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Menschen, »diese komischen Tiere …«

Anmerkungen zu einem Sommer mit Georges Simenon

Von Lothar Struck

 

 © Picture by Victor Diniz, © Simenon.tm
Manchmal frage ich Leser nach einem Schriftsteller, den man unbedingt noch lesen sollte. Den ominösen Geheimtipp. Vielleicht eine Lyrikerin aus fernen Landen oder ein Vergessener. Erstaunlicherweise hörte ich in den letzten Jahren häufiger den Namen Georges Simenon. Simenon? Ist das nicht der Maigret-Autor? Jener Kommissar, der im Fernsehen meiner Kindheit mit einer Pfeife herumging und mit seiner Behäbigkeit so gar nicht in die Welt amerikanischer oder britischer Krimi-Serien passte? (Obwohl der Maigret, den ich damals so langweilig fand, aus Großbritannien kam und auch jetzt, mit dem körperbaulich falschen Rowan Atkinson als Maigret abermals die Briten sich des französischen Kommissars zuwenden.) Und dann in den heutigen Zeiten, in denen Krimis gefühlt die Hälfte des Fernsehprogramms füllen, dabei schon in Vorabendserien Morde wie Konfektbonbons in die Wohnungen geworfen werden, so, dass man eher erschrickt, wenn in einem Film Protagonisten sekundenweise nackt zu sehen sind, während Mordprodukte wie Talmi daherkommen. Schließlich haben Krimis auch längst auch den Buchmarkt erobert. Bis in die abgelegendste Region gehen die Ermittlungen von Polizisten (und natürlich sind Polizistinnen immer mit gemeint; hier wird das generische Maskulinum verwendet). Mord ist zur Unterhaltung verkommen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Tat ist banalisiert und trivialisiert.

Aber nein, so hört man von den Befragten, es seien nicht unbedingt die Maigret-Romane, die man lesen sollte, sondern die sogenannten romans durs, die "harten Romane" wie Simenon seine Nicht-Maigrets nannte. Die Augen funkeln dann beim Nennen der Namen des ein oder anderen Titels und dunkel erinnert man sich, mindestens zwei Verfilmungen der jüngeren Zeit gesehen zu haben. Zum einen ist da Die Verlobung des Monsieur Hire, ein furchtbarer Kitschfilm, der, das ahnte ich damals nur, unmöglich so hatte geschrieben werden können. Und dann Claude Chabrols Interpretation der Fantome des Hutmachers, mit Charles Aznavour als Schneider Kachoudas. Gab es also noch mehr als diese beiden "Non-Maigrets"?

Ein Lächeln umspielt das Gesicht des Kenners. Er berichtet von Hunderten von Non-Maigrets, Romanen und Erzählungen, auch Reportagen, später dann, am Ende des Lebens, autobiographisch grundierten Texten. Ein Vielschreiber war dieser Simenon, zu Beginn Journalist, Reporter und – damals (wie heute?) sich nicht immer ausschließend: ein Groschenromanschreiber (mehr als zwei Dutzend Pseudonyme benutzte er dafür). Dann 1931 – Simenon ist 28 – beginnt die Maigret-Ära (sie endet 1972; es sind 75 Romane und 28 Erzählungen). Der Durchbruch. Auch ohne Groschenromane (die Ära endete 1937) bleibt das atemlose Publizieren. Im Simenon-Lesebuch von Daniel Keel (Diogenes [DI], meine Version ist von 1988; nur noch antiquarisch zu erhalten) bemüht man sich, die wichtigsten Werke aufzulisten. Das Wort "Produktion" ist hier am Platze: bis zu zehn Bücher pro Jahr, manchmal sogar mehr.

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Und es gibt einen Anlass, sich mit Simenon (wieder) zu beschäftigen. Am 4. September 2019 jährt sich sein Todestag zum 30. Mal. Da passt es, dass der ehemalige Diogenes-Mitarbeiter Daniel Kampa 2018 die Rechte für alle Simenon-Werke gekauft hatte und nun in seinem Kampa-Verlag [KA] in Kooperation mit Hoffmann & Campe [HC] Schritt für Schritt die Bücher neu publiziert. Der Atlantik-Verlag (ATL; eine HC-Tochter) veröffentlicht bis 2025 insgesamt über 190 Werke von Simenon als Taschenbücher (die derzeitige Publikationsliste, die weniger Bücher aufzählt, kann man hier anschauen). 3,95 m sollen es sein; für mehr als 2.000 Euro.

Immer wichtig bei solchen Autoren ist die Übersetzungsfrage. Sie ist bei Simenon recht verzwickt. Für die Neuauflagen werden außer bei Ursula Vogel, Günter Seib und Hanns Grössel nicht die Übersetzungen der Diogenes-Auflagen verwendet. Bei den Maigrets greift man zum Teil auf die Arbeiten von Hansjürgen Wille und Barbara Klau (einst für Kiepenheuer & Witsch) zurück, die von unterschiedlichen Übersetzerinnen (Mirjam Madlung, Bärbel Brands, Astrid Roth, Cornelia Künne) überarbeitet werden (wobei der Verlag auf der Webseite diese Überarbeiterinnen zuweilen nicht nennt). Allerdings finden sich auch Neuübersetzungen von Thomas Bodmer, Rainer Moritz, Claudia Kalscheuer, Sophia Marzolff und Kristian Wachinger.

