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Ziemlich große Literatur

Einige Bemerkungen über den modernen Vagantendichter Dietmar Sous

Von Lothar Struck
 

Pünktlich zum 65. Geburtstag von Dietmar Sous ist ein Dietmar Sous Lesebuch Lesebuch mit insgesamt 28 Texten in der "Kleinen Rheinischen Bibliothek" der Nyland-Stiftung erschienen. Martin Willems, Mitarbeiter am Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf und einer der Kuratoren der Wolfgang-Welt-Ausstellung aus dem letzten Jahr in Düsseldorf, hat dazu ein kenntnisreiches Nachwort verfasst, in dem auch kurz auf den in Düsseldorf inzwischen eingetroffenen Vorlass des Autors rekurriert wird.

      Foto: © Privat

Das Lesebuch versammelt 28 Texte aus dem gesamten Oeuvre des in Stolberg geborenen Autors – mit einer Ausnahme. Ein Ausschnitt aus seinem Erstling, dem 1981 erschienenen Roman Glasdreck, der seinerzeit zu einer Art Geheimtip avancierte, fehlt.  Bis 2017 sind laut Biobliographie 15 Romane und Erzählungsbände von ihm in vier Verlagen erschienen (eine Taschenbuchausgabe in einem weiteren Verlag). Mit einer Ausnahme (Rowohlt 1990) blieb Sous bis 2008 im Rotbuch-Verlag. Dann ein Buch bei Albrecht Knaus und 2015 und 2017, die letzten beiden Romane, im Transit-Verlag.

Wenn man sich mit Dietmar Sous beschäftigt, kommt man nicht umhin mit Peter Hennings Einordnung des "deutschen Nick Hornby" konfrontiert zu werden. Solche Art von Denkmalbeschriftungen kleben von nun am Autor. Sie sind lästig und hilfreich zugleich. Schubladen für gestresste Kritiker. Bitte vergessen Sie es schnell wieder. Geben Sie Dietmar Sous eine Chance.

Das Lesebuch bietet einen chronologischen Einblick in Sous Werk. Bereits die ersten wortkünstlerischen, fast aphoristisch anmutenden Texte begeistern. Da wird beispielsweise ein sehr kurzer Lebenslauf entworfen, der eine Karriere als "Präservativtester" in Aussicht stellt. In einem anderen Text ist Gynäkologe der Berufswunsch des Erzählers. Oder es findet sich auf anderthalb Seiten eine historische Tour d'Horizon über "Aachen-Land" von 1950 bis 1972: "Unzimperlich die Leute hier, trinkfest, bedächtig, eigentlich herzensgut, Schützenbrüder, Betschwestern. Nicht gerade Widerstandskämpfer, aber den bekloppten Theo und die arme Adelheid haben sie lebend durch die braune Zeit gebracht."      

Skurriles wechselt mit Bodenständigem. Manchmal steht Monty Python Pate, wie bei der Erzählung über eine Wehrmachteinheit, die zusammen mit französischen Kriegsgefangenen Mitte Mai 1945 einfach weitermacht, einen Elefanten aus einem zerstörten Zoo brät und ein verrücktes Fußballspiel inszeniert ("Germania Endsieg" gegen "KdF Paris"), welches dann in einer wahren Blutorgie endet. Die meisten Geschichten sind aus einer imaginären Gegenwart, handeln von Haushaltsauflösern, störrischen Aushilfen, Männergrillen bei einem Fussball-Länderspiel oder erzählen eine Erinnerung an einen Tag im Jahr 1962 als jemand die Beatles entdeckte (und die Kuba-Krise überstand). Am Ende des Lesebuchs finden sich Ausschnitte aus den letzten drei Romanen Sweet About Me, Roxy und San Tropez.

