseller Eine kurze Geschichte der Zeit die Leserschaft um die Hälfte reduzierte.[1] Diese Prämisse hat sich auch Tonelli zu eigen gemacht. So legt er nach populären Büchern über die Geschichte des Universums und der Zeit nun auch eine Geschichte der Materie aus der Perspektive der modernen Physik vor. Hier desillusioniert er eine Vorstellung von der Materie als etwas Festem und Unbeweglichem. Vielmehr zeigt er, dass nach der auf den Experimenten im Synchrotron basierende Sicht die Materie genau aus dem Gegenteil besteht: im Wesentlichen nämlich aus den zwei Komponenten der Raumzeit und der Massenenergie, die sehr fragil und zerstörbar erscheinen.

In den ersten Kapiteln referiert Tonelli die Geschichte der Atommodelle von Demokrit über Epikur und Lukrez, Galilei und Newton. Er berichtet von den Veränderungen des Blicks auf die Welt durch Einstein, Heisenberg und Fermi, die zum Bau der Atombombe und der Atommeiler führten und damit der Freisetzung der in den kleinsten Teilen der Welt vorliegenden Energie. Wie in dem Kurzfilm Zehn Hoch (Powers of 10) von Charles und Ray Eames aus dem Jahr 1977 oder den neueren Antman-Filmen von Marvel schrumpfen sich auch die Leser an der Hand von Tonelli hinein in die Welt der subatomaren Teilchen unterhalb der Größe der Lichtwellen. Aber je mehr Teilchen wie Fermionen und Bosonen gefunden werden, umso zahlreicher werden die Fragen, die sich damit neu stellen. Unter Tonellis Regie am CERN wurde das bislang letzte Teilchen, das Higgs-Boson, entdeckt. Das nimmt er zum Anlass, um auch noch einmal – nun auf der umgekehrten Reise ins Universum – die Urknalltheorie Revue passieren zu lassen. Die ersten Sekundenbruchteile der Welterschaffung geben den Rahmen für die weitere Entstehung von Sternen und Galaxien und damit auch für das Leben. Die Physiker erkennen nun, dass die Welt aus einem enormen fragilen Gespinst aus Dunkler Materie und Dunkler Energie besteht: Die Energiesumme des Universums, dass sich ausbreite, bleibe aber Null. Das bedeute, dass so viel Stoff von Schwarzen Löchern und deren Vervielfältigungen aufgezehrt wie in der Bewegung hervorgebracht werde. Tonelli stellt heraus, dass diese materiell-energetische Beschaffenheit des Universums, wäre sie nur um einen Bruchteil anders ausgerichtet, die Entstehung von Sonnen, Planeten und Leben verhindert hätte. Die Summe, die der Autor aus seinem neuen Weltbild zieht, ist damit ein Verständnis für die Zerbrechlichkeit der Welt der Materie. Diese besteht anscheinend im Kleinen wie im Großen hauptsächlich aus Vakuum, das aber auch noch in seiner vermeintlich leersten Form von verschiedenen Strahlungsfeldern und kleinsten Materiebestandteilen durchwirkt ist. Das Resultat dieses Modells ist alles andere als eine Welt aus Sicherheit und Gewissheit, die ein naiver Geist mit der Festigkeit der Materie assoziieren mag:

»Niemand kann ausschließen, dass da, wo sich die gewaltigsten und katastrophalen Phänomene des Kosmos abspielen, andere unantastbare physikalische Prinzipien gelten, die wir noch nicht kennen. […] Kurzum, alles, aber wirklich alles ist nichts anderes als eine Form von Vakuum. Was wir uns als eine feste materielle Grundlage vorgestellt hatten, die sich den schwammigen idealistischen Anschauungen entgegensetzen ließ, erwies sich als ebenso unfasslich und flüchtig wie ein philosophisches Konzept.«