Den Lesern dieser Zeilen muss klar sein, dass ich in den letzten sechs Wochen nur einen kleinen Teil des Werkes von Georges Simenon gelesen habe. Da die Neuausgaben von Die Verlobung des Monsieur Hire und Die Fantome des Hutmachers noch etwas auf sich warten lassen, wurden die Diogenes-Bücher von Ende der 1990er Jahre herangezogen. Das Simenon-Lesebuch wurde schon erwähnt. Es enthält neben zwei Maigret-Erzählungen einige frühe Reportagen Simenons (u.a. über ein Gespräch mit Leo Trotzki, und, sehr interessant, ein Reisebericht aus dem Jahr 1932 in den damaligen Belgisch-Kongo, der sich spöttisch über den Kolonialapparat der Belgier äußert), kleinere, aufsatzähnliche Texte, den Briefwechsel mit André Gide und die autobiographische Erzählung Brief an meine Mutter. Ansonsten wurden die Neuerscheinungen gelesen: Sieben Maigrets und zwölf romans durs. Bei den "großen" Romanen und auch den Maigrets, die zuerst bei Kampa erscheinen, gibt es ein Nachwort eines irgendwie prominenten Lesers (und/oder Autors). So erfährt man, wie beispielsweise John Banville, Daniel Kehlmann, Julian Barnes, Ulrich Wickert (naja) oder Michael Kleeberg Simenon bewerten. Dabei fällt auf, dass die Kommentatoren zuweilen den von ihnen "betreuten" Roman nicht unbedingt für den besten halten. Schade, dass sie nicht konkreter wurden.

Ob die gelesenen Bücher repräsentativ sind? Ich weiß es nicht. Die Lektüre wurde mehr oder weniger durch die Veröffentlichungen der Verlage vorgegeben. Und noch ein Hinweis: Bei allem Bemühen, die Auflösungen, Wendungen und Endungen nicht zu verraten ist es dennoch zuweilen unerlässlich zu "spoilern". Der geneigte Leser sollte, wenn er sich die vollständige Spannung erhalten möchte, lieber nicht weiterlesen.

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Georges Simenon wurde am 24. Februar 1903 in Liège (Lüttich), Belgien, geboren. Der Vater Désiré (ein Name, der häufiger bei Simenon vorkommt), der 1921 stirbt, war Buchhalter bei einer Versicherung. Die Mutter, Henriette Brüll, ist das Kind einer Holländerin und eines Deutschen. Erste literarische Spuren von Simenon sind bereits von 1920 belegt. Früh verließ er die Schule, arbeitete als Konditorlehrling und in einer Buchhandlung. 1922 geht er nach Paris. Zwischen 1923 und 1935 schreibt Simenon mehr als eintausend Erzählungen und fast 200 sogenannte Groschenromane. 1929 entsteht der erste Maigret-Roman, der 1931 (zusammen mit anderen, später geschriebenen Maigrets) bei Fayard erscheint. Damit beginnt für Simenon der kommerzielle Erfolg.

Privat war Simenon ein unsteter Geist. Viele Wohnungswechsel, eine Weltreise in den 1930ern. Ein durchaus luxuriöses Leben mit eigenen Booten und großen Anwesen; Maigret sei Dank. Im Zweiten Weltkrieg organisiert er eine Flüchtlingshilfe, kann aber weiter in Frankreich publizieren (wie Gide, Camus und Sartre ebenfalls). 1945 verlegt er seinen Wohnsitz in die USA; fast zehn Jahre lebt er dort. Dann Cannes und schließlich Lausanne. Wer sich mit Simenon beschäftigt, kommt nicht umhin von dem Frauenheld zu sprechen, der sich einst brüstete mit zehntausend Frauen geschlafen zu haben (seine damalige Ehefrau meinte kühl, es seien nur 1200 gewesen). Interessant dabei am Rande, dass in den Romanen, die ich gelesen habe, der Beischlaf eher selten vorkommt und oft genug weniger als Vergnügen oder gar Lust, sondern meist nur als Verpflichtung geschildert wird.

Eher nachprüfbar als die Liebschaften sind seine ökonomischen Erfolge: 500 Millionen verkaufte Bücher weltweit, in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Zahlreiche Verfilmungen – nicht nur der Maigret-Romane. In den 1970er Jahren hört Simenon auf, fiktional zu schreiben. Stattdessen folgen nun zahlreiche autobiographische Texte, unter anderem der wichtigste mit dem Brief an meine Mutter. Sofort assoziiert man Kafkas Brief an den Vater. Simenons posthumer Mutterbrief ist Liebes- und Fremdheitsbeweis in einem. Er ist ein bisschen verwirrend, weil er zum Teil noch zu Lebzeiten er Mutter geschrieben scheint, dann wieder deutlich Bezug auf ihren Tod nimmt. Simenons späte, autobiografische Schriften werden häufig als Deutungen für seine Romane herangezogen. Man muss vor solchen Kurzschlüssen durchaus warnen (wie bei jedem Schriftsteller).

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Der Erfolg Simenons basiert auf der Figur des Kommissar Maigret. Dabei waren schon in den 1930er Jahren, als es mit Maigret begann, Kriminalromane und –geschichten längst keine Seltenheit mehr. Was aber relativ neu war: Die Hauptfigur bei Simenon war kein genialer Deduktiv wie Sherlock Holmes oder ein mit eher aristokratischen Attitüden agierender Ermittler wie der Belgier (sic!) Hercule Poirot. Auch war es kein Hobbyermittler wie Miss Marple oder einer der stets finanziell klammen amerikanischen Detektive. Maigret war Kommissar (später Hauptkommissar) am berühmten Quai des Orfèvres in Paris. Er ermittelte mit einem behördlichen Apparat; ein Vertreter des Staates, ein "Gesetzeshüter", oder, um es ein bisschen salopp zu formulieren, ein Ermittler, der jenseits des Geniekults arbeitet. Denn bisher war die Polizei eher ein meist etwas zurückgebliebener Verein gewesen, der auf die Eingebungen der Genies angewiesen war und die "lästige" Behördenarbeit erledigen durfte, während Sherlock oder wer auch immer den Ruhm einstrich. Rüdiger Safranski irrt daher im Nachwort zu Maigret und der Treidler der Providence (KA; gemäß Notiz am Ende des Buches1932 geschrieben), wenn er Simenon in eine Linie mit Edgar Allan Poe (völlig abwegig die Parallele zu Der Doppelmord in der Rue Morgue), Arthur Conan Doyle und Agatha Christie stellt. Die Maigrets sind eben keine Detektiv- sondern Polizeiromane.