Nach der Lesebuch-Lektüre setzte ich mit Roxy (2015) an. Der Ich-Erzähler Paul Weber (der später "Roxy" genannt wird) scheint dem gleichen Jahrgang wie Sous anzugehören. Das Buch spielt in den Jahren 1973 bis 1975; es gibt Rückblenden auf den Beginn der 1960er Jahre, als sich kurz nach der Einschulung Pauls Leseschwäche aufzeigte. Umso aufmerksamer hört er nachmittags den Schulfunk und entwickelt auf einigen Gebieten ein Spezialwissen, dass von seinen Mitschülern, aber vor allem von den Mitschülerinnen geschätzt wird. Paul macht keine Lehre, arbeitet als Hilfsarbeiter in einem Gartenbauunternehmen und später auf dem Bau. Er hat Probleme mit dem Kreiswehrersatzamt, kommt diversen Aufforderungen zur Musterung nicht nach und wird eines Tages vom Arbeitsplatz abgeholt. Die Mutter kümmert sich wenig um ihren Sohn, arbeitet viel, hat wechselnde Liebhaber und wünscht sich nichts mehr als einen Mercedes-Sportwagen, den sie mit "zehntausend Überstunden" schließlich erwerben kann. Paul hat andere Interessen: Musik und vor allem Frauen. Er erhält Nachhilfe von Zippi, einer Pro-DDR-Aktivistin, um seine Leseschwäche abzubauen. Mit Glück gelingt es ihm, in letzter Minute als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden. Als er auf der HNO-Station eines Krankenhauses seinen Zivildienst leistet, werden Held wie Roman ruhiger, die Beschreibungen nüchterner; manchmal getragen im Angesicht der Schicksale.

Der Erzählduktus von Roxy ist mindestens zu Beginn fast atemlos. Die Protagonisten hecheln durch ihr Leben, dem sie trotz diverser Widrigkeiten immer Positives abgewinnen können. In ähnlichem Tonfall schreibt Sous zwei Jahre später den Roman San Tropez (2017). Die Figuren sind jünger, die Handlung spielt zwar in den Jahren 2015/16, wird jedoch immer wieder durch 35 Jahre zurückliegende Ereignisse gebrochen. Der Ich-Erzähler Kalle ist ein erfolgloser Fussball-Regional- oder Oberligatrainer, der nach 28 Jahren Trainertätigkeit entlassen wird. Es ist seine Frau Helen, die das Geld verdient.

Kalle trifft seinen Freund Mitch wieder, mit dem ihn eine gemeinsame Zeit an der Schwelle zwischen Pop und Punk in den 1980ern verbindet. Erinnerungen an eine (katastrophal verlaufende) Urlaubsreise nach San Tropez werden wach, aber vor allem geht es um die Band, die mit den beiden, Otto, Benz und Holger (Spitzname "Frisör") die Musikgeschichte verändern wollte – und dann nur einmal in der Schulaula spielte. Mitch, der sich als Modeschöpfer, Playboy und Frauenversteher geriert, möchte in einem von einem Privatfernsehsender ausgelobte "Golden-Oldie-Ü50-Contest" die Truppe wieder aufleben lassen und das ausgelobte üppige Preisgeld von 500.000 Euro kassieren. Die Probleme sind jedoch scheinbar unüberbrückbar: Mitch ist grössenwahnsinnig, Kalle hat keine Lust, Otto ist tot, Frisör Alkoholiker und Benz A15-Beamter mit Frau und Kind.  

Der kryptische Beginn, in der Kalle von seiner Schuld am Tod zweier Menschen erzählt, ist im Gewimmel dieser komödiantischen Melange aus Erinnerung, Verklärung und Männerfreundschaft schnell vergessen. Der doppelte Boden wird erst im Laufe der Zeit spürbar. Man versteht dann die moralische Schuld, die sich Kalle gibt. Es hat mit Helen, der ehemaligen Freundin Ottos zu tun. Mehr zu enthüllen, wäre fatal.

Stattdessen ganz schnell zu Sweet About Me von 2008. Hier ist der Ich-Erzähler ein Musikjournalist; oberflächlich besser situiert als andere Sous-Protagonisten. Mit Frau Betty und der 15jährigen Maya, einem umtriebigen, tier- und umweltliebenden aber etwas spleenigen Mädchen, geht es in die Ferien. Zunächst ist alles nahezu paradiesisch; der Nordseeurlaub verspricht, ein voller Erfolg zu werden. Zu schön, um wahr zu sein. Und dann gibt es einen von drei Kippmomenten, die das Leben der Protagonisten jeweils irreversibel verändern.

Da ist dieses eine falsche Wort, welches die Tochter im Überschwang eines eigentlichen banalen Streits ihrem Vater entgegnet und was zu einer Überreaktion führt. Die Tochter verlässt darauf im Zorn das Ferienhaus, die beiden begegnen und versöhnen sich – und dann geschieht das Furchtbare: Maya läuft vor ein Auto, ist tot.

