Ein Grenzgänger zwischen verschiedenen Welten ist der junge Oberleutnant John
Glueck. Als Deutsch-Amerikaner aus der Bronx schwärmt der Offizier im
Departement für Psychologische Kriegsführung für die deutsche Kultur und
Literatur. Ja, er beherrscht sogar den kölnschen Dialekt, den ihm sein
rheinischer Großvater beigebracht hatte, und foppt damit später an der Front
eine Reihe waschechter Nazis. Dann aber ist Glueck auch ein Anhänger von
Franklin Delano Roosevelt. Als Kind bewunderte er dessen väterliche
Kamingespräche und später dessen politische Agenda, die Welt von allen
Diktatoren und Kolonialisten zu befreien. Trotz seines amerikanischen
Patriotismus bleibt Glueck ein Entwurzelter. Nirgendwo hält es den angehenden
Romancier auf der Suche nach dem ultimativen Romanstoff besonders lange. Von
London zieht es den Propaganda-Offizier Ende August 1944 in das gerade von den
Deutschen befreite Paris, wo er seinem großen literarischen Vorbild Hemingway
näher kommt, als ihm lieb ist. Der weltberühmte Autor entpuppt sich als ein dem
Alkohol und der Gewaltigtätigkeit verfallendes Wrack auf der verzweifelten Suche
nach dem großen Kriegsthema.
Doch an die Front wagt sich die verblassende Dichterikone nicht mehr –
jedenfalls im Roman - und so flieht Glueck ernüchtert aus der Stadt der Lichter,
reist allein in den finsteren
Hürtgenwald, wo kurz hinter der deutschen Grenze der sommerliche Siegeslauf
der Amerikaner vorerst von der Wehrmacht gestoppt werden konnte. In den
regennassen Kiefernwäldern beiderseits der Kall mutiert Glueck an der Seite
eines kernigen US-Sergeanten, der sich als durchaus nicht assimilierter Irokese
aus dem westlichen Pennsylvania entpuppt, zum Grenzgänger zwischen den Fronten.
Anders als seine Vorfahren erleichtert die Rothaut im modernen Olivdress jedoch
nicht mehr britische Rotröcke in den Urwäldern von Ohio um ihre Kopfhaut,
sondern sammelt jetzt eifrig Naziskalps im Hürtgenwald. Auf ihrer letzten
gemeinsamen Tour stößt das ungleiche Paar zwar nicht auf die großen Seen, wohl
aber auf das angestaute Wasser des Rurtalsees, von dem die Amerikaner bisher
keine Ahnung hatten.
Glueck bezahlt seine Entdeckung nun ebenfalls mit einem Teil seiner Kopfhaut,
der Irokese lässt ihn halb skalpiert und in deutscher Uniform zurück, um die
Chancen seiner Rückkehr zu den eigenen Linien zu erhöhen. Der geschundene Glueck
kann tatsächlich die Deutschen täuschen, ermordet außerdem noch einen alten
Bekannten mit einem angespitzten Bleistift und erlebt, für einen Grenzgänger
nicht übermäßig erstaunlich, in raschem Wechsel der Fronten auf beiden Seiten
die unglückselige Allerheiligenschlacht um Schmidt und Kommerscheidt.
Mit mehr als genügend Erzählstoff kehrt der Offizier an seinen Londoner
Schreibtisch zurück, entschlossen, seinen großen Kriegsroman zu schreiben, von
dem er seit seiner Studienzeit geträumt hat. Die Ruhe dazu findet er jedoch auch
später als Besatzungsoffizier in München nicht. Die Flucht scheint überhaupt das
stete Schicksal von Kopetzkys Protagonisten. Aus der Bayernmetropole mit ihren
zahllosen Vorzügen für gewitzte Besatzungssoldaten zieht es John Glueck schon
nach kurzer Zeit in seine vermeintliche Heimatstaat New York zurück, nur um kurz
darauf, ausgestattet mit einem üppigen Stipendium, nach Kalifornien zu gehen, wo
er zwar immer noch nicht seinen großen Kriegsroman zu Papier bringt, wohl aber
eine Doktorarbeit ausgerechnet über die militärische Führungskunst des deutschen
Heeres.
