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Foto by BjorneOfDanmark Creative Commons 2.0 Lizenz.

David Foster Wallace während einer Lesung bei Booksmith in All Saints Church 2006

Toxikologischer Realismus

David Foster Wallace: »Infinite Jest«
Ein endlich übersetzter US-Kultroman findet seine Rezitatoren in Harald Schmidt und Maria Schrader

Von Peter V. Brinkemper

(Köln, 10. Okt. 2009) Ein Abend um dem berühmten, 2008 durch eigene Hand verstorbenen Autor David Foster Wallace, Jahrgang 1962. Mit einer quicklebendigen Runde: angeführt von einem hellwachen Übersetzer, Ulrich Blumenbach, einem stolzen Verleger, Helge Malchow, von Kiepenheuer & Witsch, und mit einer Korona von illustren deutschen Stimmen aus Theater, TV, Film und Hörbuch vor dem riesigen hyperrealistisch wirkenden Projektions-Porträt des jung und sportlich wirkenden Autors. Das Ganze präsentiert, nicht in einer Buchhandlung, Klaus Bittner verkauft Wallace-Produkte im Foyer, am liebsten wie Programmhefte, sondern in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus im vollbesetzten (!) Kölner Schauspielhaus. Eine rheinische Station in der Verlagsvorstellung der deutschen Version von David Foster Wallace’s letztem großen Roman „Infinite Jest“. Das Verlangen nach einem weiteren ausgefallenen Riesen-Werk scheint also groß.
In den USA 1996 publiziert, erscheint „Infinite Jest“ als zugleich esoterisch und populär angepriesener Roman nach sechs Jahren intensiver Übertragungsarbeit durch Ulrich Blumenbach diesen Herbst 2009 in deutscher Sprache. Der Titel „Unendlicher Spass“ stammt aus einem leicht zu ermittelnden „Hamlet“-Zitat (Akt 5, Szene 1; in der Übersetzung Erich Fried) über Leben, vergnügliche Lust und Vergänglichkeit und bezieht sich auf den exhumierten Schädel des verblichenen Horfnarren Yorick, der mit dem Dänenprinzen Hamlet in seiner Kindheit und Jugend spielte.

Wallace’s Werk gilt seit seinem Erscheinen als sprach-artistisches Kultbuch, ein humaneres und doch keineswegs weniger unerbittliches Pendant zum etwas jüngeren Bret Easton Ellis (Jg. 1964, „American Psycho“, 1991, Ellis wird auch in „Infinite Jest“, S. 275 gewürdigt), ein schwieriges, aber keineswegs unmögliches Übersetzungsprojekt (u.a. in Italienisch angeblich mangels Sorgfalt gescheitert) bei gleichzeitig nachvollziehbarem Anti-Plot voller Anfälle und Einfälle aus dem Paralleluniversum der heutigen Medien-Entertainment-Gesellschaft. Mit ihren Emphatisierten und Abgestumpften, Privilegierten und Junkies, Nerds und Dilettanten, Normalos und Agenten, körperlich-seelisch-geistig-real-und/oder-virtuell Amputierten und Deformierten. „Infinite Jest“ wird von prominenten Konkurrenten, Kollegen und engen Freunden, allen voran dem nur wenig ältern Jonathan Franzen (Jg. 1959), neidlos gefeiert als Opus magnum eines Kampfes um literarische Befreiung und Befreiung zur Literatur mitten in der medialen Kakaphonie, als eine aktuelle und wahrhaft aktualisierte virtuose Weiterführung der Idee eines großen Romans weit über das Pensum des Minimallesers hinaus.

