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Jeder
Wahn hat einen Sinn |
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Vor über 30 Jahren erschien das Buch des britischen Neurologen Oliver Sacks mit dem schönen Titel »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte«. Der 2015 verstorbene Sacks schildert darin in lockerem Ton verschiedene Fallbeispiele, um bestimmte Krankheitsbilder zu erklären. Dem Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, fiel es zunehmend schwer, andere Personen zu erkennen. Sein Wahrnehmungsvermögen war beschränkt auf Einzelaspekte der Realität. Sacks' Buch wurde ein Weltbestseller; der Autor habe medizinische Fallstudien zur literarischen Kunstform erhoben, hieß es damals. Das lässt sich ebenfalls über Achim Haug sagen. Denn Haug, Professor emeritus für Psychiatrie, legt eine nicht minder unterhaltsame und fesselnde Studie über die bizarren Formen des Wahns und ausufernde Phantasien vor: Da ist die Frau, die von unzähligen mikroskopisch kleinen Wesen bewohnt wird, die permanent zu ihr sprechen; da ist der Mann, der mit Hilfe klimatischer Veränderungen in verschiedene Sphären reist; da ist der Heilige aus einer Parallelwelt, der es mit der Tochter des Teufels zu tun hat; und schließlich die Frau, deren Ehemann und Kind durch Doppelgänger ersetzt wurden. Es sind keine leichten Schicksale, von denen Haug berichtet. Dennoch schreibt er unterhaltsam über seine Fälle: »Meine Hoffnung ist«, sagt er, »dass auf diesem Weg mehr Menschen von den Erkrankungen erfahren, von denen das Buch handelt. Vielleicht trauen sie sich so etwas näher heran an psychische Störungen.« Schon Sacks ging es ja darum, hinter psychischen Erkrankungen dem individuellen Schicksal nachzuspüren. Die eigene Normalität hat er stets in Frage gestellt. Haug denkt hier genau wie Sacks. Seine Fallstudien sind der Versuch, die Arbeit therapeutischen Verstehens für ein größeres Publikum nachvollziehbar zu machen: Jeder Wahn hat einen Sinn. Im Zentrum der Darstellung geht es um den Facettenreichtum des Wahns: »Als Zeichen für die Erkennung des Wahns«, heißt es am Ende des Buches, »gelten immer noch die von Karl Jaspers abgeleiteten Wahnkriterien, darunter die privative Wirklichkeitsauffassung, die dogmatisch und mit apriorischer Evidenz vertreten wird. Der sogenannte Überstieg ist nicht mehr möglich. Dadurch, dass die Auffassung der Welt und dessen, was in ihr geschieht, dem Wissen, Glauben, Meinen der Gemeinschaft entgegensteht, ist sie lebensbestimmend und sozial isolierend.«
Das Buch bietet aber noch einiges mehr: Interessant sind nicht zuletzt die
Exkurse in die Geschichte der Psychiatrie, Haugs durchaus kritische Haltung zu
einigen Erkenntnissen der Hirnforschung und seine Übungsbeispiele bezüglich der
eigenen Wirklichkeitsauffassung. Das Buch sensibilisiert insgesamt für
Ich-Störungen und erklärt verschiedene Behandlungsmethoden. Wer Sacks Bestseller
mochte, wird mit Haugs Buch seine Freude haben – trotz des ernsten und mitunter
traurigen Themas, über das er schreibt. |
Achim Haug |
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