Der Schlag trifft das Paar, aber der Sound des Romans bleibt heiter. Erzählt wird, das merkt man irgendwann, aus grösserer zeitlicher Entfernung, was am Ende zu leichten Irritationen beim Leser führen wird. Das Paar bemüht sich erfolgreich um eine gleichaltrige Adoptivtochter in nahezu gleichem Alter. Aber Michelle kann mit Mayas Lieblingslied Sweet About Me von Gabriella Cilmi wenig anfangen und ist auch sonst anders. Die Familie weicht dann den Erinnerungen in ihrer Wohnung aus, zieht in ein Reihenhaus um, wobei die zunächst äußerst hilfsbereiten Nachbarn mit ihren beiden riesigen Hunden irgendwo zwischen Kumpel und Kneipenwirt changieren. Die beruflich in einer Art PR-Agentur tätige Betty wendet sich langsam einer Sekte zu. Der Ich-Erzähler verliert seine Einnahmequelle, weil sein Chef und Gönner abgetaucht ist. Immer mehr verlieren die beiden den Boden unter den Füßen. Da folgt der zweite Kippmoment: Als Michelle eine despektierliche Bemerkung macht, verliert Betty die Nerven und ohrfeigt sie. Nur mühsam kann ein Verfahren wegen Kindesmissbrauch abgewendet werden. Michelle geht zurück ins Heim, das Paar lebt sich immer mehr auseinander. Und dann der dritte Kippmoment – etwas einerseits furchtbares, andererseits für den Leser durchaus Reinigendes. Auch das soll natürlich nicht verraten werden.

Sous Helden sind Verlierer, aber sie scheitern nicht an der Welt, sondern in ihr und daher nie endgültig. In der Erzählung Haute Couture 2 im Band Schöne Frauen (2000) gibt es eine Art Typologie des Sous'schen Helden: "abgebrochene Ausbildungen zum Krankenpfleger, Fliesenleger und Steuerberatungsgehilfen, Rausschmisse beim Tiefbau und bei der Post". Auf seiner neuen Stelle wird er vom Chef mit den Worten "Wenn du es hier nicht packst, kannst du nur noch Leichenwäscher werden" begrüsst. In Sweet About Me kommt noch das Tragische hinzu: Der Unfalltod des Kindes. Bis zuletzt verschweigt der Erzähler seiner Frau seine letzte Begegnung mit Maya. Das Scheitern ist nicht mehr komisch, selbst dort, wo es sein soll, beispielsweise als er beim Fremdgehen in höchster Erregung eine Vase im Schlafzimmer der potentiellen Geliebten umstösst und damit die Sache sofort endet.

Sweet About Me ist untypisch für Sous. Der Sound aus Maulheldentum, Ironie und Leichtigkeit wirkt irgendwann schal. Nichts von dem, was in seinen anderen Romanen und Erzählungen die Figuren in der Welt hält, ihnen Halt bietet, funktioniert hier. Kein Fußball, kein Buddytum (hier ist sie sogar explizit negativ konnotiert). Selbst die Musik spendet keinen Trost. Musik und das Fest Weihnachten, letzteres zuweilen durchaus erinnerungsselig-besänftigender Haltepunkt für Sous' Protagonisten, wird zum Auslöser für den dritten Kipppunkt.

Auch die Manie von Sous' Helden (und natürlich von Sous selber), Listen von Filmen und Musikhöhepunkten aufzuschreiben, die wie Zeitzeichen die Erinnerungen anfachen und evozieren, helfen nicht mehr. Dabei sind es diese Listen, gut versteckt in diversen Büchern, die einen Soundtrack zur Sous-Lektüre liefern. Zum Beispiel "Die großen 8" als Fast autobiographischer Lebenslauf 2 (Lesebuch), die sich im Laufe der Geschichte verändernden ewigen Jazz-Favoriten (Roadmovie Jazz #3 in Filme mit Studentinnen und einer Hausfrau), "Filmfestspiele" (ebd.) oder "Meine 12 Lieblingslieder am 23. Dezember, 13 Uhr 02" (Sweet About Me; kurz vor dem "reinigenden" Ereignis). Musik als Religion. Ob Pop, später dann Punk, irgendwann Jazz - alles zu seiner Zeit, durch die Jahrzehnte hinweg. Musik drückt die damaligen Empfindungen aus, holt sie wieder zurück, nicht nur in der Erinnerung, sondern auch als Lebensgefühl. Natürlich gibt es auch Feindbilder, wie beispielsweise Chris de Burgh oder die Neue Deutsche Welle. Und manches ist wirklich komisch, zum Beispiel wie das Punkkonzert der Schülerband in San Tropez durch eine Roland-Kaiser-Einlage gerettet wird.