Und so erweist sich der Text der Autors auch auf seiner Kölner Station als zugleich bühnenreif und auch wieder bühnenfern: Empfohlen wird der Roman von Helge Malchow auch ausgerechnet aufgrund eines alten Flaschenzug-Witzes, der aus einem von Jean Charles in seinem Buch „Briefperlen“ zitierten Schreiben eines Bewohners der Barbados Inseln an seinen Chef stammt (US, S. 199 f.). Manfred Zapatka trägt kraftvoll den „Herbst – Jahr der Milchprodukte aus dem Herzen Amerikas“ vor, das Szenario eines ziemlich unglücklich ausgehenden Einbruchs in das Haus des Québec stammenden Anti-O.N.A.N.-Organisators durch den zunächst umsichtigen Drogensüchtigen Don Gately (US, S. 80 ff.). Eindringlich, aber auch atemlos wird Joachim Król, wenn er die jämmerlichen Umstände der Geburt von Mario, dem zweiten Sohn der Incandenzas, schildert (US, S. 450 ff.). Harald Schmidt bringt souverän die Satzkaskaden der Wallaceschen Sucht-Zeit-Extrem-Erfahrungen zur Geltung, auch in der Ökonomie, den vermeintlichen Höhepunkt immer weiter nach hinten zu verschieben, und so die inhaltliche Wucht in seiner kabarett-journalistischen Schnellfeuer-Diktion geschickt zu dosieren. „Zeit weitete ihn drang grob in ihn ein, trieb es nach ihrem Wohlgefallen und verließ ihn wieder in Form so endlosen Durchfalls, dass er mit Spülen kaum nachkam. Die längste morbide Zeit versuchte er zu ergründen, wo die ganze Scheiße bloß herkam, wo er doch nichts als Codinex Plus zu sich nahm. Irgendwann dämmerte es ihm. Die Zeit selbst war Scheiße geworden: Poor Tony war ein Stundenglas geworden. Die Zeit verging jetzt durch ihn hindurch, außer ihn ihrem schartigen Fluss existierte er nicht mehr. Er wog nur noch rund 45 kg.“ (US, S. 437) Maria Schraders Stimme schwebt perfekt durch die Prosa, nie zu fern und nie zu nah, um der episch distanzierten und lyrisch untermalten Darstellung von „Madame Psychosis’ Mitternachtsshow“ (US, S. 262, zur Poe-Motivik weiter unten) in ihrer technoiden Zuständlichkeit von Radio-Studio, Headset, Stecker, dreigeteiltem Paravent und  vier Zeitzonen-Uhren einen siderischen Ton zu verleihen, ein Vorbild für ein konzertantes Hörbuch, in dem man den Text vermittels einer aufschlussreich und zurückhaltend inszenierten Vortragsweise einmal besser versteht.

Wallace’s Werk ist vor allem im quantitativen Sinne ein Roman, ein dickleibiger, in viele Figuren, Perspektiven, Episoden und Fragmente verzweigter, laienhaft vor sich hin philosophierender, aber nie gemütlicher, in der Zeit und vor allem in den Gefühllagen wuchtig hin- und herspringender Wälzer, ein Opus, unzähmbar im europäischen Maßstab ziviler und sensibler moderner Literatur von Robert Musil, Thomas Mann, James Joyce und Marcel Proust; und dann doch wieder ruhig, alt-episch und besonnen hinfließend im Ton, wie ein Wal, bis wildere Zustände, Formationen und Kreaturen auftauchen, im militanteren Sinne der unerbittlichen und schonungslosen Aufarbeitung des zeitgenössischen und in naher Zukunft erwartbaren Talmi-Bewusstseins zwischen avantgardistischer Stoßrichtung, medialer Aushöhlung, um sich greifender Sucht und politisch riskanter Verschwörung, – um eine in Unfreiheit verfahrene Welt wieder imaginär oder real etwas in Bewegung zu setzen, irgendwo zwischen Real-Satire, existentiell erfühlter Absurdität und ausgeträumter System-Paranoia, in der Tradition eines Jonathan Swift, Herman Melville, Franz Kafka, Philip K. Dick, William S. Burroughs und Louis-Ferdinand Céline, um nur einige inhaltlich und stilistisch heterogene Parallelstimmen oder vielleicht Vorbilder, die genannt werden oder zu nennen wären, anzuführen. Die Pauschalvergleichsbörse ist ein weites Feld, gerade bei Romanen. Vor allem die kathartische Wirkung des Romans ist beachtlich, trotz seiner offensichtlichen college- und collage-haften Konstruiertheit.

