1.
Was mir wie eine schöne Feerie vorschwebt, wird selbst, wenn es doch einmal
realisiert werden würde, von mir gewiss nicht mehr erlebt werden. Utopien, die
ein Achtzigjähriger hegt, haben den St. Nimmerleinstag schon hinter sich. Umso
freier (was auch bedeutet: rücksichtsloser im Hinblick auf die Pragmatik) kann
man dann die phantastische Reise ins Blaue hinein antreten (& sich ins
Wünschenswerte träumen).
2.
In meiner Lebenszeit (soweit ich sie mit Verstand erlebt habe, also etwa ab dem
6. Lebensjahr, was bei mir heißt; ab 1945) habe ich die Veränderung &
Einschränkung, bzw. das Verschwinden des Öffentlichen Raums durch die allgemeine
technische Entwicklung unserer Gesellschaft miterlebt, wenn auch nicht wirklich
bemerkt, erkannt, begriffen & ihre nachhaltigen Folgen auch nicht verstanden.
Als es den Öffentlichen Raum noch fraglos & überall gab, hatten wir wohl gar
keinen Begriff davon. Es ist wie mit Krankheit & Gesundheit: solange wir gesund
sind, denken wir nicht an Krankheit; erst wenn sich ein Schmerz meldet, erfahren
wir, dass wir bislang schmerzlos gelebt hatten. So bemerken wir erst die
Existenz des Öffentlichen Raums im Augenblick seines Hinscheidens, Verschwindens
oder seiner eingetretenen Abwesenheit (durch seine allgemeine, vielfältige,
subjektive privatistische Nutzung).
Unter Öffentlichem Raum verstehe ich in einer Stadt ganz pragmatisch nur
Trottoirs, Straßen & Plätze – also den materiellen Raum jenseits des privaten
Immobilienbereichs, will sagen: alle gegebenen (tradierten) Räume, auf/in denen
wir uns alle zu Fuß oder sonst wie alltäglich bewegen oder aufhalten (können).
Die Öffentlichen Parks spielen bei meine Betrachtungen nur insofern eine Rolle,
als auch sie räumlich reduziert werden könnten.
Möglicherweise bedürfte es einer surrealistischen Choc-Erfahrung, um plötzlich
einmal des unleugbaren Faktums inne zu werden, dass sich dieser Öffentliche Raum
im Verlauf des letzten Halbjahrhunderts sukzessive so verändert hat, dass heute
von seinem drohenden Verschwinden ohne polemische Übertreibung oder
kulturkritisches Ressentiment gesprochen werden kann, ja de facto muss!
3.
Warum spricht oder bedenkt dann keiner den prekär gewordenen Öffentlichen Raum?
Es wird quasi ununterbrochen davon gesprochen, weil seine Prekarität jedem
geläufig ist, der sich in ihm aufhält, z.B. wenn einer über „schlechte
öffentliche Verkehrsmittel“ oder virulente Parkplatznot etc.in den Städten
klagt. Aber keiner weiß noch oder ahnt mehr, dass er dabei über den immer
knapper gewordenen oder gar verschwundenen Öffentlichen Raum spricht. Der
Begriff wie das ihm entsprechende Faktum sind obsolet geworden. Warum? Weil
Jeder (individuell-motorisierte) & seine dadurch ermöglichte jederzeitige
Mobilität im Öffentlichen Raum seinen individuellen Gewinn aus ihm zog – bis nun
hin zum Boom des Paket-Liefer-Service etc. & der individuellen Privatisierung
des Öffentlichen Raums sowohl durch Trottoir-Gastronomie als auch Straße &
Trottoir zur Nutzung als Parkplatz. Seit jüngstem kommen noch E-Bikes & -Roller
dazu, mit denen sich immer mehr Menschen im (dadurch) immer enger gewordenen
Öffentlichen Raum bewegen können.
4.
Die Städte haben die schleichende massenhafte individuelle Indienstnahme, bzw.
