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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 










Erkundungsgang

Peter Handke begleitet seine »Obstdiebin« ins Landesinnere

Von Lothar Struck

Wieder eine Frau als Hauptfigur bei Peter Handke. Keine linkshändige Frau, keine Zukunftsdeuterin (Über die Dörfer) und keine Sängerin (Kali), sondern die Tochter der »Bankfrau« aus dem Bildverlust, »anderthalb Jahrzehnte« nach deren Durchquerung der balkanesk erzählten spanischen Sierra del Gredos. Sie heißt Alexia »oder Aleksija«, später auch einmal Alicia, aber man nennt sie die Obstdiebin. Und sie macht sich auf als »Ein-Frau-Expedition« die Mutter zu suchen. Vorher hatte sie sich noch »im Restaurant ›Mollard‹ vor der Gare Saint-Lazare mit ihrem Vater getroffen«.

Aber zunächst ist da der Erzähler, der von der Niemandsbucht aus aufbricht, die Obstdiebin – ja, was? Zu beobachten? Still zu begleiten? Nein: Ihren Weg, ihre Erlebnisse zu bezeugen. Der Erzähler ist Mitgeher, »der Geduldige«. Initiation ist ein Stich einer Biene, die auf wundersame Weise überlebt (es wird nicht das einzige Wunder bleiben). Da und dort noch mehr Aufbruchsignale (mit zuweilen schön-komischen Selbstironiesprengseln des autofiktionalen Ich-Erzählers), hineingetupft und den Leser in den Rhythmus der Erzählung einbettend, oder, besser: überführend.

Das Ziel der Reise: Das Vexin, die Picardie; einst die Kornkammer von Paris. Und wer will kann nun die etwas mehr als 70 km, die Obstdiebin und Erzähler zurücklegen, auf Google Maps nachvollziehen. Aber es wird nichts helfen; Handke huldigt natürlich keinem Naturalismus. Man muss die Abenteuer er-lesen, diese dreitägige »einfache Fahrt ins Landesinnere« (so der Untertitel) und obwohl es ein Zufußgehen ist wird es immer wieder auch zu einer »Fahrt«. Am Ende ist Chaumont-en-Vexin erreicht. Welch' eine Ankunft! Und dann: Was für ein Fest! Aber dazu später.

Nach einem Viertel des Buches nimmt sich der Ich-Erzähler zurück; er taucht kaum mehr auf, nur ein paar Mal noch spricht den Leser, die Leserin, an oder gibt ein Zeichen. Die personale Erzählsicht dominiert von nun an. Wir lernen die Obstdiebin kennen, eine junge Wunderfrau, ausgestattet mit synästhetischen Wahrnehmungen und, wichtig für dieses Vorhaben, einem »schärferen Ortssinn« wie sonst niemand, einem »Ortsgeist« gar. Zur Obstdiebin wurde sie, weil sie »jeden Ort an den Punkten, Stellen und Winkeln, wo eine Frucht wuchs, die sie mitgehen lassen konnte« maß. Nicht zum Genuss (das auch, aber nicht zwingend), sondern um sich derart den Ort anzuverwandeln, einzuverleiben; ein »Ortwerden« und »Nebenbei-Entdecken«.    

Mit Alexia unterwegs zum Gehen und Sehen. Salopp gesagt: Wieder eine jener »Road-Novels« von Peter Handke. Es begann mit Der kurze Brief zum langen Abschied, als der Held mit einem Greyhound-Bus durch die USA, halb fliehend, halb sehnsuchtsvoll vor und am Ende mit seiner Frau herumreiste und schließlich mit John Ford als »altem Mann« versöhnt die Welt betrachten lernt. Dann die Fragenpaare im Spiel vom Fragen, der Reise zum sonoren Land. Und den wie zufällig aufeinander treffenden Protagonisten aus Die Abwesenheit, die einem imaginären Ziel entgegenstreben – und sich dann wieder zerstreuen. Handkes Unterwegs-Helden suchen die Einsamkeit oder, seltener, auch einmal das Gegenteil, die Metropole, wie jener Apotheker von Taxham aus In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus oder der Schauspieler in Der Große Fall. Und manchmal rüsten sich die Protagonisten zur Langsamen Heimkehr und gehen Über die Dörfer. Vor allem suchen sie – wie im Bildverlust - Gemeinschaft, ein Erleben jenseits des Individualismus  aber eben auch keinen allüberformenden »Staat« (herrlich in der Obstdiebin die Stelle des Schimpfens auf das, was man Staat nennt). Das alles kann man Road-Novel nennen, aber es ist bei Handke immer mehr gewesen.