Alles zermalmende Melancholie
David Foster Wallace lässt uns an einer ebenso rigoros wie zäh erzählten, oft in monströsen, seitenlangen Satzgefügen und seltsamen Episoden ausgespieenen Geschichte mit ihren relativ überschaubaren Themen und Schauplätzen teilhaben. Wallace ist kein weltläufiger, kultureller und musealer Kulinariker und Bildermaler, wie Umberto Eco, oder sein aktueller Ersatzmann, der parallel gefeierte, aber auch kritisierte Roberto Bolaño mit seinem bei Hanser publizierten Roman „2666“, geschweige denn ein netzinfogestützter wissenschaftsrealistisch lavierender Entertainer, der sich zur Filmreife gemausert hat, wie Frank Schätzing, im selben Kölner Verlag. Wallace zerlegt in seiner alles zermalmenden Melancholie die Mechanismen der technologischen, der pharmakologischen und der poetischen Bildproduktion als wahnhafte Ideologie, er setzt und zersetzt, verschmilzt und verdampft in seinen plastischen, zugleich deftig-leibhaften, aber auch in der Folge abstrakt-spekulativ ziselierten Sprach-Mäandern mögliche Jetztzeit-Stories und prognostische History zwischen Individuum und Gesellschaft, Alltag und politisch relevanter Geschichtlichkeit. Und zwar einem toxikologischen Realismus, der schonungslos den Glamour des Konsums, die vorgetäuschte Heiterkeit und die unaufhaltsame Karriere entlarvt, mit der destruktiven Präzision der bedächtigen Demaskierung, in der behutsamen, aber unnachgiebigen Bloßstellung aller Antriebsimpulse von Addiction zwischen Hingabe, Sucht und Sehnsucht, in der Entblößung der verdeckten Tyrannei einer intern entfesselten Intimität und der medialen Überdrehtheit der gesamten Gesellschaft. Das vorgebliche Amüsement wird in der Hölle der schrankenlos zur Schau gestellten Pseudobedürfnisse und im Fegefeuer des endlosen Weiterfabulierens über die absurden und handgreiflichen Konsequenzen zugleich ein- und ausgetrieben. Aber auch das Zurückhalten, Verbergen und Verstecken wird aus seiner innersten Logik hervorgezerrt: „Kurz, du versteckst dein Verstecken.“ „Die L.A.R.V.E. erlaubt ihren Mitgliedern, zu ihrem grundlegenden Bedürfnis nach Verborgenheit zu stehen.“ (US, S. 771 f.) Immerhin ist die L.A.R.V.E. die Liga der Absolut Rüde Verunstalteten und Entstellten. Ironie und Humor gibt es in Hülle und Fülle, in sanften und grotesken Anwandlungen, Spaß und Vergnügen, immer wieder, in methodisch abgestuften Varianten, aber zu welchem konkreten Zweck, in welcher Dosis, in welcher Länge, zu wessen Nutzen und auf wessen Kosten? Und vor allem, was bedeutet hier: Unendlichkeit? Der Spaß also doch als fortgesetzte literarische Hofnarrenkunst in Angesicht von tiefer Traurigkeit und Lebensmüdigkeit, als Zerrspiegelung zwischen Wahrheit und Lüge, Schein und Wesen, Schönheit und Hässlichkeit, Sinn und Sinnlosigkeit. Doch wer sitzt in der Loge oder sogar, wie bei Hamlet mit auf der Lebensbühne? Der Souverän, der Autor oder der Leser, der Mensch oder der Kunde? Und wie befindet sich der Souverän? In permanentem Weltüberdruss? Im Drogenverlangen, in Drogenabhängigkeit oder im Drogenentzug? Eben da hört der Spaß spätestens auf, wenn der Leser, zumal überraschend oder sogar von Haus aus ungewollt, zu lange in die Spaßfalle blickt und selbst in ihr zu sitzen beginnt, oder sich in der unendlichen Spaßschleife, die kein normaler Spaß mehr sein kann, gefangen sieht, und auf diese Weise in schweißtreibenden Kontakt und in herzblutende Empathie gerät, mit den ausgegrenzten und unerwünschten Objekten oder besser Subjekten, Unterworfenen des Spaßes, wenn dieser als Prozess, Prozedur, Folter, Unfall und Schicksal sein respektloses, rebellisches Unwesen treibt. Oder gibt es gar, dank der literarischen Kunst, eine höhere Form von einsichtigem, intelligentem, ironischem Spaß, die die niederen und niederträchtigen, mechanischen und blinden Formen der Unterhaltung und des Amüsements, die Unterwerfung und Vergewaltigung des auch gut folterbaren Humors allererst auszumachen und zu kritisieren imstande ist?

