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Politische Repräsentationskultur

Jürgen Petersens Untersuchung
der Konzepte deutscher und amerikanischer Politiker zur Repräsentation in Demokratien

Analysiert von Lothar Struck

"Der Kern moderner Demokratien ist die Repräsentation". So steht es auf dem Rückdeckel des Buches "Repräsentation in Demokratien". Aber was bedeutet das? Wie verstehen die Repräsentanten ihre Repräsentation? Wem gilt sie? Nur den Wählern oder gar allen, die sich im geografischen Bereich des Repräsentanten befinden? Welcher Art und welchen Inhaltes sind die handlungsstrukturierenden Konzeptionen von Repräsentation in demokratischen Systemen? Und: Gibt es Unterschiede zwischen den Repräsentationsmodellen beispielsweise in Deutschland und den USA?

Der Autor Dr. Jürgen Petersen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Frankfurt und Research Associate am dortigen Zentrum für Nordamerika-Forschung (ZENAF). Er versucht diese Fragen zu beantworten und bedient sich dabei eines denkbar einfachen Mittels: der Befragung. Dabei steht er vor dem Dilemma, ebenfalls ein repräsentatives Ergebnis vorzulegen, was er durchaus thematisiert, wenn auch nicht ganz überzeugend (dazu später).

Petersen hatte zwei mittelgroße Universitätsstädte ausgesucht – Ann Arbor in Michigan/USA und Göttingen in Niedersachsen/Deutschland. Aus diesen "durchschnittlichen" Städten wurden Politiker in sogenannten Eliteninterviews interviewt. Die Befragungen wurden in offenen, narrativen und akteurszentrierten Gesprächen durchgeführt (sie dauerten je nach Verlauf im Schnitt ca. 75 Minuten [das variierte jedoch von 20 bis 140]), aufgezeichnet und anschließend transkribiert. In Göttingen wurden sie im November und Dezember 2002, in Ann Arbor im März und April 2003 vorgenommen. Es wurden jeweils 6 Mitglieder des "Stadtrats" (bzw. "City Councils" [bemerkenswert: der "City Council" in Ann Arbor bestand aus zehn Mitgliedern – der vergleichbare Stadtrat in Göttingen aus 46]), 3 Mitglieder des "Michigan House of Representative", 2 Mitgliedern des "Michigan Senate" und äquivalent dazu 3 Mitglieder des niedersächsischen Landtags befragt. Den Abschluss bildeten je 2 Interviews von Bundestagsabgeordneten bzw. dem US "House of Representatives". 

Ausschnittweise wird im Buch aus den Interviews zitiert. Dabei mag es zwar aus Gründen der Authentizität vorteilhaft sein, die Aussagen der US-Politiker (wie auch Passagen aus angelsächsischer Fachliteratur) im englischen Original zu zitieren, für den deutschen Leser ist dies jedoch mindestens ärgerlich, gelegentlich eine Zumutung (im umgekehrten Fall dürfte schließlich auch niemand einem amerikanischen Leser die Aussagen der Göttinger Politiker in deutscher Sprache "zumuten" wollen). Ebenfalls außergewöhnlich ist, dass die zitierten Politiker mit Pseudonymen bedacht werden, was im Kleingedruckten des Buches verschwindet. Dabei werden zahlreiche Kriterien benannt, nach denen sie mit ihren Realnamen vermutlich identifizierbar wären. Dass gewählte bzw. sich zur Wahl stellende Repräsentanten Aussagen zu ihrem jeweiligen Verständnis von Repräsentation nur unter Pseudonym abgeben, erscheint sehr ungewöhnlich. Warum so verfahren wurde bleibt von Petersen unthematisiert, was überraschend ist, da er ansonsten jede Kleinigkeit bis in den letzten (wissenschaftlichen) Winkel analysiert und ausleuchtet.

Unmöglich, die zahlreichen Verweise des Autors in die theoretische politik-wissenschaftliche Literatur über Repräsentation in Demokratien, die er in diesem Buch auffächert und später dann zum Instrumentarium seiner Auswertungen macht, zusammenfassen zu wollen. Der Kern des Buches – die Interviews und deren kontextuelle Einbettung in die jeweilige politische Kultur des Landes – liegt zwischen Seite 80 und Seite 200. Danach werden auf etwas mehr als einhundert Seiten detailreiche und kluge Analysen angestellt.