Bis auf einige Ausnahmen - Friedrich Glauser beispielsweise mit seinem Wachtmeister Studer – begann die große Ära der Polizeiromane in Europa erst in den 1960er Jahren. Prägend wirkten die Schweden Maj Sjöwall und Per Wahlöö mit dem Stockholmer Ermittlerteam um die Kommissare Beck, Larsson und Kolberg. Es entstand zwischen 1965 und 1975 ein Dekalog (nach dem zehnten Roman verstarb Wahlöö). Die beiden waren Pioniere der sogenannten "Schweden"-Krimis. Sjöwall/Wahlöö gebrauchten den Kriminalroman allerdings nur als Kulisse für eine marxistisch-politisch grundierte Gesellschaftskritik. Zwar ging es auch darum, die Täter zu ermitteln, aber dies stand nicht ausschließlich im Zentrum. Form und Ausmaß der zuweilen brutalen Verbrechen sollten die gesellschaftlichen Probleme, für die die Politik keine Lösungen kannte, decouvrieren. Simenon war ein derartiger politischer Anspruch fremd (was nicht bedeutet, dass seine Romane immer unpolitisch wären – dazu später).

Simenon lässt Jules Maigret in der französischen Provinz, in Moulins, aufwachsen. Sein Vater war ein angestellter Gutsverwalter. Jules hat zunächst Medizin studiert bevor er in den Polizeidienst ging. Er ist verheiratet; das Privatleben ist intakt. Auf der Webseite maigret.de erfährt man, dass die Altersangaben in den diversen Krimis keine exakten Rückschlüsse auf das Geburtsjahr Maigrets zulassen. Simenon hat diese wohl intuitiv gesetzt; es ist bekannt, dass er es hasste, nachträgliche Korrekturen vorzunehmen.  

Der Ruhm, den Simenon durch Maigret erhält, spiegelt sich auch in der Bekanntheit des Kommissars in der fiktiven Welt. In Mein Freund Maigret (ATL; 1949) wird er von einem Inspektor von Scotland Yard begleitet, der die Methoden Maigrets studieren sollte, aber, so der stets allwissende Erzähler, "Maigret hatte gar keine". Was natürlich nicht stimmt, wie man kaum später im selben Roman nachlesen kann: "Bei jeder Ermittlung saugte sich Maigret wie ein Schwamm mit Menschen und Dingen voll, vielen Kleinigkeiten, die er unbewusst in sich aufnahm". An seiner jeweiligen Laune können die Mitarbeiter den Stand von Maigrets Ermittlungsfortschritten ablesen. "Je brummiger er war, desto mehr hatte sich in ihm angesammelt."  

Die in den Krimis ab den 1960er-Jahren dargestellten persönlichen Lebensprobleme der Hauptfiguren und ihr Kampf mit den Einmischungen durch Vorgesetzte spielen in den Maigrets meist keine Rolle. Umso überraschter ist man, als er in Maigret im Haus des Richters (ATL; 1940) nach L'Aiguillon bzw. Luçon versetzt wurde (die Gründe bleiben im Unklaren). Sein Führungsstil ist von jovialer Autorität. Er nennt seine Mitarbeiter ohne Scheu "Kinder". Frauen im Ermittlungsdienst fehlen. Zeitgemäß wird laufend getrunken - auch und vor allem Alkoholika. Maigret kann sich das erlauben, denn er hat keinen Führerschein und muss gefahren werden (oder er nimmt einen Bus). Die Speisezeiten hält er wenn möglich ein und gerne nimmt er ein Mittagsschläfchen. Charakteristisch ist sein Pfeifenrauchen. Selbst während der verwirrendsten Fälle macht sich Maigret keine Notizen; das überlässt er seinen Mitarbeitern. Er hört bzw. liest deren Berichte, zieht seine Schlüsse daraus und handelt zumeist intuitiv.  

Maigret und seine Mitarbeiter erinnern an die Protagonisten einer inzwischen legendären deutschen Fernsehkriminalreihe, die – Zufall oder nicht? – ebenfalls von einem Vielschreiber konzipiert wurde. Die Rede ist von Herbert Reineckers Der Kommissar, der zwischen 1969 und 1976 in insgesamt 97 Folgen ermittelte. Auch Kommissar Keller hatte loyale Untergebene um sich, die ihn siezten, obwohl er sie duzte. Der Führungs- und Ermittlungsstil war dem von Maigret ähnlich (statt Pfeife wurde Zigarette geraucht). Wie Simenon zeichnete auch Reinecker die Ermittler als Männer aus dem Volk. Und die Mörder waren nicht unbedingt monströse Gestalten. Dennoch war das Verbrechen ein Fanal, ein furchtbarer Abschnitt im Leben von Tätern und Opferangehörigen. Die Beweggründe für die jeweilige Tat herauszufinden sollte diese nicht entschuldigen, sondern helfen, den Täter zu überführen. Gelegentliche Übergriffe bei störrischen Verdächtigen bleiben vor allem bei Maigret nicht aus. In Mein Freund Maigret treibt es der Kommissar auf die Spitze. Ausgerechnet in Gegenwart von Inspektor Pyke von Scotland Yard verliert er die Fassung. Zuerst beschimpft er einen Verdächtigen. Als nicht eindeutig ermittelt werden kann, wer von den beiden Tatbeteiligten den Mord begangen hat, versetzte Maigret einem der beiden "einen Schlag mitten ins Gesicht".