Mit solchen Bekenntnissen ist auch die Grenze von Tonellis offizieller Perspektive erreicht. Denn auch philosophische Konzepte sind alles andere als flüchtig und unfasslich. Innerhalb bestimmter Grenzen besitzen sie durchaus Geltung. So hat Tonelli zwar recht, wenn er eine abstrakte idealistische Philosophie in einer Linie mit einem eindimensionalen Materialismus als dessen Reversi sehen will. Im neunten Kapitel kritisiert er in diesem Sinne die mechanistische Vorstellung, wie sie sich bei Lenin, dann auch bei dem stalinistischen Physiker Schadow in der Sowjetunion dogmatisch entwickelt hatte. Zugleich wurde auch dort an den Universitäten eine moderne Physik betrieben, mit deren Hilfe Atombomben gebaut und Raumschiffe zum Mond geschickt werden konnten. Jiri Gagarin war ja der erste Mensch im All. Dennoch kritisiert Tonelli zu Recht das dogmatische materialistische Weltbild eines östlichen Sozialismus. Zugleich spart er auch nicht mit Kritik an dem westlichen Positivismus eines Ernst Mach oder Otto Neurath. Er will sich wie diese nicht anmaßen, die Bedeutung ästhetischer und philosophischer Phänomene aus Sicht der Physik zu verwerfen und respektiert damit die Grenzen seiner Profession. Dennoch enthält seine Argumentation doch zwei epistemologische Schwellen, die auch er nicht überwinden kann.

Die eine Schwelle besteht darin, dass auch der dialektische Materialismus wie vor allem der junge Karl Marx ihn versteht, selbst ein Konzept darstellt und sich nicht eindimensional auf konkrete Materie stützt. Marx entwickelt eine Kritik der Ausbeutungsverhältnisse der Welt. Er geht davon aus, dass der Mensch vom Reden allein nicht satt wird, sondern sich in Lebensverhältnissen bewegt, die einer bestimmten, die Ungerechtigkeit fördernden ökonomischen Struktur unterliegen. Das Verständnis für dieses Verhältnis nennt er die materialistische Methode. Dass sich das physikalische Bild der Materie im Rahmen der wissenschaftlichen Erkenntnisse verändert, bedeutet nicht zugleich, dass auch diese Verhältnisse sich verändern. Daher bleibt die Kritik der politischen Ökonomie im Wesentlichen von den von Tonelli vorgestellten Neuerungen im physikalischen Wissen unangetastet. Das zeigt sich unter anderem auch darin, dass Donald Trumps Pläne auf den Erfindungen der Tech-Milliardäre fußen. Wissenschaftlicher Fortschritt als Wissen über die Natur ist kein Gegensatz zur Praxis ihrer Ausbeutung. Aber Tonellis Erkenntnisse könnten zu einer Verschiebung dieses Verhältnisses führen, würden sie und die Grundlage, auf der sie gefunden werden, richtig verstanden und angewandt.

Die zweite Schwelle betrifft die Möglichkeiten der Erkenntnis ausschließlich mithilfe des Experiments wie des Teilchenbeschleunigers. Auch Tonelli will das Erlangen von Wissen auf diese Methoden einengen. Hier sehen wir, wo seine Emphase sitzt und wofür sein Herz schlägt:

»Früher oder später wird es an einem Teilchenbeschleuniger oder in einem astrophysischen Labor geschehen, dass eine junge Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler in einer Forschungsgruppe Daten auswertet und dabei auf etwas völlig Unerwartetes stößt, dass vielleicht zur Beantwortung einer unserer Fragen führt. Ein solches Ergebnis könnte unsere Sichtweise von der Materie und vom Universum einmal mehr radikal verändern.«

