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Philippe Jaccottet 1991

photo©ErlingMandelmann.ch
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Der Dichter als »Diener des Sichtbaren«

Der Autor, Übersetzer & Essayist Philippe Jaccottet wird am 30. Juni 95 Jahre alt

Von Lothar Struck

»Das Geheimnis ist…, dass Worte gefunden werden, zuweilen, welche die Welt nicht verstecken, sondern sie offenbaren. Fast alles, was die Menschen sagen und ebenso was sie tun, versteckt die Welt. Ich möchte nichts anderes sein als der Mensch, der seinen Garten gießt und, auf diese einfachen Arbeiten bedacht, diese Welt in sich eindringen lässt, die er nicht lange bewohnen wird. Das Brot der Luft«. Dies schreibt Philippe Jaccottet am 12. August 1958. Am 30. Juni 2020 wird der Schriftsteller, Übersetzer, Diarist, Poet und Essayist 95 Jahre alt. Jaccottet wurde in Moudon im Kanton Waadt (Vaud) in der Schweiz geboren. Er studierte in Lausanne, lebte danach einige Jahre in Rom und Paris, bevor er 1953 ins provencalische Grignan übersiedelte, wo er bis heute lebt.

Das Zitat ist dem bei Hanser erschienenen Band »Sonnenflecken, Schattenflecken« (im Original: »Taches de soleil« erschienen 2013 in Frankreich) entnommen. »Das Brot der Luft« - eine der ansonsten eher seltenen pathetischen Äußerungen Jaccottets. Bei jedem anderen Literaten wäre es eine Programmatik, bei ihm wird es zu einem Versprechen. Es geht bei Jaccottet immer um alles. Kaum ein Dichter, der derart bedacht Worte wählt. »Worte, durch ihren unsichtbaren Stengel mit der Erde verbunden«, so eine weitere Umkreisung (s)eines poetischen Prinzips (»Notizen aus der Tiefe«).

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Das Richtige, das richtige Wort suchen bedeutet, sich der aufgehenden Sonne zuwenden. (»Der Unwissende« – »Fliegende Saat«)

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Jaccottets Anspruch an Literatur (und damit auch an sich selbst) ist asketisch und rigoristisch zugleich. Literatur ist Suche nach der Wahrheit. Dabei steht – überspitzt formuliert – der Dichter eher im Weg. Seine Aufgabe ist es, ohne Verzerrungen den Dingen (und Menschen) gerecht zu werden, sie aufscheinen zu lassen, ohne sie zu lädieren, durchlässig zu sein und am Ende Erlebtes in Sprache zu gießen. Die Kunst: »einen Zauber hervorlocken aus den alltäglichsten Wörtern« (Dezember 1999). Der Dichter als »Diener des Sichtbaren«, ein Hervorbringer. »Vollkommen übergegangen in Sprache, ist er der unsichtbare Dritte«, so treffend formulierte es Peter Handke in seine Laudatio zum Petrarca-Preis an Jaccottet 1988. 

Handke attestierte Jaccottet »Zagheit«, eine »Haltung des Abstands, der Scheu und der Geduld«. Sie zeigt sich wenn er andere Schriftsteller liest, hierüber in Verzückung gerät und dabei immer wieder in große Selbstzweifel ob seines eigenen Könnens gerät. In einem Vorwort zum speziell für deutschsprachige Leser von ihm zusammengestellten Auswahlband »Der Unwissende« bilanziert Jaccottet 2002 selbstkritisch, seine Gedichte und Prosa seien »beinahe von selbst« entstanden »und wie notwendig, im Laufe eines ganzen Lebens und seinen Mäandern folgend: manchmal, selten, als die glückliche, leichte und frische Strahlung seiner reinsten Augenblicke; häufiger als der lahmende, verlegene oder holprige Ausdruck jener Augenblicke, in denen Zweifel, Schmerz, Kummer, Angst stärker waren.« Und dennoch hofft er »weder der Versuchung der Eloquenz« nachgegeben zu haben »noch den Verführungen des Traums oder den Reizen des Ornaments«. Darunter wie zur Bekräftigung ein Satz von 1978: »Gedichte – wie kleine Laternen, an denen noch der Widerschein eines anderen Lichtes glüht.«

Nicht nur Jaccottets Gedichte, auch seine Notate sind »zagend« (Handke), »kleine Laternen«, in denen die Natur, die Landschaft, die Dinge leuchten, zuweilen sogar glühen. Dabei gerinnen sie nie zu bloßen Aphorismen, sind frei von gezwungener Pointe, sie stehen nur für sich selbst. Sie verzaubern den Leser, manchmal genügt nur ein Eintrag, um den Tag zu verschönen. Dabei beschreibt Jaccottet nicht Natur, er beschwört sie, bringt sie zum Schwingen. Herrliche, kleine Epopöen über Wolken, das »Oktober-Feld« (Jaccottet ist der Schriftsteller des Herbstes), ein sich zufällig zeigendes Rotkehlchen, »das Murmeln des unsichtbaren Windes, das Geräusch des Unsichtbaren«, den Schnee, den Sternenhimmel, einen Stein am Wegrand mit schillernden Farben, das Unkraut im Garten, das eine kniende Gebetshaltung verlangt.