Die grundlegenden Differenzen zwischen dem Verständnis von politischer Partizipation des Bürgers zwischen den USA und Deutschland treten schon während der Wiedergabe von Kernaussagen der Interviews der jeweiligen Repräsentanten zu Tage. Petersen verschärft diese noch, da er insbesondere bei seinen Ausführungen zu den Äußerungen der deutschen Politiker einen leicht abschätzigen Unterton anschlägt. Gegen Ende des Buches gibt er diese subjektive Sichtweise, die deutlich mehr Sympathien für das amerikanische "System" erkennen lässt, offen zu. Ob Petersen dabei die wissenschaftliche Objektivität verletzt, mögen andere beurteilen. Für den an deutscher Politik interessierten Leser lassen sich dessen ungeachtet erstaunliche Einsichten gewinnen.

Sachpolitiker, Bürgerrepräsentant, Politikgestalter
Im Laufe des Buches entwirft Petersen drei "Politikermodelle": Sachpolitiker, Bürgerpolitiker oder Bürgerrepräsentant und Politgestalter (naturgemäß kommen diese Typologisierungen vereinfachend daher; gewisse gegenseitige Durchdringungen werden konzediert und auch thematisiert). Der Sachpolitiker ist vor allem ein deutsches Phänomen. Er entwickelt eine deutliche Affinität zum Politiker als Beruf, der sich sehr stark an Partei und Fraktion bindet und sich diesen Organen verantwortlich fühlt. Die Bürger sind hier letztlich nur "Entsender". Der Repräsentant sieht sich dabei weniger als Repräsentant des Bürgers, sondern seiner Partei.

Interessant ist, dass dies bereits auf der Lokalebene in Göttingen gängige Praxis zu sein scheint. Schon hier sehen sich die Stadtratrepräsentanten als professionelle Akteure (auch wenn dies mit ihrer finanziellen Vergütung nicht unbedingt zusammenpasst). Mit Pitkin sieht der Autor dieses Denken als Freibrief für Handlungsfreiheit des Repräsentanten ohne Responsibilitätsverpflichtung bzw. ohne Verantwortlichkeit dem "einfachen" Bürger gegenüber. Hiermit wird ein typisches Merkmal deutschen Politikverständnisses offenbar, was Petersen fast bis zur Schmerzgrenze immer wieder betont. Parteien in Deutschland nehmen genau jenen Platz zwischen Staat und Gesellschaft ein, von dem aus sie einerseits die Bürger politisch mobilisieren und integrieren und andererseits den Staat gesellschaftlich öffnen und demokratisieren. In den Fraktionen findet der Austausch untereinander statt, da niemand zu allen Themenbereichen ausreichend informiert ist. Ein wesentlicher Bestandteil dieser sachpolitischen Herangehensweise ist der "Experte". Sachpolitik folgt Expertenanhörungen und wird demzufolge als "vernünftig" betrachtet. Auf die Problematik dieses Expertentums geht Petersen am Rande ein.

Viel seltener finden sich in Deutschland die anderen beiden Repräsentationsformen. Da wäre zunächst der Bürgerrepräsentant, der in Ann Arbor vor allem auf lokaler Ebene den Status als Politiker fast empört ablehnt und sich sogar gegenüber "den Politikern" abgrenzt. Immanent sind ihm Ehrenamtlichkeit, kurze Wahlperioden, ein starker Einfluss von Bürgern auf politische Entscheidungen, hoher Grad an Offenheit und Öffentlichkeit politischer Prozesse, die eigene Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit. Der Bürgerrepräsentant sieht sein Amt als temporäre Übernahme einer Bürgerpflicht. Meist geschieht dies ohne direkten sachlichen Überbau und ist rein personenbezogen. Zwar werden die Parteien in den USA nicht ganz ausgeblendet (sie finanzieren und organisieren beispielsweise Wahlkämpfe), aber sie spielen in keinem Fall eine derart dominante Rolle wie in Deutschland.

Schließlich gibt es noch den Politikgestalter, der eine gemeinwohlorientierte Suche nach gesetzgeberischen Kompromissen für die jeweilige obere Ebene…verbunden mit der Konzeption politischer Inhalte im Sinne konkreter, pluralistischer Interessen sucht. Er ist der klassische Kompromisssucher und würde damit fast dem diskursethischen Ideal entsprechen.