Auf seine Liebe zu Georg Büchner, dem Hastigen Genie und Frühvollendeten und dessen an Idealität und Realität gleichermaßen (ver-)zweifelnden und doch kraftvoll wahnwitzigen oder wahnsinnigen, manisch-depressiven oder heiteren Figuren und ihrer übers Bodenlose surfenden Bühnenhaftung mitten im sinnlos gewordenen Leben wurde auch in Köln hingewiesen. In der Figur „R. Lenz“ hat sich im Roman die literarische Querverbindung zur gleichnamigen Büchnerschen Erzählung niedergeschlagen. Die Verzweifelung Woyzecks, der Todesmut Dantons und die komödiantisch-absurde Spielwut im Reiche des Leonce gehören als antiidealistische Antiplots zusammen. Manches klingt bei Wallace wie ein erstmalig ausführlicher, nicht mehr kurz angebundener Büchner, mit seinen alltagsprachlichen und alltagslogischen Formeln und lakonischen Floskeln, seinen Gedankenhindernissen und Denkbehinderungen, Ausflüchten und Gegenwelten, bevor sich die Realität wieder grausam zuspitzt. Aber der feste epische Rahmen und der depressiv-humorvolle Sound klingt dann doch nicht nach dem Drive des „Hessischen Landboten“. Das impliziert auch manches Risiko zum Überdruss.

