Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Einmal lebt' ich in der Hölle

Richard Billingham setzt seinen Eltern »Ray & Liz«
ein eigenartiges filmisches Denkmal

Von Wolfram Schütte
 

Jedem hiesigen Kinogänger wäre es so oder so ähnlich gegangen wie mir, als ich mit dem britischen Film »Ray und Liz« von  Richard Billingham konfrontiert wurde - & mich fragte, was ich da eben Irritierendes gesehen & gehört hatte. Im klassischen Gutenberg-Zeitalter wären wir alle auf den Mitteilungswillen des  Deutschen Verleihs angewiesen gewesen, um etwas über den Film & seinen Macher zu erfahren.

Die glücklicherweise untertitelten Originalfassung, die in wenigen deutschen Kinos läuft, »verdankt« sich wohl der pessimistischen Erwartung des deutschen Verleihs, für dieses englische Filmdebüt nur wenige deutsche Zuschauer finden zu können, also nur Cinéasten, hartgesottene zudem müssen es sein. Denn der Regisseur konfrontiert den Zuschauer mit schockierenden Lebens-Bildern aus dem britischen »Lumpenproletariat« während der Thatcher-Ära.

Alles, was ich über den Film & seinen Regisseur jetzt weiß (& hier im Folgenden  mitteile), stammt aus dem Internet. Ich erwähne das nicht nur, um die neuen Modalitäten einer professionellen Filmkritik heute offenzulegen, sondern auch, um darauf hinzuweisen, wie substantiell oder notwendig zum Verständnis, bzw. zur Intention von Billinghams (Farb-)Film »Ray & Liz« doch alle diese »Hintergrund«-Informationen als ein orientierendes Vorwissen sind. Ohne sie sähe man wahrscheinlich einen komplett anderen Film.

Ich frage mich, ob das nicht generell auf jeden (speziell: fremdländischen) Film zutrifft. Wahrscheinlich. Es ist nie falsch oder verfälschend für die Rezeption eines ästhetischen Gegenstands, wenn man von & über ihn mehr weiß, als was er an & von sich preisgibt oder offeriert –  & bei dem photographischen Medium erst recht, weil bei ihm die Frage Dokumentation oder Fiktion oft prekär ist oder so erscheint oder sogar ununterscheidbar bleibt, sofern nicht Zusatzwissen jenseits des Objekts definitorische Fixierungen erlaubt.

Für »Ray & Liz«  trifft die Notwendigkeit solchen Vorwissens besonders zu, weil seine ästhetische Erscheinung & die ethische Haltung ihres Schöpfers zu den Personen & ihrer Darstellung vieldeutig  sind.

Richard Billingham hat sich zuerst als Photograph einen Namen  gemacht & zwar offenbar durch schockierende Bilder seiner armseligen Eltern Ray & Liz, die in Birmingham jahrzehntelang als Sozialhilfeempfänger am untersten Rand der britischen Gesellschaft lebten. Ich kenne diese Bilder nicht, habe jetzt nur im Netz offenbar Zitate daraus gefunden. Offensichtlich sollten & wollten diese Fotografien nicht als soziale Anklage verstanden werden. Sie machten aber den aus der Art geschlagenen Sohn weltberühmt, und zwar gerade wegen des intimen Sujets & der Impassibilité (Flaubert), um nicht zu sagen brutalen Rücksichtslosigkeit, mit der der Künstlersohn die von Alkoholismus oder Übergewichtigkeit körperlich gezeichneten Eltern fotografsch fixiert hatte. Offensichtlich waren Richard Billinghams Fotos nichts, was sich etwa z.B. mit  Dürers Kohlezeichnung seiner todkranken Mutter ästhetisch vergleichen ließe. Nach diesem spektakulären Debüt, lese ich, hat der Photograph sich vornehmlich der Landschaft als Sujet zugewandt – was immer das für seine Kunst bedeuten mag.

Nun aber hat Richard Billingham einen Film gemacht, seinen ersten & ich bin nicht sicher, ob es nicht auch sein letzter sein wird. Denn das auffällig-irritierende Filmdebüt beutet künstlerisch erneut aus, womit er als Photograph einmal spektakulär berühmt geworden war: Das hässliche Elend seiner Familie.

Die imaginierte Rekonstruktion seiner Kindheit in äußerster sozialer Armut, Brutalität & Häßlichkeit blättert der Film vor uns auf wie das Foto-Album einer fremden, befremdlichen britischen Familie des englischen Lumpenproletariats – eines Foto-Albums, dessen Bilder aus  beengten, katastrophalen sozialen Lebensverhältnisse zu vitalem Leben erwachen.