Der Bürger ist nur Wähler
Im weiteren Verlauf der Besprechung der Interviews aus Ann Arbor ergibt sich durchaus eine Verschiebung des Repräsentationsgedankens. Ein wenig grob zusammengefasst kann man sagen: Je höher die Position ist, die vertreten wird (also auf Landes- oder gar Bundesebene), je ferner wird der Gedanke, unmittelbar Repräsentant der Bürger (oder auch nur Wähler; ein im Buch durchaus thematisierter Unterschied) zu sein. Diese durchaus vorhandene Differenz fällt in Ann Arbor deutlicher aus als in Göttingen, weil dort bereits auf lokaler Ebene der einzelne Bürger eher als störend empfunden wird (was an den unterschiedlichen Äußerungen zu persönlichen Kontakten abzulesen ist – in den USA ist dies selbstverständlich und erwünscht, in Deutschland eher nicht). In Deutschland wird der "unorganisierte" Bürger eher als Gegenpart zum Politiker betrachtet. Anliegen soll er wenn möglich in Petition(en) vorbringen, was ihn letztlich auf eine Bittstellerfunktion reduziert.

Skeptisch betrachtet man in Deutschland auch Bürgerinitiativen, die sich (meist auf lokaler Ebene) einem Anliegen dezidiert widmen. Nicht ganz unberechtigt formulieren die Politiker ihre Vorbehalte dahingehend, dass hier meist nur eine Minderheitenmeinung artikuliert wird (das Wort der "schweigenden Mehrheit" spielt in diese Richtung). Wenn die Initiative eine gewisse Größe erreicht hat und das Anliegen Widerhall findet, wird eine parteipolitische Vereinnahmung versucht. Gelingt dies nicht, schwindet das Interesse wieder. Erst auf sehr großer, institutionalisierter Ebene werden dann politische Forderungen wieder zur Kenntnis genommen. Zusammengefasst besteht in Deutschland eine Distanz zur breiteren politischen Partizipation durch die Bürger, sofern sie sich nicht in den dafür vorgesehenen Institutionen (vor allem Parteien, aber auch Gewerkschaften, Verbänden oder Organisationen) stattfindet. Diese Fixierung Institutionen gegenüber spiegelt sich ja auch in der Ansicht, dass, wer an Politik mitarbeiten möchte, dies in einer Partei zu tun habe. [Diese Fixierung auf Institutionen lässt sich schön bei Christoph Möllers nachlesen.]  

Die Ausnahme ist die alle vier (oder fünf) Jahre stattfindende Wahl. Erstaunlich das offene Eingeständnis, dass man Wahlkämpfe als "Informationsveranstaltungen" für den Bürger sieht, der für die nächste Legislaturperiode die politische Richtung vorgibt. Nach Abgabe der Stimme ist dann sein Teil "erledigt". Nur als Wähler ist der Bürger aktiver Souverän. Dies hat, wie Petersen glaubt herausgefunden zu haben, mit einer grundsätzlich eher negativen Sicht auf den "Bürger" zu tun: Ihm wird sowohl das Interesse an Politik wie sachpolitisches Wissen abgesprochen. Zumindest die Interviews mit den Göttinger Politikern legen diesen Schluss tatsächlich nahe.

Das Gemeinwohl in den USA und Deutschland
Die Unterschiede zwischen der politischen Repräsentationskultur in den USA und Deutschlands sind ohne die jeweilige Gemeinwohldefinition nicht erklärbar. Petersen geht hierauf ausführlich ein und diese Kapitel gehören zu den interessantesten in diesem Buch.

Bei den Göttinger Politikern fällt der Ausdruck kaum; er wird höchstens indirekt benannt oder umschrieben (beispielsweise: "das große Ganze"). Desweiteren ist auch die Definition des Gemeinwohls – oder des "großen Ganzen" - arg unkonkret und wird mit spitzfindiger Floskelhaftigkeit abgehandelt. Sachgerechte Politik, so wird suggeriert, ist an sich gut für den Wahlkreis wie für Deutschland, für die Bürger im Wahlkreis wie für die Verbände auf Landesebene – und damit auch gemeinwohlorientiert. Hier sind es weniger die Repräsentanten selbst, welche gemeinwohlorientierte Sachpolitik für alle herstellen, sondern vielmehr die Institutionen des politischen Raumes insgesamt. Es wird in und mit Institutionen Politik für die Bürger gemacht, nicht unbedingt mit ihnen (immer sofern es sich um "unorganisierte" Bürger handelt). Sachgesetzlichkeit statt Volkswillen (wobei in diesem Moment insinuiert wird, dass Volkswillen erstens homogen und zweitens als imperatives Mandat existiert und dessen Umsetzung immer wünschenswert ist). Oder, um es positiv zu formulieren: "Verhandlungsstaat" statt Durchsetzung ideologischer Politikentwürfe.   