Solche Ausraster sind beim Gemüts- und Genussmenschen Jules Maigret selten. In einem Essay schreibt François Bondy 1978 über den zum Teil unlogischen und emotionalen Stil Maigrets. Er mache "in seinen Ermittlungen grobe Fehler", vernachlässige wichtige Spuren und verzichte darauf, "entscheidende Zeugen zu verhören". Man erinnert sich ein wenig dieser Klage, als man den frühen Fall (Nr. 4) Maigret und der Treidler der Providence (KA; 1930) oder auch den späten Roman Maigrets Jugendfreund (ATL; 1968) liest. Allerdings ist der Ein- bzw. Vorwurf des mangelnden oder gar fehlenden Realitätsbezugs zur "wirklichen" Ermittlungsarbeit der am meisten gegen Krimis vorgebrachte Einwand. (Man kann das beispielsweise sonntags abends bei Twitter unter dem Hashtag #Tatort  beobachten.) Solche Einwände greifen aus mehreren Gründen fehl: Zum einen sind auch die Detektivromane (mit Figuren wie Sherlock Holmes, Hercule Poirot, usw.) nicht frei von emotional-intuitiven Schlussfolgerungen der Helden. Und zum anderen handelt es sich bei solcher Prosa nicht um ein neorealistisches Projekt, in dem dokumentarisch die Realität gezeigt werden soll. Der Verdacht liegt nahe, dass solche Art von Polizeiarbeit nicht genügend interessant wäre.   

Maigrets sind zumeist Whodunits. Und natürlich ist Simenon im Maigret-Krimi an die Gesetze des Genres gebunden. Das "Happy-End" ist hier die Katharsis, die Auflösung nebst Verhaftung des Täters. Allerdings gibt es Ausnahmen. In Maigret bei den Flamen (ATL, 1932) ermittelt Maigret in Givet, einer Stadt in den Ardennen an der französisch-belgischen Grenze. Hier ist ein Mord geschehen und man verdächtigt ein Familienmitglied einer flämischen Familie. Für das merkwürdige Engagement wird eine weitgehende Verwandtschaft der Familie mit Maigrets Frau angedeutet. Maigret ist hier Detektiv; offizielle Befugnisse hat er nicht. Am Ende wird der Mord zwar aufgeklärt, aber nur Maigret und die Flamen kennen den wirklichen Täter. Die Polizei von Givet verdächtigt eine andere Person, die jedoch, wie es am Ende heißt, dauerhaft untergetaucht ist. Maigret schweigt gegenüber der Polizei über den wahren Täter, nachdem er ziemlich sicher ist, dass der "offiziell" Verdächtige niemals gefunden werden wird.  

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Simenon genoss zwar den Ruhm, der ihm die Maigrets einbrachten, aber sein Anspruch war ein anderer. Er "erfand" dazu jene "harten Romane", die ihm erlaubten, aus dem Krimi-Korsett aus- und in den psychologischen Roman einzusteigen. Das gesamte Nicht-Maigret-Werk ist bei maigret.de mit 301 Titeln gelistet (es umfasst alle Non-Maigrets, die Simenon ohne Pseudonym geschrieben hatte), von denen etliches bisher nicht auf Deutsch erschienen ist. Im bereits erwähnten Lesebuch sind mehr als 110 Non-Maigret-Romane aufgeführt (ohne Erzählungen und Reportagen). Irgendwie verliert man schnell über die Anzahl der Non-Maigrets die Übersicht. Der amerikanische Schriftsteller Paul Theroux schreibt im Nachwort zu Die Witwe Couderc, es gebe 117 "wirklich große Romane" von Simenon (abseits der Maigrets und Pseudonymen-Bücher). Im Gegensatz zu den Maigrets erfuhr die deutschsprachige Öffentlichkeit nur nach und nach von diesen Romanen. In den nächsten Jahren sollen nun rund 50 der "großen Romane" neu überarbeitet aufgelegt werden.

Wie bei den Maigrets ist der Umfang selten größer als 200 Seiten. Dabei ist es schwierig, selbst die vergleichsweise wenigen romans durs, die ich gelesen habe, zu klassifizieren. Sie variieren zwischen Liebesgeschichte (Die Marie vom Hafen – HC; 1937), Eifersuchtsdrama (Das blaue Zimmer – ATL; 1963), fast komödiantisch erzähltem Selbstverwirklichungsversuch (Die Pitards – HC; 1934) und Serienmorderzählung (Die Fantome des Hutmachers – DI; 1948). Da verfällt ein (verheirateter) Mann  hoffnungslos während einer Urlaubsreise einer jungen Kindfrau (Die Ferien des Monsieur Mahé – KA; 1944) und will sogar sein bisheriges Leben hergeben – ohne, dass die Angebetete dies je erfährt. Oder eine 16jährige Waise kommt von der Stadt auf das Land zu einem Gutshof zum Onkel, der urplötzlich ebenfalls verstorben ist (Das Haus am Kanal – HC; 1932). Sie gerät in eine enge, triste, dörfliche Welt (der Gegensatz zwischen aufkommender Moderne und den zu Ende gehenden Strukturen des 19. Jahrhunderts wird hier subkutan gezeigt). Nicht einmal ihre Sprache wird hier von allen Familienmitgliedern gesprochen (der Sprachenkonflikt in Belgien ist, wie man hier sehen kann, schon etwas älter). Sie zieht einen jungen Cousin in den Bann, muss sich aber den Avancen ihrer anderen, wohlhabenden Cousins erwehren. Die Wendungen sind verblüffend – das Ende, wie so oft, furchtbar.

In einer Gruppe Stripteasetänzerinnen in Cannes wirbelt ein Neuzugang und die Krankheit der Frau des Chefs das gesamte soziale Gefüge durcheinander (Striptease – HC; 1957). Ein alleinerziehender Vater muss erfahren, dass er seinen Sohn nicht gekannt hat. Dieser brennt mit einer Freundin durch und erschießt in einer wilden Autofahrt einen Menschen (Der Uhrmacher von Everton - ATL, 1954).  Ein Vetter, geflüchtet aus Deutschland, nistet sich in seine Familie in Frankreich ein und sofort geschieht ein Mord (Chez Krull – ATL; 1938). Eine 45jährige Frau liest den 28jährigen Jean, einen ehemaligen Mörder im Bus auf, verdingt ihn als Liebhaber und Knecht. Der kann jedoch den Reizen der 16jährigen Nichte nicht widerstehen. Auch hier kommt es anders, als man denken mag (Die Witwe Couderc – KA; 1940). Fast gruselig die Geschichte vom Bürgermeister von Furnes (KA, 1938), der seine Frau erst nach ihrem Tod zu lieben beginnt und dessen gesamte bürgerliche Existenz gleichzeitig zerfällt. Überall schwelende Abgründe, drohen Konflikte und Verbrechen - aber keine dieser Begebenheiten ist unmittelbar vergleichbar.