Umrahmt von dem immer gleichen Ritual, mit dem der alte Vater Ray in dem winzigen Zimmer eines Hochhauses sich den Rotwein aus der Plastikflasche glasweise einflößt & sich dann, nach einem Blick aus dem von Regentropfen beschlagenen Fenster, auf sein Bett zurückbeugt, um zu schlafen, entfaltet Richard Billingham intensive, groteske Erinnerungs-Fragmente aus einer Zeit, als Ray noch nicht - verlassen von allen – sich langsam, einsam & stoisch zu tode soff.

Es sind lakonische »flashbacks«, zwischen deren klaustrophobischen Verdichtungen einer erzählerischen Minimal-Art immer wieder, kontrapunktisch, menschenleere Landschaftsbilder einmontiert werden: Mementos des Eingedenkens, Augenblicke des Atemholens in der »zärtlichen Gleichgültigkeit der Natur« (Camus)?

Es war die Zeit, als Ray - gerade erst »freigesetzt« – noch  am Beginn seiner finalen Langzeitarbeitslosigkeit mit seiner Frau Liz, seinen Söhnen Richard & Jason, Kanarienvogel & Hund & dem Untermieter Loi in einer engen Altbauwohnung zusammenlebt, in der die krötenhaft fette, ewig rauchende Liz ihre Puzzles legt & zugleich die Wohnung vermüllt. Die Zimmer der Wohnung, die darin vorhandenen Gegenstände (wie Fernsehapparat, Bilder, Nippes), die Kleidung von Liz etc.: alles spielt (wie in einem malerischen Stillleben) seine deutungsreiche Rolle & wird manchmal demonstrativ von der Kamera hervorgehoben. Ebenso wichtig wird eine Fliege genommen, deren Landeplätze wie poetische Satzzeichen in der evokativen Erzählprosa von »Ray & Liz« fungieren.

Eines Tages macht sich der »halbstarke« Loi einen makabren Spaß: Er traktiert den zur Beaufsichtigung des babyhaften Jason von den abwesenden Eltern beauftragten naiven Onkel Lawrence mit den gehorteten Schnapsvorräten, in die der Alkoholiker Ray die Abfindung bei seiner beruflichen »Freisetzung« umgesetzt hatte. Der in kürzester Zeit »abgefüllte« Onkel, verfällt auf dem Sofa als veritable Schnapsleiche in einen todähnlichen Tiefschlaf. Daraus kann ihn auch nicht die an ihm sich mit Tätlichkeiten austobende Wut von Liz erwecken, die ihn, resp. seinen bewusstlosen Körper strafend mißhandelt; nur der häusliche Hund hat seinen Gefallen an dem von dem Betrunken ausgekotzten Mageninhalt. Das dürfte Zeugnis eines spezifisch britischen Humors sein, dessen brutalen Witz man z.B. aus Hogarth´  Kupferstichen »The rake´s progress« u.ä. kennt.

Eine andere Episode erzählt davon, wie der nun zum Schuljungen erwachsene Jason fast erfroren wäre & dadurch das Glück hat, von den Sozialbehörden der elterlichen Verwahrlosung entzogen & einer Ersatzfamilie zugewiesen zu werden – während sein älterer Bruder Richard vergeblich die Behörden bittet, auch aus der elterlichen Hölle befreit zu werden. Offenbar dürfen wir in seiner (film-)traumatischen Beschäftigung mit Kindheit & Jugend unter den wenig liebevollen Fittichen seiner Eltern  Ray & Liz  dieser endgültigen Verabschiedung mittels eines Kunstwerks beiwohnen. Es ist ästhetisch & moralisch ebenso ambivalent wie die verstörenden dokumentarischen Kinowelten des Österreichers Ulrich Seidel.

Gelegentlich wurde auf die geistige & politische Ferne Billinghams zu seinen erkennbar gesellschaftskritischen Kollegen, dem Briten Ken Loach oder den belgischen Ardenne-Brüdern, hingewiesen, die sich ja alle mit ihren Arbeiten bewusst im nicht-, bzw. unbürgerlichen Milieu der Arbeiterklasse erzählerisch bewegen. Mir scheint aber, dass Richard Billingham & sein bizarrer Ästhetizismus zu den (vor allem in der Literatur häufig vertretenen) Künstlern zu gehören, die nur einmal & meist autobiographisch grundiert ganz bei sich sind & ihren eigenen künstlerischen Ausdruck nur in einem Werk gefunden haben (wie z.B. Karl Philipp Moritz in seinem Lebens-Roman »Anton Reiser« oder Giuseppe Tomasi de Lampedusa mit seinem »Il Gattopardo«). Richard Billinghams demonstrative autobiographische Reflexion, sein Film »Ray & Liz«, ist jedenfalls das seltsamste, schillernste Stück »schwarzer« Kino-Poesie, das uns aus Großbritannien bislang erreicht hat.

Artikel online seit 10.06.19
 

Ray & Liz
Von
Richard Billingham
Mit Ella Smith, Justin Salinger, Patrick Romer

 


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