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Das Ziehen der Wolken, übereinander hinweg, regelmäßig, langsam, diese weißen Früchte, geschwellt von den Samenkörnern des Regens, erleuchtet, gerötet, gereift von der Sonne.
(»Sonnenflecken, Schattenflecken«, 10. September 1976)
 

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Für »Sonnenflecken, Schattenflecken« hatte Jaccottet 2008 und 2009 seine Aufzeichnungen zwischen 1952 und 2005 noch einmal durchgesehen und Notate, die bisher noch nicht in Anthologien Verwendung fanden, »gerettet« (nur sehr maßvoll und immer sichtbar bearbeitet). Eine Auslese aus mehr als 50 Jahren, die am Ende rund 230 Seiten ergeben. Wie selektiv Jaccottet vorgegangen sein muss, zeigt sich daran, dass es in manchem Jahr nur ein oder zwei Eintragungen gibt; zwischen 1979 und 1987 sogar keinen einzigen. Es sind Aufzeichnungen über Besuche und Zusammenkünfte von oder bei Freunden, Reflexionen über Literatur, Musik und Malerei (Poussin), vor allem aber auch Formulierungen von Träumen.

Einmal fächert er einen Traum auf, der am Ende – verblüffend genug - sein Selbstverständnis des Dichters als Beglaubiger des Seins offenbart. Es sind »drei Formen der Erfahrung«, die sich ihm zeigen. Zunächst ein Spaziergang, »erhellt von der schwachen Sonne jenes Tages«, in der Nacht dann der in ihm »ruhende Traum von einem Unfall« und schließlich die »bloß skizzierte Fiktion…nach dem Erwachen«. Die vierte Erfahrung ist dann die »auf Blätter geschriebenen Worte«, »um alle drei zu übersetzen, sie zu vergleichen, über sie nachzudenken« und Jaccottet wird hieran »klar, dass ich tatsächlich nie irgendeine Geschichte würde erfinden können, nicht so sehr aus Mangel an Phantasie, sondern vielmehr wegen der Ablehnung jeder Art von 'Lüge'«.

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Bevor der Regen naht, gehe ich den Pfingstrosen entgegen. (»Nach so vielen Jahren«)

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2009 veröffentlichte der Hanser-Verlag mit »Notizen aus der Tiefe« drei Texte, die im Original zwischen 2001 und 2004 erschienen waren. Die bemerkenswerteste, für Jaccottet eher unübliche Form der Erzählung wählt er in »Israel, blaues Heft« (frz. 2004). Es geht um eine Reise zu einem Literaturfestival 1993 nach Israel. Über die Veranstaltung erfährt der Leser nichts. Es geht um die Besuche der religiösen Stätten in und um Jerusalem und in Bethlehem. Jaccottet, der mit dem Ich-Erzähler identisch ist, stößt das Menschengewimmel um die Sehenswürdigkeiten herum ab. Von Beginn an reist er mit einem gewissen Unbehagen, beobachtet die »nichtige Neugier der Touristen« oder eine »flüchtige Hast«, die »eher verstört als bewegt«. Dies gilt sowohl für die christlichen Stätten wie auch für die Klagemauer, wo er einen »wilden, blinden Ritus« sieht, der ihn erschreckt. Nur am Eingang der Grabeskirche wird er kurz angerührt. Als er dann den Tempelplatz betritt, kommt er sich plötzlich frei vor, was, wie er mutmaßt, damit zusammenhängt, dass er von der muslimischen Tradition weniger Kenntnisse hat.