Spätestens hier muss ich die ursprüngliche Erzählung meiner Lesereihenfolge unterbrechen und zu Glasdreck kommen. Wie einige der frühen Bücher von Sous ist sein Erstling nur noch antiquarisch zu erhalten. Der Roman beginnt in den Karnevalstagen des Jahres 1952. Der Leser wird Zeuge der Zeugung von Brunno Mölldärs, der dann am 1. November geboren wird. Die Mutter ist Marie, so etwas wie die eiserne Jungfrau im Dorf. "Häßlich war sie nicht…sie war eher gar nichts". Sie wird am Faschingsdienstag von Drickes, einem Schürzenjäger und Prahlhans, "überfallen", "durcheinander gewirbelt" und geschwängert. In stark expressionistischen, dunklen, teilweise furchterregenden Bildern wird das Dorf, die "Schändung" Maries, die Unfähigkeit der Mutter zur Liebe und der Lebenshass der Grossmutter, der sich in der Behandlung Brunnos zeigt, erzählt. Das "Brutkastenäffchen" kommt irgendwann in den Laufstall; die Mutter ist verschwunden, der Vater tot. Brunno ist der Bastard, zurückgeblieben, gehänselt, gequält. Die Schule ist furchtbar. Schlüsselbunde fliegen durch die Unterrichtszimmer und es gibt die "Willensschulung", in der die Schüler leblos sitzend schweigen müssen, ansonsten hagelt es Strafarbeiten.

Es gibt nur eine Rettung: Es ist die Musik, die über das Radio ins Haus kommt. Die Beatles, dann die Rolling Stones, später die Plastic Ono Band und dann noch Joe Cockers "versoffenes, sensationelles Proletarierorgan". "Obwohl er die Texte der Lieder nicht verstand, verstand er jedes Wort". Brunno emanzipiert sich von der Enge im Dorf, erschliesst sich die Welt, "die Haare weltrekordlang". Er erfindet seine Traumwelt als Manager und Frontsänger, imaginiert seinen Vater herbei und entwickelt splatterhafte Phantasien. Anders ist die Welt im Dreck des Alltags im glasverarbeitenden Betrieb nicht auszuhalten. Dämpfe, die Nasenschleimhäute blutig scheuern und Augen dauertränend machen. Glasdreck unter den Fingernägeln. Brunno ist 17, 18, und schuftet für 3,87 Mark Stundenlohn.

Und ja, es gibt ein bisschen Klassenkampf im Buch, obwohl Brunno und sein Freund Will nicht so genau wissen, was das ist. Sie wenden sich an den SDS irgendwo, der Arbeiter rekrutieren möchte. Sie werden von den (nicht langhaarigen) Akademikern angeschaut wie Zootiere und wegen diverser Spaltungen um Vertagung ihres Anliegens gebeten. Später Brunnos erste Liebesaffäre mit einer Aktivistin (wirklich?). Auch bei den ansonsten verhassten Konservativen stimmt es nicht. Die letzten Zentrums-Mitglieder wollen in die CDU. "Herzinfarkterregt" wird darüber diskutiert. Fränz, der Wirt, hält noch zum Zentrum und gleichzeitig zu den Jungs. Mit seinem Tod endet ein Refugiumsplatz im Dorf. Brunno ist einer seiner Sargträger.

Glasdreck erinnert ein wenig an die österreichischen Anti-Heimat-Bauernromane der 1970er/80er Jahre. Aber Sous ist kein Schreiber eines politisch oder sozial geprägten Neo-Realismus. Auch eine Selbstviktimisierung bleibt aus; es gibt in Glasdreck keinen Ich-Erzähler. Sous klagt nicht an, vertraut auf die Kraft der bilderhaften Sprache, des Erzählens. Er verfasst ein expressiv-furioses Sitten-, Milieu- und Zeitgemälde des Lebens von den 1952 bis 1969 in einem Dorf irgendwo im Aachener- oder Rheinland. Dabei ist das Lokalkolorit Kulisse; Sous erzählt zwar aus seiner Region, ist aber kein Heimatdichter (und auch nicht das Gegenteil).