Wer die 1545 Seiten von „Infinite Jest“ zu lesen beginnt, erfährt im zupackenden Erzählton doch einen geschickt ins Ungeheure und Abstrakt-Unpersönliche weiter treibenden Diskurs. Eine wuchtige, transmediale Ernüchterung und Distanz gegenüber der heute in ihren repetitiv-autistischen und so supernett in Kasperle-Rollen personifizierten Routinen versandenden Unterhaltungs-, Spaß- und Internetgesellschaft, die sich hinter verlockenden Sonderangeboten, Altersfreigaben, Schwarmbotschaften, TV-Zielgruppen und Spaßformaten hysterisch versteckt und ihren mickrigen Triumphalismus in Kleinst-Arenen als Kulissenidentität für immer weiter entleerter Total-Kanal-Abonnenten behauptet, ohne die selbst induzierte Seuche der Entpersonalisierung und der organisierten Verantwortungslosigkeit als Herausforderung ins Auge zu fassen. „Als spinaler Kamelstrohhalm der Großen Vier erwies sich im Nachhinein jedoch das Trio von V&Vs tiefenscharfen Schwarzweißspots für eine winzige Kooperative aus Wisconsin, die im Postversand per Vorkasse Zungenschaber vertrieb. Diese Spots überspannten jetzt eindeutig einen psychoästhetischen Bogen, obschon sie im Alleingang eine nationale Zungenschaberindustrie aus der Taufe hoben und Fond du Lacs NoCoat Inc. in den Fortune 500 katapultierten.“ So ergab sich „jenes entsetzliche Jahr“, „als sich eine ganze Nation zwanghaft mit dem Zustand der eigenen Zunge beschäftigte, als Menschen ohne Zungenschaber und Ersatzzungenschaber für den Notfall so wenig das Haus verlassen konnten wie früher ohne Duschen, Kämmen oder Deodorieren. Das Jahr, in dem die Waschbecken-und-Spiegel-Zonen öffentlicher Toiletten zu Stätten des Grauens wurden.“ (US, S. 598 f.) „Infinite Jest“ setzt vor allem widerborstige oder eisglatte Sprachkorridore quer zu den flutschigen Raum-Zeit-Einteilungen eines in allen seinen Momenten Kommerz-TV-gesteuerten Lebens, vorgestanzten Lächelns und maskenhaften Glücks.  „Infinite Jest“ kommuniziert insofern auch mit dem grauenhaften Szenario der Wachowski-Brüder aus „Matrix“ (1999), in dem sich  die nicht mehr biologisch aktiv gezüchtete Mehrheit der Menschheit als ein verfaulendes Hirn-Körper-Kondensat im Babyformat in den Verschalungen einer energetisch und informatisch vollverkabelten Plantagenzucht aufhält, während sie die grimassierende Simulation einer eigenständigen Wohn-, Arbeits- und Vergnügungswelt von den rebellierenden Maschinen und paranoid gewordenen Programmen in Matrix-City eingespeist bekommt. Allerdings erreicht Wallace nicht die volle Wucht des Science Fiction Genres, seine Dystopie ist vor allem innerpsychisch. Wallace’s Roman spielt beinahe in der Jetztzeit, also in einer fiktiv vor 13 Jahren in den USA erschriebenen Alternativversion der aktuell faktischen globalen Lage. Das uns geläufige politische und wirtschaftliche Gefüge der Vereinigten Staaten kommt, durchaus in der Tradition von Dicks politischen Verzweigungs-Fiktionen, ins Wanken, wenn die USA, Kanada und Mexiko den Staatenbund „O.N.A.N.“, die etwas peinliche Abkürzung der Organisation Nordamerikanischer Nationen, gebildet haben. Frankokanadische Separatisten unterwandern ausgerechnet die Ostküste der USA. In den dortigen fortgeschritten computerisierten TV-Netz, in denen das hundertprozentige Video-on-Demand realisiert ist, wollen Sie einen ultimativ oder sogar letal hypnotischen Film mit dem Titel „Infinite Jest“,  produziert von der zentralen Romanfigur James O. Incandenza, beschaffen und als Bewusstseinswaffe einspeisen, und so die Zuschauer zu einer unabsehbaren Fernsehsucht der unendlichen und tödlichen Wiederholungsschleife verführen, getreu dem Spruch des 2003 verstorbenen Neil-Postman: „Amused to death“. „Infinite Jest“ soll als Underground-Experimentalfilm in fünf fragmentarischen und verschollenen Versionen existieren, deren letzte Variante unvollendet blieb, auch, weil Incandenza sich selbst schließlich umbrachte. Mit „Infinite Jest“ und den anderen Werken, die in der Filmographie im Romananhang angeführt sind, sind Streifen zwischen vormals reiner Subversion und baldiger abgeschmackter Kommerzialität gemeint, etwa wie manches bei Bunuel, Godard, Pasolini, Lynch und Fincher, anfangs auf Zelluloid, dann auf Video und zuletzt als heiß gehandelte Interlace-Telent-Patrone.