Werkgenetisch bildet diese Einfache Fahrt ins Landesinnere – so der Untertitel des Buches – mit Mein Jahr in der Niemandsbucht und dem Bildverlust-»Roman« einen Dreiklang. Die Dreitagesreise von der Pariser Vorstadt in den Vexin wird zum Abenteuer ins Neue, Bekannt-Unbekannte und, ein wenig auch, Verheißungsvolle. Spürbar, wie das Erzählen ins Epische verwandelt werden soll. Manchmal wird ein Ton angeschlagen wie aus vergangenen Zeiten, so als lese jemand die Geschichte aus dem Jahr 2016 hundert oder zweihundert Jahre später. Und in den besten Momenten liest man es selber wie ein Echo aus der Vergangenheit. So gelingen herrliche Szenen, etwa der Supermarktkassiererin, die sich irgendwo Pause machend urplötzlich verwandelt. Oder wenn die Obstdiebin auf einer Terrasse in Cergy sitzend, von einer »Unsichtbarkeit, dem Übersehenwerden und Nichtvorhandensein« changierend zwischen »sehen, ohne gesehen zu werden« und dann »erst in ihrem Weggehen, unverrichteter Dinge, plötzlich, […] gesehen wurde«. So viele »oder«.

Neben Überraschendem wie Alexias Vorliebe für Eminem und dem Rap oder die Hommage auf den Fußballspieler Javier Pastore von PSG Paris, der »am Ball die Anmut und immer wieder auch die Ungeschicklichkeit in Person war« erscheinen viele typische Handke-Motive in neuen oder alten Zusammenhängen. Da sind die Spatzen mit ihrem Bad im Sand als Zeichen für Friedfertigkeit und Ruhe. Oder das gelbe Halstuch (Reminiszenz an John Ford). Da ist das Fahren mit den Vorortzügen, hier gekoppelt mit den »Unvergleichlichkeiten des Zughalts von Lavilletertre« – aber, und das ist neu: einer subkutane Terrorfurcht. Es gibt Hochgesänge auf die Stille, den Gruß des Unbekannten, das Gehen, als »Einsinken ins Land«. Natürlich ist auch hier bei Handke – seit Langsame Heimkehr - die Topographie der Landschaft wichtig. Geradezu euphorisch der Erkundungsdrang Alexias: »Suchen, innehalten, rufen, rennen, die Wälder, die kleinsten, vor allem die, durchstöbern, die Hauptstraßen, die Städte, die Dörfer, die Weiler, vor allem die, peinlich genau in Augenschein nehmen, ja.« Aber auch: »Wie jäh ihr täglicher Übermut kippen konnte in Mutlosigkeit.« Und die Frage woher auf einmal das »Grauen« kam, »es sei alles verspielt und verloren«. Alles ist nur augenblickhaft, aber immerhin ein Augenblick.