Petersen arbeitet heraus, dass der Begriff des Gemeinwohls auch aus historischer Sicht in Deutschland immer noch ambivalent betrachtet wird, wenn nicht gar negativ konnotiert ist. Beleg dafür ist auch die teilweise reflexhafte Ablehnung von Robert Habecks Schrift über einen neu formulierten gemeinwohlorientierten, linken Patriotismus. Liest man Petersens Ausführungen genau, so könnte man vermuten, dass er glaubt, dass diese Reserviertheit dem Gemeinwohldenken gegenüber der Politik nicht besonders unangenehm ist. Dies steht im Gegensatz zur fast emphatischen Gemeinwohl-Definition in den USA, der in nahezu allen gesellschaftlichen Schichten breiter Konsens ist.

Dieser Kernbestand an Ideen des "American creed" umfasst die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Anti-Etatismus, Individualismus und Populismus - kurz und griffig als "Amerikanismus" bezeichnet. Dieser Amerikanismus ist in den USA unumstritten und, populär formuliert, Ziel und Basis allen politischen Handelns. Der frappierendste Unterschied zum deutschen (Neo)-Korporatismus liegt im amerikanischen Anti-Etatismus; in Deutschland spielt der Staat eine dominante Richtungs- und Fürsorgerolle, was in den USA unbekannt und auch weitgehend ungewollt ist.

In den USA gibt es nun verschiedene Interpretationen dieses Grundkonsenses, die sich in Phasen von Konflikt und Reform pragmatisch gegenseitig durchdrungen haben und nicht immer einfach zu trennen sind. Petersen untersucht ausführlich und packend die beiden Hauptinterpretationen: eine "liberale" und eine "republikanische" Variante. (Der Autor weist darauf hin, dass die beiden Begriffe ideengeschichtlich und nicht parteipolitisch zu verstehen sind; auch wenn es durchaus möglich ist, aufgrund der Charakterisierungen parteipolitische Zuordnungen vorzunehmen.) 

Die republikanische Variante verwendet sehr stark den Begriff der homogenen 'community', die als konstituierender Maßstab gilt. Kern des positiv besetzten republikanischen 'community'-Begriffs ist: Der Bürger muss, ebenso wie der Politiker, die Gemeinschaft als 'seine' politisch-soziale Einheit wahrnehmen und eine solidarische Identität mit ihr generieren. Während der Liberalismus darauf vertraut, dass aus dem interessengeleiteten Handeln der Einzelnen in der Summe das Beste für alle entsteht, so ist die republikanische Variante auf eine explizite Vorstellung des Gemeinwohls ausgerichtet. Statt Pluralität soll Einigkeit die Willensbildung der Gemeinschaft bestimmen.

In der republikanischen Variante wird das Gemeinwohl…durch zivilgesellschaftliches Engagement aktiv hergestellt, während es in der liberalen Version im Regelfall aus der Konkurrenz aller Interessen automatisch entsteht und die Politik nur im Einzelfall regelnd eingreifen soll. Insofern stehen sich in der liberalen und der republikanischen Tradition zwei verschiedene Konzeptionen des Gemeinwohlbegriffes gegenüber. Einerseits ein prozeduraler, pluralistischer Begriff des 'public interest', andererseits ein appellatorischer, substantieller Begriff des 'common good'.

Die zentrale Differenz der zwei idealtypischen Konzeptionen von Repräsentation ist die Konstruktion des Verhältnisses zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Sphäre, das eng mit dem unterschiedlichen Bild des individuellen Bürgers verbunden ist (wobei in republikanischer wie liberaler Tradition Demokratie von 'unten' her, vom Bürger im Wahlkreis gedacht wird). Liberal, so Petersen, wird hier als <a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Negative_und_positive_Freiheit"> negative Freiheit definiert</a>. Immanent ist ihre deutlich konzeptionelle Distanzierung von Gesellschaft und Staat, von Bürgern und Repräsentanten. Die republikanische Variante (die Petersen durchaus mit kommunitaristischen Elementen durchdrungen sieht) verfechtet eine "Programmatik" der positive[n] Freiheit zur Selbstregierung, was eine gleichberechtigte und starke lokale Beteiligung aller Bürger…in der 'community' bedeutet. Dabei wird in beiden Konstruktionen eine aktive Teilnahme am öffentlichen Leben gefordert. In der liberalen Reflexion soll sie aber auf die Gesellschaft beschränkt bleiben, während sie in der republikanischen genuin politisch gedacht wird. 

