Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Existentielle Koordinaten

Byung-Chul Han
stellt in seiner Topologie der Gegenwart
»
Vom Verschwinden der Rituale« die Frage nach der Bedeutung
von Ritualen als verläßliche Fixpunkte unseres Selbstbildes.


Von Gregor Keuschnig

 

Im sehr kurzen Vorwort zu seinem Buch über das Verschwinden der Rituale platziert Byung-Chul Han so etwas wie eine Klarstellung: Es ginge nicht darum, eine verschwundene Zeit  zu beklagen, sondern es würde "ohne Nostalgie … eine Genealogie ihres Verschwindens skizziert."

Das Buch hat nicht einmal 130 Seiten. Aber die haben es in sich. Wie ein Schmied hämmern die im zuweilen aufdringlich daherkommenden Heidegger-Duktus formulierten Sätze auf den Leser ein, einem Leser, der sofort zu Glühen beginnt, eine Mischung aus (anfänglicher) Faszination, Neugier und, besonders gegen Ende, auch Verstörung. Doch dazu später.

Han wiederholt in diesem Buch einige Thesen seiner kultur-, zivilisations- und zeitkritischen Sichtweisen und erweitert sie um das Element der Rituale und Zeremonien. Er gilt als Kritiker der modernen Kommunikationsmittel, die er mit Kapitalismuskritik verknüpft. Die Internetkommunikation beherrsche nicht nur das Miteinander sondern trage auch noch zur Selbstausbeutung des arbeitenden Subjekts bei. Der böse Kapitalist, der seine Mitarbeiter knechtet, hat ausgedient. Heute begibt sich das Individuum selber und freiwillig in Abhängigkeiten. Diese Kritik ist nicht neu; sie wurde schon vor einiger Zeit als "Kolonialisierung der Lebenswelt" durch die Ökonomie beschrieben. Han nennt den Feind ein wenig nebulös "neoliberales Regime".

Es folgen durchaus interessante Einsichten, beispielsweise über das Smartphone, welches "kein Ding im Sinne von Hannah Arendt" sei, weil ihm "die Selbigkeit, die das Leben stabilisiert" fehle. Oder die Kommerzialisierung von Werten wie Gerechtigkeit, Menschlichkeit oder Nachhaltigkeit, die leidlich "ökonomisch ausgeschlachtet" würden. Den Werbespruch "Tee trinkend die Welt verändern" eines Fairtrade-Unternehmens kommentiert Han sarkastisch: "Weltveränderung durch Konsum, das wäre das Ende der Revolution." Prägnant die Hinweise über die Emotionalisierung und "die mit ihr zusammenhängende Ästhetisierung der Ware". Das Ästhetische werde "durch das Ökonomische kolonialisiert" (sic!). Auch dies eine hinlänglich bekannte Klage.

Rituale und Zeremonien sind für Han "symbolische Praktiken der Einhausung." Sie schützen uns vor den Abgründen des Seins und "bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor", während das Internet "eine Kommunikation ohne Gemeinschaft" erzeuge." In Ritualen wird, pointiert ausgedrückt, aus dem Egomanen (der von einer auf Ökonomie ausgerichteten Gesellschaft gewollt ist) ein soziales Wesen. Das Verschwinden der Rituale beschleunigt den Prozess einer Ent-Sozialisierung des Menschen und konditioniert ihn auf die Produktion.

Rituale dienen, so lernt man, nie einem besonderen Zweck – außer ihrem eigenen. Sie haben keinen moralischen Kontext. "Die rituelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Regeln. Sie wird nicht von der Tugend oder vom Gewissen, sondern von einer Regelleidenschaft getragen. Im Gegensatz zum moralischen Gesetz werden die Regeln nicht verinnerlicht. Sie werden nur befolgt" (Hervorhebungen im Original). Moral und Ritual sind Widersprüche, denn Moral setze eine Seele voraus, die "die an ihrer Vervollkommnung arbeitet", die auf "Selbstachtung" hinziele. Han nennt das "narzisstische Innerlichkeit". Es ist das Gegenteil des im Ritual und den Zeremonien an der Gemeinschaft orientierten Menschen.