Aber auch die Musik und der Musikbetrieb werden befragt. Als Brian Jones, einer der Gründer der Rolling Stones, 1969 stirbt, verklärt ihn Brunno als "härtesten und brutalsten Rolling Stone", als "einer von uns". Sein Freund Will ist da weiter: "Der Brian Jones hat doch nur gepraßt! Ersoffen ist der doch im Geld! […] Ausbeuter war der!" Der Hauptfeind der guten Musik ist – das scheint früh festzustehen - der Kommerz. Und diejenigen, die ihm auf dem Leim gehen. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch Sous' Texte: Die Korruption durch Macht, Ruhm, Geld. In Die Schwester des Kameramanns (aus dem Band Filme mit Studentinnen und einer Hausfrau von 2006) schwärmt ein Hundebesitzer bei Miles Davis-Musik von Woodstock 1967 und das er fünf Jahre seines Lebens dafür geben würde, damals dabei gewesen zu sein. Als das Gegenüber auf die nicht enden wollende Schwärmerei mit einem "So'n Quatsch" und "Reine Geschäftemacherei war's und die dämlichen Hippies sind darauf reingefallen" entgegnet, versetzte der lächelnde Woodstock-Mann seinem Gegenüber die unmissverständliche Ansage, dass dreißig Sekunden Zeit habe "um zu verschwinden. In genau einunddreißig Sekunden stech ich dich ab, du Sau." 

Das Hören, der Genuss, von Musik ist reserviert für besondere, intime Augenblicke. "Ich ging mit Musik nicht um wie mit einem Kaugummi, das man nach einiger Zeit einfach ausspuckt. Von Songs, die mich vom Hocker hauten, hielt ich mich fern. Ich wechselte sofort den Sender, lief notfalls mit zugehaltenen Ohren vor ihnen weg. Ich versuchte, sie mir aus dem Kopf zu schlagen. Sie sollten einmalig bleiben. […] Und wenn ich mir dann einen dieser Songs anhörte, musste ich mit mir allein sein. Niemand sollte dazwischenquatschen, sagen 'Ganz gut, aber nicht überragend'". Eine Art von Manifest (aus Sweet About Me).

Sous ist ein Meister im Erzeugen von Stimmungen in und mit wunderbaren Bildern. Etwa von Laubbäumen, die sich wie Sonnenschirme spreitzten. Mädchen, die wie "Audrey Hepburn ohne Magersucht" aussahen und "Gänsehaut auf den Zähnen" hatten. In den Arbeitspausen werden Bierflaschen "skalpiert" und Alkoholpfützen sammeln sich zu einem Teich auf dem Tisch. Nachschub gibt es im "Onkel-Emma-Laden". Ein Mensch "fand einen Radiosender mit einem Musikprogramm für einsame Handelsvertreter in schäbigen Hotels."

Einen roten Faden in seinen Erzählungen bilden die zahlreichen olfaktorischen Wahrnehmungen. Düfte sind Sensoren für Atmosphären. "Im Treppenhaus roch es nach Seifenlauge und Freitagsfisch" oder, ein andermal, ist es eine "Mischung aus Blumenkohl, Bratfisch und Kettenrauch", im Krankenhaus nach "Krebs und Klößchensuppe". Anderswo "süßlich nach…Rasierwasser und Geschwätz". Sauerbratenduft in einer Kneipe, "wie Weihrauch in der Kirche". Ein frisch gemähter Rasen duftete besser als das Parfüm von Dior und Chanel. Man mag sich die Kneipe nicht vorstellen, in der es nach "Sauerkraut und Klosteinen" roch, weiß aber sofort, was gemeint ist. Zuweilen gibt es auch Landschaftsdüfte: "Die Hopfenfahne der nahen Brauerei mischte sich mit dem Zartbitter der Schokoladenfabrik schräg gegenüber." Oder Duft und Musik werden assoziativ miteinander verbunden. Der Song "Merry XMas Everybody" von Slade "roch nicht nach Lebkuchen und Weihrauch, sondern nach Weihnachtsfeier im Fußballvereinsheim, Unmengen Bier und Rudelficken."   