1971 hat es Glueck dann an die Seite eines amerikanischen Generals in Vietnam
verschlagen. Als ihm jedoch klar wird, welchen Krieg sein Land in Südostasien
führt und er erkennt, dass inzwischen das moderne Amerika kaum noch mit dem
Amerika seines Idols Roosevelt zu vergleichen ist, verlässt er angewidert und
fluchtartig das Hauptquartier des genozidalen Militärs. Seine abenteuerliche
Reise in einer Rikscha nach Saigon endet jedoch mit einem brutalen Unfall, der
seinen vietnamesischen Chauffeur das Leben kostet und ihm selbst die heile Haut.
Glueck muss tagelang in einer mit Kriegschemikalien verseuchten Grube zubringen,
ehe ihn Landsleute aus seiner misslichen Lage befreien. Danach fällt ihm die
Haut in Fetzen vom Körper. Doch für den fünfzigjährigen
»Anywhere«
Glueck, der sich inzwischen in seiner Rolle als alter weißer Mann sichtlich
unwohl fühlt, ist der partielle Verlust seiner weißen Pelle, dem Kainsmail der
zukünftigen New World-Order zwar unangenehm, aber keine Katastrophe. In die
Vereinigten Staaten zurückgekehrt, wird Glueck in die
Veröffentlichung der so genannten Pentagon-Papers verwickelt, was den
ehemaligen amerikanischen Patrioten plötzlich zum Staatsfeind macht und ihm eine
mehrmonatige Untersuchungshaft im Staatsgefängnis von Missouri einbringt. Erst
in der feuchtheißen Zelle gelingt dem ewigen Unruhegeist dann auch der Einstieg
in seinen Kriegsroman, den er unter den misstrauischen Augen einer dicklichen
Staatsanwältin nunmehr zügig zum Abschluss bringt.
Gluecks Intermezzo im Gefängnis bildet dann auch Kopetzkys Haupterzählstrang, in
den sich alle anderen Handlungsfäden mehr oder weniger einfügen. Sein Roman ist
im Ansatz solide konstruiert und weist etliche starke und erzählerisch dichte
Partien auf, wie etwa Gluecks Begegnung mit einem Truppenarzt der Wehrmacht im
nächtlichen Hürtgenwald. Phasenweise liest sich sein Buch wie eine Mischung aus
John Toland und James Fenimor Cooper mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf dem
Krieg in Europa. Gluecks Erlebnisse in Vietnam dagegen behandelt Kopetzky nur
sehr oberflächlich, was seinen Roman, der ja einen Bogen zwischen beiden Kriegen
spannen will, um den Gegensatz von gutem und bösem Amerika hervorzuheben, in
eine starke Schieflage bringt. Noch bedauerlicher ist freilich, dass Gluecks
viel zu lange Monologe und vor allem sein seitenlanges Plädoyer vor Gericht über
die jüngste Entwicklung der amerikanischen Politik, die in ihrer Political
correctness bestenfalls anachronistisch sind, manche Leser wiederholt auf eine
harte Probe stellt. So dürfte etwa ein weißer Amerikaner im Amerika des Jahres
1944 kaum einen modernen linken Kampfbegriff wie das Wort »Rassismus« verwendet
haben. Auch gibt sich Kopetziky mit seiner Invektive auf Senator McCarthy wenig
Mühe, den Subtext zu kaschieren. »Was würde passieren, so lässt er seinen
Protagonisten im Gerichtssaal fragen,
»wenn
jemand wie McCarthy – ein paranoider, psychopathischer, Lügen verbreitender
Mensch – eines Tages Präsident und damit der Herr unseres Atomarsenals würde?«
Zu stark erinnert die Passage dann doch an das in deutschen Medien inzwischen
übliche Trump-Bashing. Kopetzkys ständige Versuche, literarisch nur flüchtig in
die Handlung eingepasste Standpunkte des aktuellen Mainstreams in seinen Roman
unterzubringen, lassen den vom Autoren oder vom Verlag gewählten Titel
»Propaganda« jedenfalls in einem überraschenden Licht erscheinen.
Artikel
online seit 09.09.19
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Steffen Kopetzky
Propaganda
Roman
Rowohlt Berlin 2019
496 Seiten
25,00 €
978 3 7371 0064 9
Leseprobe
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