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Der vom Ich bewohnte Planet

Charlotte van der Meles Gedichtband »ein vollgültiger Tiger«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Das Ziel in der Philosophie, weiß Ludwig Wittgenstein im berühmten § 309 seiner Philosophischen Untersuchungen, sei, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen. Die Fliege ist in dieser Metapher nichts anderes als der Mensch, der gedanklich in eine Sackgasse geraten ist, das Glas steht für die Grenzen seiner Sprache, die jedoch unerkannt bleiben. Die Philosophie tritt nun als Therapeutin auf, indem sie die unbewussten Denkmuster und die sinngeronnenen Sprachspiele ins Bewusstsein hebt: Nur, wem es gelingt, die Grenzen seiner eigenen Sprache zu erkennen, wird am Ende einen Weg nach draußen finden können.
In den Gedichten von Charlotte van der Mele taucht das Bild ebenfalls auf. In „Betrachtungen über die Natur der Dinge“ heißt es:

die form der zeit aber ähnle
dem fliegenglas
und wir menschen sind krabbelnde wesen

Überhaupt ist Wittgenstein allgegenwärtig, denn die Gedichte werden immer wieder von Zitaten und Gedankensplittern des Philosophen durchkreuzt. So entwickelt sich ein Dialog zwischen den rationalen, sprachphilosophischen Einwürfen Wittgensteins, der im Tractatus (Absatz 3.4.1) festhält, das Satzzeichen sei „der logische Ort“ – und den intimen, melancholischen und konsequent kleingeschriebenen, interpunktationslosen Zeilen, die van der Mele dem entgegenhält: „ich begründe alles / begreife wenig / fremd sind mir / wald und wachsen“.

Besonders virulent ist dieser Gegensatz in „der objektive standpunkt und ich“, in denen die Gassen von Buenos Aires als Kulisse dienen und das lyrische Ich „gut versteckt den objektiven standpunkt“ entdeckt. Unweigerlich erinnert dies an Jorge Luis Borges Kurzgeschichte „Das Aleph“.
Borges' Aleph nämlich ist ein Ort, „an dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte der Welt sind, aus allen Winkeln gesehen.“ Ein Kreis, „dessen Mittelpunkt überall, dessen Umfang aber nirgendwo ist“, versteckt unter ein paar Treppenstufen im Keller eines Hauses, das abgerissen werden soll. Der Bewohner, ein untalentierter Dichter, bittet Borges um Hilfe, da er ohne das Aleph sein Gedicht nicht fertigstellen könne. Sowohl van der Meles Gedicht als auch Borges Geschichte enttäuschen am Ende die Hoffnung auf die Existenz eines solchen Standpunkts. Was bei ihnen hingegen immer wieder aufscheint, sind die „Traumreste“ – in Anlehnung an Freuds Rede von den „Tagesresten“, jenen Erinnerungen an die Widerfahrnisse des vergangenen Tages, die in allen Träumen aufscheinen.

Daneben wird die deutsche Dichterin und Zeichnerin Unica Zürn, die 1970 in Paris verstarb, immer wieder erwähnt. Erstmals in „der schmerz von deinem tod zu wissen“. Die Zeilen führen auf den Père Lachaise, wo Zürn begraben liegt, und enden mit der unerklärlichen Sehnsucht, ihr nah sein zu wollen. Es gibt zudem ein „inparisverliebtgedicht“ mit dem schönen Bild: „gott selbst trägt hier nur hohe schuhe / und wirkt auf fremde maßlos arrogant“. Und schließlich ist ein weiteres Gedicht „für unica“ betitelt, in dem auch „der tiger“ Erwähnung findet, der dem Band den Titel gibt.
So klar der Bezug zu Zürn ist, so rätselhaft ist die Widmung jenes Gedichts mit dem Titel „einem dichter aus mähren“. Wer könnte gemeint sein? Vielleicht Jan Skácel und sein Band „Für alle die im Herzen barfuß sind“? Ist es jenes Buch, das wie ein „Zauberspruch“ auf das lyrische Ich wirkt?

Der literarischen und künstlerischen Vorbilder gibt es weitere. So findet sich ein feines Liebesgedicht für die in Deutschland eher wenig bekannte, spanische, surrealistische Malerin Remedios Varo und ihre teils durch Salvador Dalí inspirierten Traumbilder. Es gibt so wundervolle Bilder wie jenes „du wohnst in meiner hand“, oder Sätze wie: „mein herz das ist ein puzzle / in hundert teilen und einige / liegen noch bei dir herum“. Der Melancholie ist dabei nicht selten Humorvolles beigemischt: Heraklits „panta rhei“ aufgreifend, heißt es an einer Stelle etwa: „du kannst nicht zweimal den gleichen platz besuchen“.

Mein Lieblingsgedicht aber trägt den Titel:

sonnenkind

du fragst was ich mache
ich sag ich bewohne
einen planeten
und du lachst

ich erzähl dir von flieder
vom lavendel voll von hummeln
von staubigen küssen
in südlichen städten
und du weinst

soll ich mehr noch erzählen
dir erzählen vom menschen
oder erspare ich
uns das entsetzen

Der Gedichtband ist in dem kleinen Leipziger Verlag „Anderort“ erschienen. Der Name ist eine Anspielung auf die Idee der Heterotopien bei Michel Foucault als jene „Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“ Einmal mehr erinnert es an das Aleph, das Fliegenglas, den vom Ich bewohnten Planeten …

Artikel online seit 24.10.25

Charlotte van der Mele
ein vollgültiger tiger
Gedichte
Mit 14 Tuschezeichnungen von Dorothee Hübner
Anderort
Format: 12,5 x 19 cm
Paperback
124 Seiten
16,00 €
978-3-911411-06-6

 


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