ökonomische Nutzung nicht nur stillschweigend, wie selbstverständlich
hingenommen, sondern auch gefördert, indem sie sowohl kostenlose als auch
kostenpflichtige Parkgelegenheiten markierten. Vor allem durch Gewinnabschöpfung
in Form von Parkgebühren & Nutzungsabgaben (für Anwohnerparkplätze oder
Trottoir-Gastronomie) haben sie ihre kommunalen Gewinn-Interessen an die
Vermietung zur temporären individuellem Nutzung öffentlicher Räume immer mehr
erweitert (Ich frage mich, ob das Hilfspolizeiliche Personal, das die Ge- &
Verbote kontrolliert, bereits „nach Erfolg“ mit zusätzlichen Boni honoriert
wird.)
5.
Aber die Ahndung mit sogenannten „Bußgeldern“ für „Sünder“, die gegen
verkehrspolizeiliche Vorschriften vielfältigster Art verstoßen haben, ist sowohl
en détail als auch en masse wirkungslos, schon gar nicht nachhaltig, um eine
jeweilige Wiederholungstat oder- täterschaft abschreckend
einzuschränken, gar zu verhindern.
Zum einen, weil nur ein geringer Prozentsatz der massenhaften Delikte erkannt &
geahndet wird, zum anderen, weil die Bußgelder geringfügig sind. Sie sind in
jedem Fall himmelweit von drakonischen Strafen entfernt, von deren
Schmerzhaftigkeit allein eine nachhaltige Wirkung überhaupt noch zu erhoffen
wäre. Auch die entschiedenste Strafe – Abschleppen aufgrund einer polizeilichen
Anordnung – wird, wenn es überhaupt zu einer solchen polizeilichen Erkennung
gekommen ist, nur noch bei schwersten Verstößen angeordnet. (Sonst wären noch
mehr Abschleppdienste in den Straßen unterwegs als die verschiedenen
Paketablieferdiente.)
Wenn das „Bußgeld“ für dieselbe Parkzeit geringer ist als die Kosten für das
Parkhaus & davon ausgegangen werden kann, dass die Polizei weder regelmäßig noch
flächendeckend täglich kontrolliert, kann dieses eingeschränkte Risiko vom
bewussten Falschparker häufig, wo nicht sogar regelmäßig, eingegangen werden.
Auch „kassiert“ die Verkehrspolizei immer wieder nur an bestimmten, für den
„Ertrag“ aussichtsreichen Orten.
Überhaupt ist die Stadt-& Verkehrspolizei derart unterbesetzt (& Streifendienste
so gut wie obsolet), dass ihre sichtbare Präsenz nicht mehr vorhanden ist.
6.
Da die Parkplatznot von allen motorisierten Verkehrsteilnehmern als quasi
„natürlich“ angesehen & subkutan als unvermeidlicher allgemeiner Zustand
akzeptiert wird, bei dem jeder die Parkplatznot des anderen, gewissermaßen
„solidarisch“, anerkennt (weil er das gleiche für seine Parkplatz-Notdurft
erwartet), nimmt jeder die Verkehrsübertretung des anderen „verständnisvoll“
hin & hält dessen mögliche polizeiliche Ahndung für „bürokratisch“ & angesichts
der faktischen Notsituation des Falschparkers für „unangemessen“. Oder
schlichtweg für „Pech“.
7.
Das ethische Verhältnis des Bürgers zu „den Gesetzen“ (sowohl allgemein als auch
z.B. zur Straßenverkehrsordnung) ist lax. Dem entspricht die finanziell
geringfügige Ahndung im Deliktfall – sofern er nicht mechanisch-elektronisch
vorgenommen worden war & quasi automatisch verfolgt werden muss.
8.