Das ist der Wissenschaftsaufbau eines Francis Bacon und eines Galileo Galilei auf der Grundlage von William von Ockham. Ob nur aus einem solchen, auf einen Nominalismus zurückgehenden Setting notwendig eine radikale Veränderung des Weltbildes hervorgeht, wird sich allerdings noch erweisen müssen. Hier sind die Philosophen Karl-Heinz Haag und Günter Mensching anderer Meinung.[2] In den 1939 Jahren hatte bereits der Franco-russische Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré in seinen Studien über Galilei Ähnliches festgestellt. Galilei konnte die angenommenen Prämissen eines messbaren physikalischen Weltbildes selbst noch gar nicht erfüllen, da es keine exakten Uhren gab. Er musste also von dessen Annahme ausgehen, die er zuvor auf seine Ergebnisse projiziert hatte. Durch zwei Rechenfehler gelangte er dann eher zufällig in die Nähe der richtigen Berechnung der Gravitation. Hinter Galileis Ergebnis stand also ein bestimmtes Konzept, das dieses erst möglich gemacht hatte. Die Wechselwirkung von Konzept und Daten will auch Tonelli reflektieren. Galilei ist auch Tonellis Held, schließlich hat auch er, wenn auch 300 Jahre später, in dessen Stadt Pisa Physik studiert. Tonelli tut das aber entgegen seiner eigenen Annahme weniger gründlich in dem Teil des Buches, in dem er die physikalischen Ergebnisse präsentiert als vielmehr in seinen erzählerischen Ausführungen über seine Familie und die Beziehung zu Musik, Literatur und Malerei. Dann nämlich macht er sich Gedanken über die historische Konstellation des Stands der Produktivkräfte und die entsprechende epistemische Fragestellung. Diese stellen nicht die Begleitmusik zu der physikalischen Forschung dar, sondern sie enthalten in der Narration zugleich deren lebensweltlichen erkenntnistheoretischen Grundlagen, die apriori in die Erstellung und Auswertung des Experiments mit eingehen. Ein ähnliches Gespräch über die Weltbilder und Fragen, die die entsprechenden Ergebnisse erst ermöglichen, hatten schon der Physiker Albert Einstein, der Kulturwissenschaftler Aby Warburg und der Philosoph Ernst Cassirer über die Grundlagen der Erkenntnis geführt.[3]

Am Schluss seines Buches präsentiert Tonelli seinen Dialog mit dem arte povera-Künstler Michelangelo Pistoletto. Beide stellen dabei fest, dass ihre Väter Maler gewesen sind und sie auf dieser Grundlage ein gemeinsames Verständnis entwickeln können. So hat auch der Leser am Ende viel über die universelle Familie der Atomteilchen, aber auch über die italienische Familie von Guido Tonelli gelernt. Apropos Familie: In dem von der feministischen Kritik nicht zu Unrecht angegriffenen italienischen Film Ewige Jugend von 2015 gibt es zumindest eine zu rettende Passage. Da erkennt der gealterte Protagonist auf einem Gebirgsspaziergang: „Ich bin immer unterwegs zu meines Vaters Haus!“ Das ist ein nur leicht verschobenes Zitat aus Novalis‘ historischem Roman Heinrich von Ofterdingen von 1802. Auch dort heißt es auf die Frage, wohin die Reise ginge: „Immer nach Hause.“ So bewegen sich Tonellis Erklärungen ebenso zwischen seinen Geschichten von seinem Großvater und von seinem Vater. Das macht sein Buch lebendig.

[1] Vgl. Stephen Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit.  Rowohlt 1993.

[2] Vgl. Günter Mensching, Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart: Metzler 1992; Alexandre Koyré, Leonardo, Pascal und die Entwicklung der kosmologischen Wissenschaft (1939), Berlin: Wagenbach 1994 und Haag, Karl Heinz, Der Fortschritt in der Philosophie (1983), Frankfurt am Main: Humanities Online 2005.

[3] Horst Bredekamp, Claudia Wedepohl, Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne, Berlin: Wagenbach 2015.

Artikel online seit 27.01.25
 

Guido Tonelli
Die Illusion der Materie
Was die moderne Physik über unsere Welt verrät. Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann.
C. H. Beck

211 Seiten
24,00 €
978-3-406-82198-1

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