Ulrich Blumenbach, der Übersetzer, schreibt im kleinen Zusatzbändchen zum Roman: „Die polytoxikomanen Exzesse der Triebbefriedigung sind in der Regel nur Mechanismen der Flucht vor der Einsamkeit, der inneren Leere, der Depression. Auf die Vielfalt passiver Unterhaltungsformen im heutigen Populärkulturbetrieb, die den Selbstverlust des Einzelnen fördern, reagiert Wallace, indem sich sein Roman der passiven Konsumierbarkeit widersetzt.“ Aber stimmt die Gleichsetzung Blumenbachs von Schreibkomplexität mit sinkendem Unterhaltungswert?  „Damit der sich Leser gerade nicht unterhält, erschwert der Autor ihm die Lektüre...“ Als ob ein bestimmtes Anspruchsniveau nicht auch unterhaltsam, weil spannend und bildend sein könnte. Oder ist das ebenso naiv gedacht? Fragwürdig ist auch Blumenbachs Annahme, die Befreiungsrituale der Anonymen Alkoholiker  seien ein, oder gar das „Sinnzentrum“ des Romans, im Widerstand gegen die „Ironiemühle“, die sich  nach „guter alter Postmodernistenweise“ drehe. Bedenkenswert ist die Metapher, dass bei Wallace der postmoderne Diskurs selbst in die geschlossene Anstalt geht, um gleichsam in den klinischen Entzug zu gehen. Der Status des Verfahrens, Spaß zu setzen, im Zusammenhang oder im Kontrast mit Ironie und Humor, und ihn dann sukzessiv zu übertreiben oder auszutreiben, bleibt bei solcher Betrachtung ungeklärt. Im Roman heißt es: „Ein Ironiker bei einem Treffen der Bostoner AA ist eine Hexe in der Kirche. Ironiefreie Zone. Dasselbe gilt für ausgespichte, verlogene, manipulative Pseudo-Ehrlichkeit.“ (US, S. 533) Gibt es eine positive, lebensstärkende, liebevolle oder auch strenge Form von Ironie? Gibt es eine Form des ertragbaren Misstrauens gegenüber dem eigenen und fremden Scheitern und auch gegenüber programmatisch verschwiemelten Solidarität und Sozialität Anonymer Sünder, die im Modus des Alles-Gleich-Verzeihen-Wollens und Aufeinander-Angewiesen-Seins zusammenzufinden versuchen? Oder sind intellektuelle Schärfe und Ironie nur eine ihrerseits Alkohol- oder allgemein Sucht-anfällige, krankmachende Variante, welche die angebliche gesunde ‚Eigentlichkeit’ und ‚Soziabilität’ des Lebens, die Fähigkeit, gewinnbringende oder gar erfüllte Beziehungen aufzunehmen, zerbricht? Oder ist auch diese Eigentlichkeit schon wieder eine Sucht- statt ein Such- und Anbahnungsmittel? Dave Eggers betont im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe, Wallace sei eine andere Art von Wahnsinniger als z.B. Burroughs, ein eher auf Nüchternheit zielender, „nämlich einer, der sein Handwerkszeug allezeit beherrscht, einer der nicht etwa unter Drogen- und Alkoholeinfluss am Rande dieses oder jenes Abgrundes taumelt, sondern sich offenbar stets auf dem Weg nach innen befindet, in die Tiefen der Erinnerung, um unerbittlich eine bestimmte Zeit, einen bestimmten Ort heraufzubeschwören, und zwar auf eine Weise, die an – es kommt mir so falsch vor, diesen Nahmen zu schreiben, und dann doch wieder so richtig! Marcel Proust erinnert. Das ist die gleiche Art von Obsessivität, die gleiche unerhörte Genauigkeit und Konzentration sowie das gleiche Gefühl, dass der Autor das Bewusstsein eines Zeitalters erfassen wollte (was ihm wohl auch gelang).“

Mit dem Rekurs auf Proust ist natürlich noch kein Rätsel gelöst, die programmatische Suche nach einer wünschenswert reinen, unwillkürlichen Erinnerung an eine verlorene Zeit stellt nur eine weitere Interpretationsaufgabe, vielleicht aber auch eine vormoderne, phänomenologische und präsenzmetaphysische Prämisse, ein Märchen dar. ‚Prousten’ als moderne epische Kur der Memoration wäre dann nicht nur eine herbeigesehnte oder aufgezwungene Therapie, sondern ein echtes Geltungskonzept einer nicht manipulierten, sondern befreiten und befreienden Erinnerung von Zeit. Das Potential einer Zeit, einer Epoche, in ihrem Geist oder Ungeist, ihrem subjektiven, objektiven oder transsubjektiven Bewusstsein in einem Roman der gelebten oder ungelebten Zeit gültig zu gestalten, kritisch und frei zusammenzufassen, das ist die Herausforderung großer Literatur und eines im Leben sattelfesten Autors jenseits bloßer Unterhaltung, aber auch klinisch-pathologischer oder paranoider Unterlegenheit und diesseits steriler Literatur oder eskapistischer Wünschbarkeiten So setzt sich ein eigenwilliges und anspruchsvolles Vorhaben, das sich keineswegs mit statischer Zielgruppen-Selbst-Bestätigung zufrieden gibt, sondern eine dynamische Spur der Exploration, der unerwarteten Erforschung und abenteuerlichen Neu-Bildung von wirklicher Erfahrenheit anbietet, aber auch das Risiko auf sich nimmt, den Leser der sprachlichen Verführung, Verzerrung, ja Einschüchterung auszusetzen. Literatur kann keineswegs nur harmlos der Opfer gedenken, seien es die der heutigen humanitär-motivierten-technologisch-begrenzbaren-und-präventiven Anti-Terror-Kriegskampagnen oder die der entsprechenden Konsum- und Finanzfeldzüge ins menschliche Hirn.

