Eine ziemlich
schräge Geschichte. Dahinter: eine ziemlich schräge Biographie. Marjana
Gaponenko wurde 1981 in Odessa, in der damaligen Sowjetunion geboren und hat
auch dort Germanistik studiert. Sie hat Jahre in Krakau und Dublin verbracht,
aber offenbar immer Deutschland im Auge gehabt. Sie war zwanzig, als ihr erster
Gedichtband erschien, und zwar auf Deutsch. Inzwischen hat sie es auf ein
Dutzend Bücher gebracht, alle auf Deutsch geschrieben.
Auch ihr neuer
Roman erzählt die Geschichte einer sonderbaren Gestalt. Dieser Bibliothekar hat
etwas von dem Sinologen Kien, der in Canettis »Blendung« seine riesige
Bibliothek selbst abfackelt. Er trägt aber auch Züge des Komponisten Bruckner,
der sexuell besessen jede Selbstbefriedigung penibel aufgezeichnet hat.
Gaponenko führt ihre teils grotesken Gestalten in viele absurde Situationen.
Ernest Herz, der Buchgelehrte, trägt eine Augenklappe. Der Verlust des Auges war
kein Drama, nur ein Unfall, eher banal, ein Silvesterböller, obwohl Herz sich
scheut, seine Verletzbarkeit zu zeigen. Dabei fanden viele Frauen ihn mit der
Augenklappe offenbar ganz besonders attraktiv. Doch wenn sie versuchten, das
Geheimnis hinter der Klappe zu lüften, trennte er sich sofort von ihnen.
Immerhin hat er alle Damen in Zettelkästen verewigt mit genauen Angaben von
Größe, Alter, Augenfarbe, Parfümmarke, Essgewohnheiten usw. Ab und zu holte er
die Karteikarten aus dem Geheimfach des Rollsekretärs. Denn er erinnerte sich
gerne an die Damen, auch wenn »die meisten richtige Klammeraffen« waren.
Inzwischen hat Ernest Herz, ziemlich abrupt, das Interesse an den Frauen
verloren. Heute nennt man das »Neustart«. Er wird Bibliotheksleiter in der
»zweitgrößten Klosterbibliothek des Abendlandes«. Mit Elan macht sich Herz an
die Digitalisierung der »Bücherinvaliden«. Doch zu seiner Verwunderung sind der
Prälat des Klosters und andere Bibliotheksangestellte keineswegs interessiert
daran. Im Gegenteil, die Bibliothek soll der Außenwelt auf keinen Fall
zugänglich gemacht werden. Es gibt noch mehr Verwunderliches: Das
Telefunkenradio von Ernest Herz scheint zu spuken. Entweder sendet es
Gospelkonzerte, Gottesdienste oder Spendenaufrufe für die Kirche. Herz, alles
andere als gläubig, pflegt seine Idiosynkrasien. Er verabscheut den »Dauergrinser,
den Gutgelaunten aus Überzeugung, den ernährungsbewussten Wellness-Optimisten,
der den Rat des Therapeuten, die Seele mit der gelifteten Visage in Einklang zu
bringen, ernst genommen hatte«.
Auch seine Vorgänger waren schon schräge Gestalten. Um den Herrn Mrozek gibt es
etliche Gerüchte. Er hatte sich nämlich angezündet und war dann aus dem Fenster
gesprungen. Freiwillig? Und warum? Immerhin hatte er die wertvollen Vorhänge
vorher abgenommen und sorgfältig zusammengelegt. Auf der Suche nach Erklärungen
und Spuren findet Herz im Aschenkasten seines Ofens ein Manuskript. »Eine
Kostbarkeit aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts«. Es wurde gestohlen, der
Bibliotheksstempel war mit einem Rasiermesser weggekratzt worden. Die Suche nach
der Erklärung des mysteriösen Todes und der Herkunft des wertvollen Manuskripts
führt ihn in die Dorfkneipe »Lamm«. Dort begegnet er dem engelsgleichen, leider
autistischen und dazu noch schwulen Kellner Raphael. Herz verfällt, wie auch
schon sein Vorgänger, diesem kellnernden Engel, der zudem noch Analphabet ist.
Herz besucht Raphael zu Hause. Es kommt, wie es heißt, zum »Äußersten«. Mit
»einem schmerzvollen Griff reißt ihm Raphael die Augenklappe vom Gesicht. In
weiter Ferne trillert eine Schaffnerpfeife«. Und dann nimmt das Drama seinen
Lauf. Es ist ein reiches Buch, voller verrückter, komischer, absurder und
genialischer Einfälle, gezähmt in einer poetischen Sprache. Eine schräge
Geschichte.
Wir
danken dem
Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt &
Rhein-Main
Artikel
online seit 01.02.19
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Marjana Gaponenko
Der Dorfgescheite
Ein Bibliothekarsroman
Verlag C.H.Beck
288 Seiten
22,00 €
Leseprobe
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