Das Buch mit dem Titel »Kanaillenkapitalismus«, der Beschimpfung, Anklage und
Kampfansage anklingen lässt, ist ein Werk, das sich nicht so ohne weiteres dem
Leser erschließt, denn schon im Prolog des spanischen Soziologen César Rendueles
erfährt man zwar viele interessante Dinge, aber wie sich diese in der eher
assoziativen Vorgehensweise des Autors einfügen lassen, wie er sein Buch gerne
verstanden wissen will, worauf er hinaus will, was seine These ist, all das
also, was man vom Autor in der Vorbemerkung erwartet, wird man nicht wirklich
finden.
Stattdessen die im Hintergrund mitschwingende Ansage, dass eine ausgefeilte
theoretische Kritik am Kasinokapitalismus nutzlos ist, wenn wir uns nicht von
der uns »lähmenden Unterwürfigkeit befreien«. Vielleicht weil die Bedingung der
Nützlichkeit nur unzureichend gegeben ist, wendet er sich einer Art Experiment
zu, nämlich »mit Fragmenten der Fiktion die Spuren realer Prozesse zu
rekonstruieren, die sich im LSD-Rausch des zeitgenössischen Kapitalismus
verflüchtigt haben«. Aber nicht nur die Wortwahl (Fragmente, Spuren,
verflüchtigen) weist darauf hin, dass hier etwas verhandelt wird, das alles
andere als gesicherte Erkenntnis ist, auch die Interpretation der benutzten
literarischen Texte ist »rein subjektiv« und die autobiografischen Fakten
spiegeln laut Autor nur das wider, was sich in seinem Kopf zugetragen hat. Damit
zumindest gaukelt der Autor mit Sicherheit nichts vor, was er möglicherweise
nicht einhalten könnte, und tatsächlich bleibt manchmal unklar, wie sich seine
autobiografischen Anekdoten in die »fiktive Chronik der politischen Dilemmata
unserer Zeit« einfügen lassen.
Dennoch ist sein Ansatz, wie sich in Romanen, Lyrik und Theaterstücken –
wenngleich die Auswahl willkürlich und subjektiv ist – die kapitalistische
Evolution widerspiegelt, nicht nur aufschlussreich und spannend, sondern man
entdeckt immer wieder verstreut umherliegende Kleinode der Erkenntnis, und das
ist manchmal ja vielversprechender als eine kohärente Theorie. Rendueles
versteht es immer wieder, den Blick auf brisante und unerwartete Zusammenhänge
zu lenken, wobei er nie den geringsten Zweifel daran aufkommen lässt, dass er
leidenschaftlich einen Kapitalismus ablehnt, der in all seinen diversen
Ausformungen Elend und Mord hervorgerufen hat, verantwortet häufig von
Herrschenden, die sich nicht nur von Habgier und Macht leiten ließen, sondern
die mit einem gewissen historischen Abstand nur als schwachsinnig eingestuft
werden konnten.
Das klassische und gut dokumentierte Beispiel ist Leopold II., dessen Herrschaft
mehr als zehn Millionen Kongolesen das Leben kostete, weil die imperialen Mächte
1884 auf der Berliner Konferenz Afrika unter sich aufteilten und der Freistaat
Kongo als persönliches Eigentum des belgischen Königs anerkannt wurde. Und die
zunächst harmlose Anekdote von einem schottischen Tierarzt, der für das Dreirad
seines Sohnes luftgefüllte Gummischläuche erfand, damit das Gefährt nicht so
einen Krach machte, ebnete den Weg in die Katastrophe.
Der Name des Erfinders war John Dunlop und seine Schläuche lösten einen
Kautschukboom aus mit dramatischen Folgen für Millionen Menschen nicht nur im
Kongo, wo Leopold II das Land in eine Monokultur verwandelte, und das auf
äußerst brutale Weise. Die Saturday Review berichtete damals unter Berufung auf
Augenzeugen von einem »System der Peinigung« und davon, wie ein »gewisser
Kapitän Rom … seine Blumenbeete mit Köpfen ermordeter und enthaupteter
Eingeborener zu schmücken pflegte«. Für den polnischen Schiffskapitän Józef
Korzeniowski war das nichts Neues, denn er hatte zehn Jahre zuvor bei einem auf
die Förderung von Kautschuk und Elfenbein spezialisierten Unternehmen
angeheuert. Acht Monate lang war er mit einem Boot auf dem Kongo gefahren und im
Urwald mit einer gespenstischen, irrealen Welt konfrontiert, die er dann unter
dem Namen Joseph Conrad in dem Roman »Herz der Finsternis« beschrieb. Er machte
in Europa eine Geisteshaltung aus, wie sie in Mr. Kurtz zum Ausdruck kam:
»Rottet sie alle aus, die Tiere!«
Auf ähnliche Weise spürt Rendueles der Realität in Célines »Reise ans Ende der
Nacht« nach, er lässt Ilja Ehrenburg in seinem Roman »Die ungewöhnlichen
Abenteuer des Julio Jurenito« die wachsende Unordnung in Europa erzählen, es
tauchen Ernst Jüngers »In Stahlgewittern« auf, Remarques »Im Westen nichts
Neues« (es fehlt allerdings Amblers »Die Maske des Dimitrios«) und er geht der
Frage nach, warum der unglaublich tröge Roman »On the road« von Jack Kerouac so
großen Erfolg hatte. Auch Sue Townsends »Adrian Mole« kommt vor, der uns deshalb
so komisch erscheint, weil er sich als Versager auf absurd lächerliche Weise den
Anforderungen des im Thatcher-England gepflegten neoliberalen Lebensstils
anzueignen versucht. Und hier wird vielleicht besonders deutlich, wie im Prozess
der neoliberalen Globalisierung »99 Prozent von uns freiwillig die Kontrolle
über unser Leben an Fanatikern abgetreten haben, die einer wahnhaften
Wahrnehmung der sozialen Realität unterliegen«. Angesichts des Klimawandels und
der Flüchtlingsströme fällt es einem schwer, dieser Diagnose zu widersprechen.
Was große Literatur, die hier von Rendueles verhandelt wird, von den im üblichen
Strickmuster fabrizierten Bestsellern unterscheidet, dass wir in ihr mehr oder
weniger bewusst erkennen, was uns quält, weil sie beim Leser eine Saite zum
Schwingen bringt, deren Klang wir so schnell nicht vergessen.
Artikel
online seit 16.06.19
|
César Rendueles
Kanaillenkapitalismus
Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien
Marktwirtschaft
Aus dem Spanischen von Raul Zelik
edition Suhrkamp 2018
18,00 Euro
Leseprobe
|
|