Wallace’s Literatur kennt keine Unschuld, sondern den auflauernden Diskurs der Demaskierung von Schuld und Verstricktsein, zwischen sozialer Entblößung und artifizieller Konstruktion, durchaus in der makabren Tradition von Edgar Allan Poe: „Spaß mit der Droge, dann allmählich weniger Spaß, dann deutlich weniger Spaß wegen der Blackouts, aus denen man plötzlich auf der Autobahn auftaucht, wo man mit 145 Sachen und unbekannten Begleitern langkachelt, wegen der Nächte, in denen man in unbekannten Betten neben jemandem aufwacht, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit bislang bekannt gewordenen Säugetieren mitbringt, drei Tage währenden Filmrissen, nach denen man sich eine Zeitung kaufen muss, um zu erfahren, in welcher Stadt man sich überhaupt aufhält; ja, allmählich immer weniger wirklicher Spaß, aber dafür stellt sich jetzt das körperliche Verlangen nach der Droge ein, der Spaß ist nicht mehr freiwillig wie früher...“ „- dann berufliche Ultimaten, Arbeitsunfähigkeit, finanzieller Ruin, Pankreatitis, überwältigende Schuldgefühle, Hämatemesis, zirrhotische Neuralgie, Nephritis, schwarze Depressionen, rasende Schmerzen, die die Droge nur für immer kürzere Zeiträume lindern kann; schließlich gibt es dann überhaupt nirgends mehr Linderung; schließlich wird es unmöglich, einen Rauschzustand zu erreichen, der die eigenen Gefühle einfrieren würde; und jetzt hasst man die Droge, man hasst sie, kommt aber noch immer nicht ohne aus, ohne die Droge, man merkt, dass der Wunsch, von ihr loszukommen, größer ist als jeder andere Wunsch, und sie macht überhaupt keinen Spaß mehr, und man begreift nicht, wie man sie je mögen konnte, ...“, „dann lösen sich die letzten Schichten der leutseligen, freundschaftlichen Maske von dem alten Freund, der Droge, es ist Mitternacht, und alle Masken werden abgelegt, auf einmal erkennt man das wahre Wesen der Droge, zum ersten Mal sieht man das wahre Wesen der Krankheit, das die ganze Zeit verborgen war, mitten in der Nacht sieht man in den Spiegel und erkennt, was einen beherrscht, was man geworden ist, was man ist –“ „Mehr tot als lebendig ...“ (US, S. 498 ff.) Und andererseits wirken auf den Romanhelden Gatley die bekennenden Mitglieder der Weiße-Flagge-Gruppe widerlich krampfhaft, „ekelhaft demütig, höflich, hilfsbereit, taktvoll, fröhlich, vorurteilsfrei, ordentlich, schwungvoll, zuversichtlich, bescheiden, großzügig, fair, gesittet, geduldig, tolerant, aufmerksam und aufrichtig“, Gatley rebelliert gegen die seichte Psychopathologie, den als krank stigmatisierten Willen und die Erinnerung an frühere Exzesse von Alkohol, Missbrauch und Gewalt im menschelnden Kollektiv-der-unbedingten-Nichtausgrenzung zu anästhesieren (US, S.516).