Auswirkungen auf die Repräsentationskultur
Überträgt man diese Weltanschauungen (liberal oder republikanisch) auf die Repräsentationsproblematik, so ergeben sich interessante Auswirkungen. Liberal konstruierte Repräsentation bleibt…im politisch-kulturellen Ideal voller Widersprüche: Der Bürger ist einerseits politischer Interessenmaximierer, wird aber als Wähler auch zum Kontrolleur; er kontrolliert sowohl die Einhaltung der Interessenvertretung als auch des liberalen Versprechens, als Repräsentant neutraler Vermittler zu sein; der Repräsentant ist Politikgestalter, dessen individualistische Selbstsicht als möglichst unabhängiger Akteur es ihm ermöglicht, in Distanz zu eigenen und fremden Interessen eine Lösung gesellschaftlich regelungsbedürftiger Probleme zu suchen; die Suche soll dem Gemeinwohl dienen, aber gleichzeitig nicht eine spezifisch inhaltliche Gemeinwohlvorstellung präferieren. Die weltanschaulich homogene community des republikanischen Modells kennt diese Widersprüche naturgemäß nicht.

Vereinfacht lässt sich also sagen: der Bürgerrepräsentant folgt eher dem republikanischen, der Politikgestalter mehr dem liberalen Modell. Der "deutsche" Sachpolitiker findet innerhalb dieser Kategorien keine direkte Entsprechung, tendiert jedoch trotz der herausgestellten großen Differenzen und dem Hang zur Über-Institutionalisierung zum heterogenen liberalen Entwurf. Die Differenzen in der Repräsentationskultur in den beiden Ländern lassen sich auf einen knappen Nenner bringen: Im Göttinger Fall konstruierten die Politiker Repräsentation vorwiegend über eine affirmative Erzählung von institutionellen Routinen, während dies in Ann Arbor stärker über Bezüge auf idealtypische Konzeption geschah.

Petersen untersucht nicht direkt, ob diese Form der durchaus eingeschränkten Repräsentation im deutschen "Fall" ein Grund für die so häufig beklagte Politik- oder Politikerverdrossenheit ist (bzw. ob diese Stimmung überhaupt zutrifft). Dies hätte sicherlich den Rahmen seiner Untersuchung gesprengt. Leider vergisst er aber auch, den zu repräsentierenden Bürger in irgendeiner Form zu Wort kommen zu lassen. Parallel mit den Interviews in Ann Arbor und Göttingen hätte man ja durchaus einen Querschnitt von Bürgern befragen können, wie sie sich repräsentiert fühlen. Dies unterblieb jedoch.

Gerade bei der Betrachtung des deutschen Politikmodells wäre es erhellend gewesen festzustellen, ob die Bürger mit dieser institutionalisierten, scheinbar anti-partizipativen Repräsentationskultur nicht vielleicht sogar einverstanden sind. In einem Interview im Jahr 1992 suggerierte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine "Art von Vorteilsaufteilung zwischen Politik und Gesellschaft." Von Weizsäcker weiter: "In der Gesellschaft steht die Erhaltung materieller Vorteile im Vordergrund. Im politischen System dominiert die Kunst des Parteienkampfs untereinander. Es geht…um Wohlstandserhaltung gegen Machterhaltung." Von einem "stillen Konsens zwischen Öffentlichkeit und Parteien" mochte von Weizsäcker zwar nicht sprechen. Dennoch ist die These interessant, der Bürger delegiere mit der Abgabe seiner Stimme die politische (und gesellschaftliche) Verantwortung an die entsprechenden politisch Handelnden, um nicht weiter mit den Problemen befasst zu werden. Von Weizsäcker äußerte dies im Rahmen der Diskussion um eine zu starke Dominanz der Parteien, was er seinerzeit in überraschend deutlichen Worten formulierte. Der Gedanke, das Volk sei eigentlich mit der Delegation der Probleme an die Politik einverstanden, kam bei der Kritik an von Weizsäcker damals zu kurz. 