Die Suche nach Gemeinschaft – seit vielen Jahren ein immer drängender in Handkes Werken auftauchendes Motiv - bleibt letztendlich unerfüllt, nicht zuletzt aufgrund der »Unerreichbarkeit der Zeitgenossen« denen »die Orte ihres Tuns und Treibens, deren Umgebungen und Umfeld, nichts bedeuten«. Damit einher geht der Befund des immer wieder stattfindenden Orts- und Raumverlustes, den die Protagonistin versucht durch das Wandern zu entkommen. Und natürlich gibt es auch den Idioten, für Handke immer noch der Inbegriff des unverdorben Wahrnehmenden: »Es gab noch den und jenen anderen, und es hätten gut und gerne noch mehr sein können«. Berührend eine Rede auf jenen 19jährigen Zdenek Adamec, der sich 2003 in Prag auf dem Wenzelsplatz selbst angezündet und »aus der Welt katapultiert« hatte, »um zu protestieren gegen die Welt«. Handke hatte bereits 2006 in einer Rede in Klagenfurt auf Adamec hingewiesen. Ihn beschäftigt und berührt die Tat. In der Obstdiebin erzählt Valter (ein Koffername aus Valentin Sorger, dem Helden von Langsame Heimkehr), der zwischenzeitliche Wandergeselle von Alexia, von jenem Zdenek – und stösst bei den Zuhörern auf wenig Interesse.

Zahlreich die Anknüpfungen an Literatur. Auf auffälligsten die Rekurse auf Wolfram von Eschenbach (alle seine Epen spielen, so heisst es einmal, in Frankreich). Sogar Alexias Bruder heißt Wolfram. Der Name Alexia knüpft an den Heiligen Alexius von Edessa an, »der nach Jahren in der Fremde bettelnd heimkehrt ins Elternhaus, unerkannt von den Seinen, und da in einem Verschlag unter der Treppe haust als Namenloser, sich bekennend als Sohn erst in der Stunde seines Todes«. Die Wanderin nächtigt selber einmal unter einer Stiege, wohl wissend um die Legende. Dieses Motiv hatte Handke schon in Die Lehre der Sainte Victoire und später in der Morawischen Nacht gestreift. Natürlich entdeckt der genaue Leser (ein Pleonasmus) auch Handkes Kinoheilige (John Ford, Robert Bresson, Maurice Pialat, wer findet mehr?).

Peter Handkes Obstdiebin ist Reise-, Landschafts-, Naturerzählung und auch – vor allem? –Familiengeschichte, und zwar eine, wie Handke betont, wie es sie so noch nie gegeben hat. Und, so möchte man hinzufügen, wie sie auch Handke, der zuletzt, aber nicht nur, in Immer noch Sturm der Familie seiner Mutter ein großartiges Denkmal gesetzt hatte, noch nicht geschrieben hatte. Am Ende treffen sich wie selbstverständlich Obstdiebin, »Amateuranthropologe« (Vater),  »Entscheidungsfreudige« (Mutter) und der 15jährige Wolfram, der sie wie selbstverständlich erwartet und es gibt ein Fest, das den schläfrigen Ort belebt und den Zusammenhang festigt. Alles fügt sich wie selbstverständlich zusammen – und das ist anders als im Bildverlust oder der Abwesenheit. Eindeutig wie selten zuvor zeigt sich Handke als »ein am möglichen Guten festhaltender Autor«, wie Tanja Angela Kunz dies neulich in ihrem beachtenswerten Buch »Sehnsucht nach dem Guten« schlüssig herausgearbeitet hatte. Und beim Lesen vom »Streunen und Stromern« Alexias und all den Verwandlungen möge man Muße und Geduld haben für all die Pretiosen (der Gottesdienst!, die alternde Lehrerin!, die Platzsuche in einem leeren Lokal!), die es in dieser großen Erzählung so reichhaltig gibt.

Artikel online seit 29.11.17
 

Peter Handke
Die Obstdiebin
oder Einfache Fahrt ins Landesinnere
Suhrkamp
Leinen, 559 Seiten
34,00 €
978-3-518-42757-6

Leseprobe


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Erzähler, Leser, Träumer.

Begleitschreiben
zum Werk
von Peter Handke
mit einem Vorwort von Klaus Kastberger
Mirabilis Verlag 2017
224 Seiten
38,- €
978-3-9818484-1-0


 


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