Man könnte also sagen: Die Klassizität einer harmonischen Moderne, in den von Neil Postman beschworenen frühen druckreifen und am Allgemeinwohl orientierten frühen US-Präsidentschaftsreden unter dem wohltuenden freiem Himmel (im Unterschied zu den zwanghaft auf Sekundenantwortstil und Moderationsterror getrimmten TV-Studio-Show-Pseudo-Duellen) und die Klassizität in den zwischen Logik und Ästhetik liebevoll austarierten Diskursmodellen der Bildungsromane im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, dieser positiv-diätetische Literaturtyp, verliert bei Wallace endgültig und unwiderruflich seine Unschuld, ohne aber als Raster möglicher Klarheit und Klärung ganz aufgegeben zu werden. Seine Literatur wird zur dosierten Toxikologie, zwischen Gift und Gegengift, um die Abgründe und Niederungen, Abrichtungen und Phantasmen, Fixierungen, Infektionen, Ansteckungen und Mortifizierungen der eigenen Seele und des Körpers im Dunkel auszuloten, in der Finsternis der Macht, der Einsamkeit, des ungebremsten Konsums, der Gier, des ruhelosen Sexus und der Thanatophilie. Und diese sind nicht mehr die delikaten Ausnahmen, sondern die Regel, in antinarrativer und kollektivistischer Weise, und in diesem bizarren Sinne werden sie in der modellhaften Psycho-Ausformulierung komplementärer Stimmen ans Licht gezerrt. Wallace Diskurs stellt das Modell einer dunkleren Epik dar, die die düsteren Erfahrungen auch noch hinter den brillanten Monitoren der digitalen Epoche in passionierten und reflektierten Sätzen aufsaugt, um das vorgeblich restlos aufgeklärte, aber um so unglücklichere Bewusstsein wie ein Stück gezeichnetes Holz ans leere Ufer zu werfen. Über einen weiteren Incandenza-Film heißt es: „Die Odaliske, dieses perfekte Gegenstück der Medusa, ist statt eines Schwerts nur mit einer Nagelfeile bewaffnet, dafür bringt sie zusätzlich einen beherzt geschwungenen kleinen Schminkspiegel mit, und eigentlich prügeln sich die beiden bloß zwanzig Minuten lang, beide springen durch das opulente Bühnenbild und versuchen, die andere mit der Klinge zu entkarten und/oder mit dem jeweiligen Reflektor zu deanimieren, und jeder Sprung dient der Absicht, sich so zu positionieren, dass die andere das eigene Spiegelbild sieht und auf der Stelle versteinert oder veredelsteinert oder war auch immer.“ (US, S. 573) Die kunstvolle Art des hochkonzentrierten, über die Auflistungen, Differenzierungen, Beschreibungen und Erzählschritte energetisch sich aufladenden und dann hinwegfegenden Breakdown oder Bug, der die Details der Phantasmagorie und Obsession anhält, bloßstellt und ihren verderblichen Bann als  künstlich produzierten Schein zerstört, indem er sie als Bruchstücke  von existentiellen Havarien signifikant zerknautscht, und damit die Plotlosigkeit des Plots (vgl. US, S. 573) decouvriert, das könnte die zentrale Medien-und-Sucht-tragische Wendung in David Foster Wallace’s Schreibweise sein, die in unterschiedlichen Sprachspielen und Dimensionen seines Werkes nach dem Schlüssel zum Umbruch zwischen dem 20. und 21. Jahrhundert, nach der Erkenntnis des Irrweges und nach der Einsicht in den Ausgang aus den Wandelgärten des heute immer weiter sich ausdifferenzierenden Medienwahns fahndet. Aber vielleicht besteht darin gerade der absurde Sinn des Ernstes und die lächerliche Wichtigkeit des Spaßes und der Ironie, dass es keinen einfachen Ausweg, sondern nur ein endloses Recycling im Sieb zahlloser medialer Bewusstseinsstufen gibt, bevor ein Stück Identität vielleicht ungekränkt durch den freien biographischen Restraum fallen kann.
Peter V. Brinkemper


 

David Foster Wallace
Unendlicher Spaß
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
1547 Seiten
39,90 Euro.
Materialienband - Unendlicher Spaß
Mit Texten von Ulrich Blumenbach, David Eggers, David Lipsky und Jonathan Franzen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
89 Seiten
5 Euro.

Leseprobe


www.unendlicherspass.de

Zum Ausdrucken: Text als pdf-Datei

David Foster Wallace liest:

Death is not the end

 

In Italien - Le Conversazioni 2006

 

 

 

 

 



 


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