Dabei spielt Sex in Sous' Texten eine eher untergeordnete Rolle. In der Erzählung Happy End kommt der Protagonist einige Stunden früher nach Hause und hört das Stöhnen seiner Frau beim Sex mit dem Nachbarn. Es gibt jedoch keine Szene; er verlässt die Wohnung wieder und geht in eine Kneipe. Die männlichen Ich-Erzähler, oftmals burschikos-rüde auftretend, sind zumeist schüchtern und versuchen zunächst einmal die Aufmerksamkeit von Frauen zu erlangen. Meist sind für sie die "richtigen" Frauen unerreichbar, zuweilen wird man an die Minne erinnert. Prägnantes Beispiel dafür ist, wie die Hauptfigur in Sweet About Me seine Frau Betty kennenlernt und förmlich umgehauen wird. Im 2000 erschienenen Erzählband Schöne Frauen (Untertitel: Ein rheinischer Reigen) setzt Sous in 15 kurzen Erzählungen in seinem Sinne Frauen eine Art von Denkmal. Seien sie Abwesende oder Mannequins eines Hochstaplers, der sich als Modeschöpfer inszeniert, Prostituierte, Liebende mit Pornofilm-Vergangenheit (oder gar –gegenwart?) oder einfach nur eine liebestolle Filialleiterin.

Sous' Protagonisten – ob Frauen oder Männer - wissen von der Rarität des Glücks aufgrund ihrer (Er-)Lebenserfahrung. Sie suchen unverdrossen weiter; selten werden sie belohnt. Nie wird man dieses wie beiläufig eingestreute Bild aus San Tropez vergessen, wenn Kalle von seiner Mutter erzählt, die endlich ihr Lebensglück, einen neuen Partner, mit dem alles zu funktionieren schien, gefunden hatte und mit ihm nach La Valetta fuhr, weil der Klang des Ortes so schön ist. Dort lag sie dann plötzlich, mit 46 Jahren, tot im Bett. Sie "war im Schlaf gestorben, an einer Überdosis Glück."

Meist fangen soziale Kontakte in Verbindung mit Alkohol und Musik die Durchhänger und Pechsträhnen auf. Eine Art von Trost liegt im Glauben an die Unausweichlichkeit eines Schicksals, einer unabänderlich bestimmten kausalen Kette. Eingriffe sind eh' zwecklos. Die Frage, was gewesen wäre, wenn man nicht gerade in diesem Moment an jeden Ort gestanden hätte, ist nur kurz Gegenstand einer Reflexion. Was zählt ist das Jetzt.

Dieses Eingeständnis des Fatums als dominantes Lebenselement darf nicht mit Ohnmacht oder gar Fatalismus verwechselt werden. Selten ergreift die Figuren von Sous Melancholie, zu beschäftigt sind sie mit der jeweiligen Gegenwart. Depression kennen sie nicht. Aber was bleibt ist häufig eine Form subkutanen Schuldempfindens. Handeln bedingt immer Auswirkungen, Reaktionen. Nicht selten enden sie direkt oder indirekt im Tod einer Figur. Dabei ist selten eine direkte Schuld im strafrechtlichen oder moralischen Sinn festzustellen. Wie beim Sänger und Alleinunterhalter in Tournee, der vor "abgekämpften Omas, Tanten und Alleinerziehenden" und "intakten Familienmüttern, die Drei- bis Siebenjährige mit Schokoladenkeksen und Lebensweisheiten fütterten" auftritt. Erstmalig, wie der Kulturreferent der Stadt bemerkt, ohne Frau. Später erfährt man, warum. Sie hat sich von ihm getrennt, nachdem sie ihn bei einem Auftritt öffentlich beschuldigt hatte, sie zur Abtreibung ihrer Zwillinge gezwungen zu haben. 

Das Timbre des Sous'schen Erzählens ist mit Lakonik nur unzureichend charakterisiert. Es changiert zwischen Boulevard, Situationskomik und Ernsthaftigkeit. Leben als dauernder Aufbruch. Sous' Figuren sind Chaoten, Möchtegernanarchisten, Eigenbrötler oder von allem etwas, aber ohne die poliert-verkopfte Kauzigkeit, die einem beispielsweise bei Clemens J. Setz entgegenschlägt oder in den wohltemperiert gestrickten Erinnerungsmützchen eines Andreas Maier.