Das Verschwinden der Rituale geht einher mit dem Verschwinden von Gemeinschaften, aber auch der Kraft der Religion. Dennoch ist das Kapitel über Religion und Ritual vergleichsweise kurz. Illustrativer ist da Hans Beispiel für die gemeinschaftsstiftende Wirkung von Ritualen anhand von Peter Nadas' Essay (Bericht?) "Behutsame Ortsbestimmung", in der er, der Stadtmensch und Intellektuelle, von seinem Einleben in eine Dorfgemeinschaft erzählt, in der er ein Haus erworben hatte und nun abseits der Hauptstadt zeitweise lebt. Das Dorf ist hier der "rituell geschlossene Ort", in dessen Mitte ein Wildbirnenbaum steht. Dort "herrscht ein stillschweigendes Einverständnis. Niemand stört es mit persönlichen Erlebnissen und Meinungen. Niemand versucht, sich Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die Aufmerksamkeit gilt in erster Linie der Gemeinschaft."

Der bei diesen Gelegenheiten häufig vorgebrachte Provinzialismus-Vorwurf kommt weder bei Nadas noch bei Han vor. Die Gemeinschaft im "geschlossenen Ort" ist nicht per se stumpfsinnig. Zwar wird zugestanden, dass dem heute "wieder erwachenden Nationalismus […] das Bedürfnis nach jener Schließung inne[wohnt], die zum Ausschluss des Anderen, des Fremden führt". Aber "nicht nur die Negativität totaler Schließung, sondern auch die Positivität exzessiver Öffnung" sei eine Gewalt, die "eine Gegengewalt nach sich zieht". Diese Gegengewalt sei eine Reaktion "auf die globale, neoliberale Hyperkultur, auf die hyperkulturelle Ortlosigkeit". Beiden Denkgebäuden fehle, so Han, der Zugang zum Fremden.

Han unterscheidet Gemeinschaft von den modernen Massen-Events, in der jeder für sich bleibt. Eine Gemeinschaft schützt das zum Knecht degradierte bzw. sich selber degradierende "neoliberale Leistungsobjekt". Wo "Rituale als Schutzvorrichtungen wegfallen, ist das Leben ganz ungeschützt."

Anhand von zwei im Schwinden begriffenen, eher zeremoniellen Ritualen, wird die These illustriert. Zum einen wird die "Ethik der Höflichkeit" aufgegriffen. Sie ist "eine reine Form. Mit ihr ist nichts beabsichtigt. Sie ist leer. Als rituelle Form ist sie jeden moralischen Inhaltes entleert." Ähnliches gilt für das Trauerritual. Die Trauerzeremonie "legt sich wie ein Firnis schützend über die Haut und isoliert diese gegen die grausamen Verbrennungen der Trauer angesichts des Todes eines geliebten Menschen." Trauer  stelle ein "objektives Gefühl, ein Kollektivgefühl dar." Und "Kollektivgefühle haben nichts mit der individuellen Psychologie zu tun. Im Trauerritual ist die Gemeinschaft das eigentliche Subjekt der Trauer. Die Gemeinschaft erlegt sie sich selbst auf angesichts der Verlusterfahrung. Diese Kollektivgefühle verfestigen die Gemeinschaft."

Wo gibt es anderenorts noch Rituale? Han wird in Japan fündig, wobei sein Befund allerdings uneindeutig ist. Japan weise "auf jene kommende rituelle Gesellschaft hin, die ohne Wahrheit, ohne Transzendenz auskommt, eine durchästhetisierte Gesellschaft, in der der schöne Schein an die Stelle der Religion getreten ist". Aber was ist mit dem schönen Schein gemeint? Han wirft Roland Barthes eine Japan-Idealisierung vor. Aber betreibt er diese nicht selber, in dem er von der japanischen Teezeremonie schwärmt, der man sich "einem minutiösen Ablauf ritualisierter Gesten" zu unterwerfen habe? "Hier gibt es keinen Raum für Psychologie. Man wird regelrecht entpsychologisiert", so der Befund. Han konstatiert, die Kommunikation trete "zurück zugunsten ritueller Gesten."