Verwendet man Petersens historische Kurzdarstellung der politischen Kultur Deutschlands (er sieht immer noch ein gärendes Obrigkeitsdenken beim deutschen Bürger), so könnte man den Spieß auch durchaus umdrehen: Der Bürger delegiert mit seiner (wohl überlegten) Stimme die (vulgo: seine) Verantwortung an die sich ihm zur Wahl stellenden Protagonisten. Es wird nicht mehr getan, was die Obrigkeit befiehlt (hierfür existieren hinreichende Strukturen), sondern die Obrigkeit erhält einen zwar zeitlich befristeten, aber ansonsten uneingeschränkten Gestaltungsauftrag. Erst wenn sich der Volkswille diametral entgegengesetzt zum Institutionswillen verhält oder das Wohlstandsversprechen nicht mehr erfüllt wird (oder aus ökonomischen Gründen erfüllt werden kann), wird protestiert.

Für diese These spricht, dass kommunale Bürgerentscheide selten auf die erforderliche Anzahl der Mindeststimmen kommen. Zwar gelingt es immer häufiger, solche Abstimmungen (ebenfalls mittels komplizierter institutionalisierter Techniken) herbeizuführen – aber die Resonanz bleibt in den meisten Fällen ernüchternd. Oft wird das erforderliche Quorum der Mindeststimmen nicht erreicht und/oder die Abstimmungsbeteiligung ist zu niedrig Beispiel aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf. Man könnte hieraus auch eine weitgehende Zufriedenheit mit dem Status quo herauslesen. Tatsächlich gibt es vereinzelt Stimmen, die sinkenden Wahlbeteiligungen nicht unbedingt als Merkmal einer latenten Unzufriedenheit oder Politik-Resignation sehen.

Petersen, der ja durchaus "pro-amerikanisch" ist, thematisiert nur in einer Fußnote, dass die Wahlbeteiligung in den USA zumeist deutlich unter den vergleichbaren Zahlen in Deutschland liegt. Wenn denn die Repräsentationsmodelle in den USA zumindest auf lokaler Ebene "bürgernäher" sind – wie erklärt man die Beteiligung bei kommunalen Wahlen in Ann Arbor von 15-25% der registrierten (!) Wähler (bei gleichzeitigen Kongresswahlen betrug sie 2002 42,2%)? Ein Abgeordneter aus Ann Arbor wird damit zitiert, wie er seine reale Repräsentationsquote ausrechnet und auf  8% aller Bürger kam, die im seine Stimme gegeben hatten. Bei den Ratswahlen in Göttingen wurden immerhin Wahlbeteiligungen von deutlich über 40% erzielt. Leider geht Petersen nicht darauf ein, warum Wahlen zu "repräsentationsferneren" Parlamenten (Landes- oder gar Bundeswahlen) mit deutlich höheren Wahlbeteiligungen einher gehen – und zwar sowohl in den USA als auch in Deutschland. Eigentlich müsste doch der kommunale Bereich, der unmittelbar in die Lebensverhältnisse der Bürger eingreift, von vitalerem Interesse sein.

Petersen berücksichtigt durch seine Auswahl einer niedersächsischen Stadt auch nicht die Möglichkeiten von Mehrstimmwahlsystemen beispielsweise in Hessen, Baden-Württemberg oder Bayern. Hier ist es möglich durch Kumulieren und Panaschieren Wahlen verstärkt zu personalisieren und sich von starren Parteilisten zu emanzipieren.

"Repräsentation in Demokratien" ist ein interessantes Buch. Seine Lektüre ist lohnend und durchaus empfehlenswert. Auch wenn der Leser insbesondere zu Beginn mit einer Vielzahl von Thesen und theoretischen Erörterungen zu Repräsentation in Demokratien konfrontiert und mit einem überbordenden Dissertationsjargon (der auch später gelegentlich hervorbricht) traktiert wird. Man muss zur Kenntnis nehmen: Hier wurde eindeutig nicht für ein breites Publikum geschrieben. Man kann das bedauern – oder die Herausforderung annehmen. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Jürgen Petersen
Repräsentation in Demokratien
Konzepte deutscher und amerikanischer Politiker
337 Seiten
Campus Verlag
Reihe: Nordamerikastudien, Bd.26
9783593390642
€ 34,90


 


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