Die Romane spielen fast nie in Paris, sondern in kleinen Städten wie Neeroeteren (Belgien), Saint Justin du Loup, Port-en-Bassin, Villejuif (Vorort von Paris), Porquerolles (auch ein Maigret spielt hier) oder zwischen Saint-Amand und Montluçon. Aber auch in den USA oder Panama. Manchmal wird der Ort nicht genannt bzw. ist fiktiv. Interessant wird dies in Der Schnee ist schmutzig (KA, 1948). Der Roman spielt in einer nicht näher genannten Nachkriegszeit unter einer Besatzung. In einem kurzen (ansonsten untypischen) Nachwort erläutert Simenon seine Erfahrungen mit zwei Besatzungen. Besatzung, so Simenon, sei "schlimmer als der Krieg selbst, weil sie viel mehr Schmutz aufwirbelt, weil sie Misstrauen und Hass erzeugt, deren Stempel dem Volk für lange Zeit aufgedrückt ist." Allgemein wird gemutmaßt, dass im Roman auf die deutsche Besetzung im Zweiten Weltkrieg angespielt wird. Eindeutig ist das nicht. Vielleicht spiegelt Simenon auch die Besatzungen Lüttichs während der beiden Weltkriege. Die Figuren tragen allerdings auffallend häufig deutsche Namen.

Die moralischen Werte sind praktisch aufgehoben, es regiert das Recht des Stärkeren, Schwarzmarkt und Kriminalität blühen, sind fast notwendig, um zu überleben. Frank Friedmaier, die 18jährige Hauptfigur, ermordet zu Beginn aus Neugier und Lust am Töten und weil er ein Messer ausprobieren möchte einen Besatzungsoffizier. Später tötet er bei einem Überfall einen weiteren Menschen, weil dieser ihn wiedererkennen könnte. Frank lebt als Faktotum eines Großkriminellen. Mit Frauen tut er sich schwer; er versucht sie mit Geld zu verführen. Die Mühlen der Besatzungsjustiz mahlen langsam, aber schließlich wird er verhaftet. Die Zeit im Gefängnis wird geschildert als Qual, eine Tortur variierend zwischen totaler Ignoranz, Dauerverhören und Schlafentzug.

Den besonderen Stellenwert dieses Romans für Simenon zeigt sich in seinem kurzen Nachwort: "Und wenn ich aus meinem ganzen Werk nur einen einzigen Satz aufbewahren dürfte, dann wäre es ein Satz aus 'Der Schnee war schmutzig'". Während des Lesens des Romans wird sofort klar, welcher Satz dies ist. Daniel Kehlmann bezeichnet den großartigen Schluss als "pathetisch", was nur zum Teil zutrifft. Frank, früher ein kalter Mörder, hat sich durch die Zuwendung einer ehemaligen Freundin (die er einst an seinen Boss verkuppeln wollte) verwandelt. Das interessante ist, dass dies nicht einher geht mit Reue oder Läuterung.

Diese Wendungen sind typisch für Simenon-Protagonisten. Zuweilen werden die Romane fast zu Novellen, wobei die "unerhörte Begebenheit" in den Protagonisten heranreift. Man muss schon sehr genau lesen, was, wie noch zu erklären sein wird, bei Simenon eine Herausforderung ist. Zumal gelegentlich sich mehrere solcher Begebenheiten ereignen, die eine eben sicher geglaubte Stimmungslage zur Erschütterung bringen. Hierfür genügen oft nur kleinste Veränderungen, die sich beispielsweise in Der Schnee ist schmutzig in lakonischen, moritatenhaften Sätzen  zeigen. Die jeweilige Lebenslage Franks "in a nutshell". Auf dem Höhepunkt seiner kriminellen Karriere heißt es: "Zurzeit ist Frank schlau in Leben". Später dann: "Frank hat schon lange keine Chance mehr zu gewinnen". Schließlich, am Ende: "Frank hat das Meer nie gesehen. Er wird es nie sehen."

Kaum einer kommt aus den zuweilen kammerspielähnlich inszenierten romans durs so heraus, wie er (oder sie) eingetreten ist. Es sind Entwicklungs-, oder präziser: Verfallsromane. "Menschenwerdungserzählungen" nennt sie Martin Mosebach im Nachwort zu Der Bürgermeister von Furnes, die, so Graeme Macrae Burnet (Nachwort zu Die Ferien des Monsieur Mahé) eine "eigentümliche Klaustrophobie" beim Leser erzeugten und das Gefühl, "er sei im Kopf des Protagonisten eingesperrt". Burnet charakterisiert die Protagonisten ihrerseits als "eingesperrt in unglücklichen Ehen, trostlosen Arbeitsverhältnissen, unentrinnbaren Routinen oder einem selbstzerstörerischen Temperament, das sie von einem ihrer Vorfahren geerbt haben." Der letzte Punkt ist problematisch, weil er eine Schicksalsgläubigkeit impliziert. In Maigret zögert (ATL; 1968) beschäftigt sich Parendon, hauptberuflich Fachanwalt für Seerecht, leidenschaftlich mit dem sogenannten Artikel 64, der die Strafmündigkeit bzw. –unmündigkeit qua Gesetz definiert. Parendon, der ermordet werden sollte (stattdessen wird eine andere Person getötet), bekennt schließlich: "Ich hasse niemanden, weil ich nicht glaube, dass ein Mensch jemals voll verantwortlich ist". Das Gegenstück wird in Der Schnee war schmutzig artikuliert, als über Franks zweiten Mord konstatiert wird: "Was er tut, ist sein freier Wille. Und er tut es kaltblütig". Und dennoch, Maigret bekennt einmal, dass er noch nie jemanden verachtet habe (Maigrets Jugendfreund).