Jaccottet ist hin- und hergerissen, was die politischen Implikationen angeht. Er empfindet Mitleid mit den Palästinensern und ekelt sich sogleich, als einige von ihnen plötzlich ein Transparent mit antisemitischen Parolen enthüllen. Jaccottet ringt immer wieder in seinen Notizen um die Sinnhaftigkeit von Religion, die er für bestimmte Lebenssituationen nicht per se infrage stellt. Religiös berührt wird er selber jedoch nicht von den Priestern, der Liturgie, sondern, wenn auch nur vorübergehend, durch die Musik von Bach, den Passionen, die ihm »das Ereignis von Christi Tod« fassbar macht (offenbart?) und in Hölderlins »naivem Drang« dem Gott der Götter gegenüber. Dem atheistischen Dogma ist er nicht verfallen, wägt immer wieder Vor- und Nachteile ab. »Zwischen zwei Stühlen … hin und her schwankend« konstatiert Jaccottet in der Erzählung und konstatiert, dass die »Spuren der Gewalt«, des Hasses mit und ohne Religion ausgeprägt sind; immer dann, wenn es »autoritäre 'Wahrheiten'« gibt. Hätten nicht immerhin die religiösen Überzeugungen trotz ihrer teilweise verbrecherischen Erscheinungen »die schönsten Denkmäler dieser Erde erbaut, Seelen auf ihre höchste Höhe getragen« und versucht, »das Tier in uns zu bezwingen?«

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Das Abendlicht, wie eine Hand, die über die Dinge streicht, um sie zu beruhigen, ihnen zu helfen; so anders als das des Morgens. (»Sonnenflecken, Schattenflecken«, 30. November 1999)

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Warum ist Jaccottet eigentlich immer noch »nur« ein »Geheimtip«? Zum einen ist sein Werk auf mehrere Verlage verteilt; einiges ist bei Klett-Cotta erschienen, in den letzten Jahren bemüht sich der Hanser-Verlag. Bedauerlich, dass seine Tagebücher nur auszugweise auf Deutsch erschienen sind. »Fliegende Saat« ist bis heute das einzige direkte den Tagebüchern zuzurechnende Buch (es enthält eine Jaccottet vorgenommene Auswahl der Notate von 1954 bis 1979, die im französischen original zwei Bücher umfasst). Die weiteren Tagebücher sind bisher nicht auf Deutsch erschienen. »Nach so vielen Jahren« (frz. 1994, dt. 1998) und »Antworten am Wegrand« (frz. 1990, dt. 2001) bestehen aus tagebuchähnlichen Impressionen ergänzt von Gedichten. Jaccottets Werk wird von vier Übersetzern betreut: Elisabeth Edl, Friedrich Kemp, Wolfgang Matz und Sander Ort. Auch dies trägt nicht unbedingt zur Kanonisierung und Klarheit des Werkes bei. Im den Band »Der Unwissende« werden die jeweiligen Texte mit den Signaturen der Übersetzer versehen.

Vielleicht liegt auch einer der Gründe für die immer noch ungenügende Rezeption Jaccottets im deutschen Sprachraum dass seine literarischen Referenzpunkte weit außerhalb dessen liegen, was »bei uns« bekannt ist. Neben Dante, Goethe, Kafka, Hölderlin, Leopardi, Ungaretti, Musil (dessen »Mann ohne Eigenschaften« Jaccottet ins Französische übersetzt hat) und Rilke sind es bevorzugt französischsprachige Schriftsteller, die Jaccottet liest und verehrt. Dabei tauchen mit Stéphane Mallarmé, Paul Valéry und René Char zwar auch bekannte Namen auf (gegenüber Char hat er grössere Vorbehalte), aber eben auch andere Dichter wie sein Freund André de Bouchet, dessen Tod er vage (zaghaft) andeutet, der ihn aber sehr trifft und Paul de Roux, Jean-Pierre Lemaire, Roger Martin du Gard, Jean-Christophe Vailly, Yves Bonnefoy, Robert Merteau, Michel Leiris und Francis Ponge. Sie alle sind Jaccottet sehr wichtig, bieten ihm ständig Anlass zu Reflexion und Einkehr, sind aber im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannt. Jaccottet zeigt sich in seinen Aufzeichnungen nicht nur als Poet und Dichter, sondern (vor allem) auch als intensiver, leidenschaftlicher Leser. 

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Ein Rabe, Höhe gewinnend in schrägem, geduldigem Flug vor den rosafarbenen Wolken der Frühe. (»Fliegende Saat«, Januar 1974)

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2014 wurde Philippe Jaccottets Werk in der berühmten Pléiade-Bibliothek aufgenommen. Er ist damit sozusagen »kanonisiert«. Ein Schritt, der auch in Deutschland längst überfällig wäre. Dieser wunderbare und großartige Schriftsteller hat es längst verdient, ihm ein entsprechendes Forum zu bieten.

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Ein Gedicht von Sander Ort, Philippe Jaccottet gewidmet: Ziegen am Berg

Artikel online seit 29.06.15

 

Philippe Jaccottet
Die wenigen Geräusche
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Philippe Jaccottet
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Notizen aus der Tiefe

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