Aber ist es nicht gerade Japan, in der die Identifikation des Arbeitnehmers mit seinem Arbeitsgeber fast bis zur Selbstausbeutung reicht? Könnte es nicht sein, dass die Teezeremonie nur noch eine Art kulturelle Routine ist? Hier rächt sich, dass Han nur sehr unpräzise Routinen von Ritualen unterscheidet. Eine Routine ist für ihn individuell, nicht auf Kommunikation ausgerichtet. Und ausgerechnet bei der japanischen Teezeremonie konstatiert er, dass dort in der "Selbstvergessenheit" des Individuums keine Kommunikation stattfinde. Rituale erzeugen ja, so Han, im Gegensatz zur Routine, "Intensität". Aber was, wenn diese Intensität sich dann später wieder in der "fortstürzenden Zeit" einzufügen hat? Wie kann eine Gesellschaft, die im Sog der Kommerzialisierung das Verweilen verlernt hat (für Han eines der Wesensmerkmale der Gegenwart) plötzlich eine Teezeremonie zelebrieren? Der Leser bleibt verwirrt.

Bei der Suche anderer ritualisierter und somit wohl erstrebenswerter Formen kommt Han schließlich auf das Spiel zu sprechen. Mit Georges Bataille unterscheidet er das "schwache Spiel" (welches gesellschaftlich "geduldet" sei) vom "starken Spiel". Letzteres lässt sich, so Han, nicht mit dem "Prinzip der Arbeit und Produktion vereinbaren. Es setzt das Leben selbst aufs Spiel." Han philosophiert über den "heiligen Ernst" des "starken Spiels", schlägt einen Bogen über die Ritualhaftigkeit des Duells ("Nach dem Duell gelten beide Duellanten im Urteil der Gesellschaft als Ehrenmänner") und endet beim Krieg. "Der Krieg als ritueller Zweikampf zügelt die Gewalt, indem es ihr ein Formgewand aus strengen Spielregeln auferlegt." Wichtig sei dabei die "Symmetrie der Kampfmittel". Einigermassen überrascht liest man weiter: "Der Krieg als erweiterter Zweikampf unterscheidet sich grundsätzlich von der Kampfhandlung, die heute immer mehr zu einer rücksichtslosen Tötung ausartet". Den modernen Bomben- und den postmodernen Drohnenkrieg lehnt Han als "Produktionsschlacht" ab. Sein Ideal ist auch nicht der Soldat, der als Söldner agiere, sondern der "souveräne Spieler", der "Krieger". Weder im Duell noch im Kriege ginge es primär um den physischen Tod des Feindes sondern um "Lebensintensität". Huizinga wird noch dahingehend vereinnahmt, "dass die Ritualisierung des Krieges das 'ethische Niveau'« wesentlich gehoben" habe. Ob die immer mehr sich verbreitenden Hooligan-Schlägereien, die nach festen Regeln ausgetragen werden, Hans Ideal nahekommen? Man erfährt es nicht. Zwischenzeitlich glaubt man, einen Jünger-Adepten vor sich zu haben.

Es verwundert danach kaum, dass der Regisseur Werner Schroeter noch als Kronzeuge für den "souveränen Freitod", der mit einer "extremen Lust" einher zu gehen habe, zitiert wird (was von Ferne an Jean Améry erinnert). Die letzten Kapitel behandeln so unterschiedliche Thematiken wie Immanuel Kant, die zeitgenössische Pornografie und den "Dataismus". Sie wirken eher additiv, zumal sich Han hier auch zuweilen selber wiederholt.

Es passt zum raunend-verschwörerischen Subtext des Buches, dass das laufend konstatierte "neoliberale Regime", jener Urquell allen Übels, am Ende ein anonymer, nicht definierter Diabolus ex Machina bleibt. Einer "Topologie der Gegenwart", wie der Untertitel verspricht, ist das nicht würdig. Byung-Chul Hans Ausführungen zur gemeinschaftsbildenden Funktion von Ritualen und Zeremonien sind erhellend und luzide. (Ver-)Störend ist die explizite Würdigung des archaischen Kampfes. Allenfalls die Erinnerung an das kurze Vorwort mildert den leichten Ärger. Das Glühen des Lesers ist nach und nach verschwunden. Der Zunder wurde nass.

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Artikel online seit 23.07.19
 

Byung-Chul Han
Vom Verschwinden
der Rituale

Eine Topologie der Gegenwart
Ullstein Buchverlage
128 Seiten
20,00 €
9783550050718

 

 


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