Die Verwandlung der Protagonisten geschieht selten zum Guten. Sie glauben jedoch, sich nur mit einem Verbrechen aus den sie einschließenden, zu Gefangenen (Burnet) machenden Strukturen lösen zu können. Der Hutmacher Labbé ermordet seine Frau, weil diese, durch eine Krankheit ans Bett gefesselt, ihren Mann in Permanenz mit Anordnungen und Wünschen belegt, so dass dieser nicht einmal eine Seite in einem Buch lesen kann. Um nicht aufzufallen verfällt er dem Plan, alle am Ort noch lebenden Mitschülerinnen seiner Frau, die sie zu Weihnachten einmal im Jahr besuchen, ebenfalls zu ermorden.

In Der Uhrmacher von Everton (ATL, 1954) interpretiert Dave Galloway die Fluchtfahrt seines Sohnes als Revolte. Er verknüpft den Seitensprung des Großvaters und seine Heirat mit der Mutter seines Sohnes, die die beiden sechs Monate nach der Geburt verlassen hatte, als Traditionslinie der Revolten in der Familie. Damit schließt er mit dem zum Mörder gewordenen, zu lebenslänglicher Haft verurteilten Sohn, seinen Frieden. Im Zeugenstand vor Gericht beendet er seine Aussage mit "Ich bin mit meinem Sohn solidarisch". Als er erfährt, dass er Großvater werden wird, sieht er "in einem verborgenen Winkel eine kleine Flamme glimmen". Die Deutung als Revolte erinnert natürlich an Camus' Schrift über den Menschen in der Revolte von 1951, freilich mit anderen Schlüssen.

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Aus all dem wird deutlich, dass es sich bei Simenon mitnichten um einen Trivialschriftsteller handelt, wie man gerne anlässlich seiner Groschenromanvergangenheit urteilt. Das Rubrum gilt weder für die Maigrets und natürlich noch weniger für die romans durs. Es gibt so gut wie nie ein Happy-End. Die Persönlichkeitsstrukturen der handelnden Personen sind tiefgehend und komplex. Selbst der auch in einigen Nachworten behauptete begrenzte Wortschatz (es sollen nur rund 2000 Wörter sein, die Simenon verwendet hat) wie auch das vermeintliche Fehlen von Adjektiven spricht nicht gegen diese Prosa. Wer will findet beispielsweise hinreißende Schilderungen des scheinbar überall vorherrschenden Regens (sucht sie, ihr Leser!). Oder Gerüche – Simenon verwendet sie, um Orte oder Zeiten mit Stimmungen zu verknüpfen. (Mein Favorit: "Die Gerüche vermischten sich, und bald gab es nur noch einen Geruch, den Geruch von Neujahr".) Und manchmal bekommen sogar Wochentage Eigenschaften zugewiesen (vor allem der Samstag). Viele seiner Romane (Maigrets und Non-Maigrets) spielen im Umfeld oder auch direkt der Fluss- bzw. Binnenschifffahrt. Hier kannte sich der Skipper Simenon sehr gut aus. Das Milieu der Schiffer und  Fischer wird aus eigener Anschauung erzählt.

Was bei Simenon fehlt sind Lyrismen und literarische Erzähltechniken der Moderne. Selten gibt es Rückblicke. Und stets bleibt er beim allwissenden Erzähler. Damit erreichen seine Texte jenen Sog, der die vom Atlantik-Verlag gewählte, eigentlich unglückliche Bezeichnung "Lesefutter" fast zu rechtfertigen scheint. Vielleicht ist es auch das, was bei der Lektüre von Simenons Prosa geschieht: Man liest seine Romane fast in einem Zug; sie scheinen eine fortlaufende Lektüre geradezu zu verlangen. Dies kann allerdings auch ein Nachteil sein. Peter Handke vermerkt in den 1980er Jahren in seinem Tagebuchband Die Geschichte des Bleistifts, das die Romane Simenons selten zum Innehalten und Aufschauen verführen. Wenn er Simenon einen "Vorwurf" machen würde (die Anführungszeichen setzte Handke selber), dann jenen, ihn zu schnell zu lesen. Darauf heute angesprochen zweifelt Handke, ob es gut war, "zwanzig oder dreißig" Simenons (meist Non-Maigrets) an einem Stück zu lesen, wie er dies wohl in seiner Salzburger Zeit gemacht habe.

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Zeit seines Lebens hat Simenon unter seinem Image als seichter Autor gelitten. Er wollte anerkannt, in die literarischen Zirkel aufgenommen werden. Und tatsächlich kann man lobende Worte über Simenon nahezu von allen großen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts finden (von Walter Benjamin über Ernest Hemingway, Henry Miller, William Faulkner, Gabriel Garcia-Marquez, Günter Grass und natürlich auch von den heutigen zumeist mittelmäßigen Krimischreiberlingen). Vergleiche türmen sich auf. Simenon sei der "Balzac des 20. Jahrhunderts". Oder er sei ein zweiter Tschechow. Aber die Schublade, in die man Simenon tatsächlich steckte, war zu eindeutig.