Sous' Protagonisten sind keine Intellektuellen; Rekurse auf Literatur kommen selten vor. Das Vertrauen in das Schriftliche ist begrenzt. Der Ich-Erzähler in Sweet About Me, der Musikkritiken schreibt, wird von seinem Chef auf Sanftheit verpflichtet – es sind Rücksichten zu nehmen auf Anzeigenkunden oder den Geschmack des Herausgebers. Er hat damit keine Probleme. Als er auf einen Musikstar für ein Interview endlos warten muss, erfindet er es einfach, um den Redaktionsschlusstermin einzuhalten. Man kennt das inzwischen (auch Peter Henning).

Von Glasdreck bis San Tropez zeigt sich in Sous' Prosa auch die Mentalitäts- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik der letzten 40 Jahre. Dabei ist erstaunlich wie frei im Roxy-Roman von 2015 die 1970er Jahre geschildert werden – und dies trotz der Wehrdienst-Verwicklungen des Titelhelden. Selbst das Leben in der WG Pauls, dieses aus heutiger Sicht eher furchtbare Setting mit einem Schlafzimmer, welches nur durch eine Spanische Wand von der Toilette getrennt ist, versprüht im Sound von Dietmar Sous einen herben Charme. In den neuen Romanen von Sous (wie fast alle seine Romane sind sie mit knapp 140 Seiten ziemlich kurz) erscheinen die 70er und 80er Jahre wie Freiheitsinseln. Der Vergleich mit der Gegenwart unterbleibt, aber er bietet sich an. Die moralinsaure Haltung war noch nicht doktrinär geworden. Frauen zeigten Selbstbewusstsein nicht durch Hashtags in virtuellen Welten. Die Frauen bei Dietmar Sous haben so etwas nicht nötig.

Oberflächlich betrachtet, d. h. in Kategorien des Feuilletons, könnte man Sous als "Popliteraten" einordnen. Außer ein Etikett wäre damit nichts gefunden, denn nur weil popkulturelle Einflüsse die Prosa durchtränken, ist damit wenig ausgesagt. Es gibt zuweilen dezente Parallelen zu Wolfgang Welt, aber Welts Ich-Erzähler ist nahezu identisch mit dem Autor – etwas, was bei Sous nicht vorkommt. Schwierig ist auch die Verortung von Sous als eine Art Stimme des Proletariats, wie es im Lesebuch-Nachwort ein angedeutet wird. Immer wieder wird darauf rekurriert, dass Sous selber in Hilfsarbeiterjobs in Fabriken gearbeitet hatte. Aber seine Prosa ist nie agitatorisch. Seine Figuren sind zwar oft politisch geprägt; natürlich links. Aber es ist weder eine Arbeiter- noch eine Klassenkampfprosa. Bereits in Glasdreck wird die linke Echokammer sanft dekonstruiert; später kommt sie fast nur noch als Pose vor.

Die Prosa von Dietmar Sous ist zeitgenössische, bitter-süße Vagantenliteratur, oftmals wild, manchmal sogar albern (vor allem in den Erzählungen) und selbstverständlich pathoslos und frei von Sentiment. In den besten Momenten wird sie episch und weitet dem Leser die Welt. Dabei kommen und gehen Figuren und Handlungsstränge überschlagen sich. Zuweilen tut es gut, wenn die Protagonisten weniger ihre eigenen Handlungen als ihre Umgebung erzählen. Dann gelingt schwankend zwischen Buster-Keaton-hafter Komik und Verzweiflung Herrliches. In Zeiten steriler Schulschreiberei und postmoderner Gesinnungs-Innerlichkeit wirkt das ungewöhnlich und für den Leser, der sich darauf einlässt, erholsam.

Dietmar Sous hat auch (zumeist kurze) Buchkritiken geschrieben, von denen im Lesebuch einige abgedruckt sind. Über Stuart Davids "Peacocks Manifest" (2003 erschienen) bilanziert er: "Vielleicht keine große Literatur. Auf jeden Fall aber größer". Auf Dietmar Sous und seine Literatur gemünzt sollte man sagen: "Ziemlich große Literatur. Vielleicht noch größer".  

Artikel online seit 12.03.19
 

 


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