Wie bedürftig der Belgier für Anerkennung aus den literarischen Zirkeln war, zeigt sich im Briefwechsel mit André Gide, der zwischen 1938 und 1950 stattfand. Simenon, der den Austausch beginnt, nähert sich Gide bis zum Schluss wie ein Untertan seinem König. Er schildert ihm, wie er schreibt, wie er nichts sehnlicher wünscht als DEN großen Roman zu schreiben – und dann doch immer wieder in die übliche Form verfällt. Gide hingegen lobt ihn häufig emphatisch, ermuntert ihn, versucht, ihn moralisch zu motivieren ("Sie schulden uns Großes"), aber kritisiert ihn auch dann und wann heftig, wenn er Langeweile entdeckt oder ihn einer gewissen Schlampigkeit glaubt überführen zu können. Er moniert auch Simenons häufige Verwendung der offenen Fortsetzung durch die ominösen drei Punkte ("…"). Das sei zwar ein "probates Mittel", aber Gide warnt vor "übermässigem Gebrauch". (Elke Schmitter interpretiert in ihrem Nachwort zu den Pitards dieses Verfahren als eine Installation von "Leerräumen", in denen die Figuren "empfinden und handeln […]; vor allem lassen sie sich treiben, sie spüren die Macht des Unausgesprochenen und ihres persönlich Unaussprechlichen, das langsam alles andere beiseitedrückt".)

Gide lässt sich Simenons Bücher – ob Weltreisen oder Krieg – überall hin nachschicken, liest sie immer und immer wieder ("Simenon-Kur"). Denn er arbeitet an einer Studie zu Simenon, die aber, wie schnell klar wird, nie fertiggestellt wird, nicht zuletzt weil Simenon fast schneller schreibt als Gide, der durch gesundheitliche Probleme zuweilen gehandicapt ist, lesen kann. Simenon bleibt stets freundlich, fast servil, lobt besonders Gides Tagebücher. Später, nach Gides Tod, bekennt er en passant, dass er nie etwas von ihm gelesen habe, dies nur nicht gestehen konnte. Was nachweislich nicht stimmt, da er das Motiv der eingeschlossenen, irren Tochter, welches er in Der Bürgermeister von Furnes verwendet, aus Gides Erzählung "Die Eingeschlossene von Poitiers" von 1930 (1997 in der "Anderen Bibliothek" erschienen; längst vergriffen) entlehnt und variiert.

Simenon bleibt die pekuniäre Anerkennung. Wer den Text über Charlie Chaplin aus dem Jahr 1960 liest, erkennt das tiefsichtende Ressentiment, ja fast eine Verachtung Simenons Intellektuellen gegenüber. Von beißendem Spott ist seine Charakterisierung des "Bohemians". Als Albert Camus 1957 den Nobelpreis zugesprochen bekommt, ist Simenon wütend. Hatte er nicht – André Gide war sein Zeuge - mit Die Witwe Couderc ein besseres Buch über die existentiellen Ängste eines Menschen geschrieben als Camus mit Der Fremde?

Und wie weit ging die Fürsprache von André Gide, dem Nobelpreisträger von 1947? Bei der Schwedischen Akademie kann man nachlesen, dass er nur einen Vorschlag machte. Es ist 1951, sein Todesjahr. Er schlägt Pär Lagerkvist für den Nobelpreis vor. Der bekam ihn dann auch. Für Simenon votierten andere. Vergeblich, wie man heute weiß.

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Natürlich ist die Qualität seiner Romane unterschiedlich. Damit ist nicht das (notwendige) Erzählen im Gerüst des Krimi-Genres der Maigrets gemeint. Manche romans durs sind im Versuch, Komplexität und Entwicklungen zu zeigen, trotz ihrer meist nur knapp 200 Seiten zu ausladend. Wie etwa Die Pitards. Der Roman beginnt als Komödie. Der Seemann Lannec hat endlich sein eigenes Schiff. Auf seiner ersten Fahrt ist allerdings seine Frau dabei, die nicht nur Anteile am Schiff hält, sondern auch glaubt, in die nautische Führung eingreifen zu müssen. Ständig geraten die Eheleute in Streit, bis sie eine weitere Eskalation betreibt und von einem Liebhaber erzählt. Der Ehemann dreht jetzt durch, schließt sie ein. Dann kommt es noch zu einer dramatischen Situation auf  hoher See, in der es um die Frage geht, ob man Menschenleben versucht zu retten oder lieber den Frachttermin einhalten möchte. Der Roman fällt auseinander – aus der Komödie wird ein Drama.

Zunächst kafkaesk mutet Die Schwarze in Panama an. Jacques Dupuche kommt mit seiner Frau Germaine nach Panama. Es soll eine Durchreisestation zu seinem neuen Arbeitsplatz in Ecuador sein. Aber die Firma ist bankrott, das Paar ist nun gestrandet und vollkommen mittellos in einem fremden Land. Man trennt sich schließlich. Jacques, der Ingenieur, wird Hafenarbeiter und entflammt er für eine "Negerin", die 16jährige Prostituierte Véronique. Michael Kleeberg weist in seinem Nachwort zu recht darauf hin, dass der Roman nicht zuletzt wegen der inflationären Verwendung des N-Wortes "nichts für Jakobiner der political correctness" sei.

Aber der Erzähler verwendet es deskriptiv, nicht pejorativ. Der Rassismus der Franzosen und eine Art Kastenwesen innerhalb der einheimischen Gesellschaft ist derart stark, dass man Jacques ob seiner Liaison zu Véronique ausgrenzt. Er hält dennoch zu ihr; die Gelegenheit, nach rund fünf Jahren nach Frankreich zurückfahren zu können, lässt er verstreichen. Hier gibt es fast ein glückliches Ende: Die beiden bekommen mehrere Kinder und Véronique erbt schließlich nach Jacques Tod ein Haus in Frankreich. Der Leser musste sich zwischenzeitlich zwingen, weiterzulesen. Und auch in der als Liebesgeschichte angelegten Die Marie vom Hafen (HC; 1937) springt der Funke nicht über. Die 17jährige Marie macht auf der Beerdigung ihres Vaters Bekanntschaft mit einem Cafébesitzer aus der Stadt. Dieser ist fasziniert von dem Mädchen, kauft ein Boot, um es selber zu restaurieren, nur um im Dorf bei Marie zu sein. Woher diese Faszination kommt, bleibt auch dem allwissenden Erzähler verborgen. Wie fein und doch intensiv Simenon eine Obsession eines Mannes zu einer (Kind-)Frau erzählen kann, zeigt er in Die Ferien des Monsieur Mahé. Hier wirkt alles hölzern; am Ende sieht es nach einen verborgenen Plan von Marie aus.

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Es gibt viele Höhepunkte in den "großen" Romanen. Da ist die schrittweise Verwandlung des Doppelmörders in Der Schnee war schmutzig, der scheinbar nur für diesen Moment der Versöhnung mit der Welt gelebt hat. Oder das zwanghafte Einhalten eines festen Tagesablaufs des Hutmachers, der sich in keinem Fall verraten möchte (und am Ende das Entdecktwerden geradezu ersehnt). Das plötzliche Verstehen des Vaters für die Fluchtfahrt des Sohnes (Der Uhrmacher von Everton). Die skurrile und zugleich rührende "Zeremonie" der Verlobung des Monsieur Hire (DI, 1933) mit Alice. 

Ein großartiger Roman ist Das blaue Zimmer. Hier wird aus dem Wissen um den Verlauf der Geschehnisse heraus erzählt. Der Leser ahnt zwar früh, dass die Amour fou des Handlungsreisenden zur Katastrophe führt. Aber welche Art diese sein wird, bleibt bis fast zum Schluss verborgen. Das Ende mit der Schilderung des Blicks der Geliebten zu ihrem ehemaligen Liebhaber wird man so schnell nicht vergessen. Auch Striptease ist ein guter Roman. Zunächst wird die Gemeinschaft von Stripteasetänzerinnen erzählt, die um die Gunst des Chefs buhlen. Ein Neuzugang ändert alles; die Gemeinschaft bricht auseinander. Am Ende wird noch einmal große Spannung erzeugt, als die Hauptfigur beabsichtigt, die jüngere Nebenbuhlerin zu erschießen – und dann …

Unpolitisch sind Simenons Romane übrigens nicht immer. Der Schnee ist schmutzig wurde bereits dahingehend untersucht. In Chez Krull wird das Leben einer Familie erzählt, die in einer nicht näher bezeichneten Hafenstadt an der französisch/belgischen Grenze ein Geschäft betreiben, in dem Fischer Lebensmittel und Schnaps einkaufen können. Sie sind Deutsche, aber mit französischer Staatsbürgerschaft. Assimiliert haben sie sich nicht; der alte Cornélius spricht inzwischen weder deutsch noch französisch. Die Antipoden sind die Familie Schoof, die ein ähnliches Geschäft in der Stadt betreiben und sich als Holländer ausgeben, um der deutschfeindlichen Grundstimmung im Ort nicht Nahrung zu geben. Der Familienfrieden wird durch den Vetter Hans gestört, der als Flüchtling aus Deutschland Zuflucht sucht. Der Roman entstand im Jahr 1938; es handelt sich also um Nazideutschland, aus dem Hans flieht. Der Vetter hat versucht, mit gefälschten Dokumenten die Familie zu täuschen. Auch sonst legt er ein unkonventionelles Handeln an den Tag, mischt sich überall ein, ist laut. Kurz nach seinem Erscheinen entdeckt er eine weibliche Leiche. Zwar wird er nicht selber, dafür aber sein introvertierter Cousin Joseph verdächtigt. Der Höhepunkt des Romans besteht in der Schilderung eines sich zusammenrottenden Lynchmobs gegen die deutsche Familie, die für den Mord verantwortlich gemacht wird. Ein Pogrom droht; erste Steine auf den Laden fliegen. Mit Mühe kann die Polizei das schlimmste verhindern. Wie immer ist das Ende des Romans dann ziemlich überraschend. Bereits sechs Jahre zuvor hatte Simenon xenophobische Strömungen thematisiert. In Maigret bei den Flamen sieht sich die flämische Familie nach dem Mord ebenfalls mit Anfeindungen durch die französische Mehrheit konfrontiert.

"Es sind immer Kerle wie Kachoudas, die sich verdächtig machen", heißt es während der Mordserie in Fantome des Hutmachers über die unterschwelligen Ressentiments gegen den armenisch-stämmigen Schneider. Und als alle – inklusive der Polizei – glauben, dass Monsieur Hire der Frauenmörder ist, skandiert der Mob antisemitische Hetzsprüche (der Roman wurde 1933 geschrieben) und greift Hire physisch an, als dieser vor seiner Wohnung von der Polizei festgenommen werden soll.  

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Obwohl die Romane, die ich gelesen habe, zwischen 1932 und 1969 veröffentlicht wurden - die "aktuellsten" sind demnach 50 Jahre alt – sind die Texte verblüffend eingängig. Sicherlich, manches aristokratisch anmutende Verhalten dürfte es so heute nicht einmal mehr in Frankreich geben. Und die Kommunikation über Telefon mutet für den an Smartphones gewohnten Zeitgenossen zuweilen etwas kompliziert an. Abgesehen davon strahlen sowohl die Maigrets als auch viele romans durs eine erstaunliche Zeitlosigkeit aus. Vielleicht hat dies damit zu tun, dass die Abgründe der Menschen die gleichen geblieben sind. Es gibt eine kurze Beschreibung, als Maigret aus dem Fenster schauend plötzlich "diese komischen Tiere, die Menschen" betrachtete, die auf Gehsteigen dahineilten (Maigrets Jugendfreund). Man muss sich Georges Simenon vorstellen, wie er in all seinen Romanen immer wieder die "komischen Tiere" und deren Sehnsüchte, Wünsche und verborgenen Abgründe versucht zu ergründen und zu erzählen. Einen "großen Gestalter" nennt ihn Peter Handke. Ja, das war er. Und daher lohnt es sich, in diesen Kosmos einzutauchen.

Artikel online seit 28.08.19
 















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