Die Gesetze über den Gebrauch & die Fahrwegsbestimmung für E-Roller wie
Fahrräder sind weitgehend fiktiv, weil deren Einhaltung nicht kontrollierbar &
ahndbar ist: nicht nur, weil das entsprechende verkehrspolizeilische Personal
weder vorhanden noch vor Ort wäre, sondern auch, weil eventuelle
Geschwindigkeitsübertretungen nicht justiziabel zu fixieren wären (mangels
elektronischer Meldern). Die zwar verbotene, i.e. missbräuchliche, aber
angesichts der prekären Verkehrssituation auf den Innenstadtstraßen auch
wiederum verständliche.Nutzung der Fußgängerwege durch Fahrrad oder E-Roller
wird entweder so gut wie nie verfolgt (s.o) oder falls es durch die zufällige
Anwesenheit eines Polizisten zu einer Anzeige kommt, ist das Bußgeld zu gering,
um abschreckend zu wirken.
9.
Die neuen Gesetze für die Elektroroller haben nur einen zentralen Sinn &
Zweck: im Falle von notwendigerweise entstehenden Unfällen den Gerichten wie
den Anwälten als Handhabe zu dienen, um die jeweilige Schuldfrage juristisch zu
bestimmen. Überwiegend ist der E-Roller als elegantes Spielzeug erwachsener
Jugendlicher, die allein oder paarweise zum eigenen Vergnügen damit fahren, wo
sie wollen. E-Roller-Fahren ist offenbar derzeit noch ein neues öffentliches
Distinktionsmittel. Im Gegensatz zum Fahrrad, das sowohl die sportliche
Anstrengung als auch dabei eine gebückte Haltung verlangt, dürfte die
anstrengungslose Fahrweise in aufrechter Haltung ein psychologisches Plus für
die E-Roller sein; ebenso, dass man sich, nach Gebrauch, nicht um den weiteren
Verbleib des kurzzeitig gemieteten Geräts kümmern muss. Es wird stehen oder
liegengelassen im Öffentlichen Raum wie weggeworfenes Papier. Allerdings ist das
Wegwerfen von Papier oder Müll auf dem Trottoir verboten, straf- & ahndbar.
10.
Wie vergessen „der Öffentliche Raum“ (als Idee wie auch als städtischer Raum)
wirklich ist, demonstrierte kürzlich die SZ in zwei ganzseitigen Artikeln, die
auf die Platz- & Bewegungsnöte unserer Städte reagierten. In dem einen wurden
drakonisch erhöhte & verkürzte Parkgebühren in unseren Innenstädten propagiert,
um den individuellen Autoverkehr zu reduzieren (was z.B. in FFM schon geplant
ist), in dem anderen wurde wg. der Elektroroller eher ironisch „über eine neue
Form des Verteilungskampfs in deutschen Städten“ räsoniert.
Auf die Idee, dass hier in beiden Fällen über den motorisierten Ge-, bzw.
Verbrauch des Öffentlichen Raums gehandelt & verfügt wurde, ist keiner der
Autoren mehr gekommen – wie ja der „Öffentlichkeit“ der theoretische Begriff
ihrer selbst samt deren urbane Materialisierung im „Öffentlichen Raum“
abhandengekommen ist. Der darin inkubierte Gedanke des „Gemeinwohls“ erscheint
wohl unter dem Diktum des herrschenden neoliberalen Raubtier-Kapitalismus wie
ein obsoletes Relikt aus „kommunistischen“ Zeiten. Wo das summum bonum sich aus
der allseitigen ökonomischen Konkurrenz aller gegen alle gewissermaßen als
automatischer Mehrwert ergeben soll, kann der ökonomiefreie Öffentliche Raum
kein Tabu sein.
11.
Wie jeder weiß, sind unsere Innen-Städte – selbst jene, die nach den
Zerstörungen des 2.Weltkriegs „verkehrsfreundlich“ gestaltet wurden – für die
realen heutigen verkehrspolitischen Herausforderungen nicht ausgelegt. Der
vorhandene Raum an Straßen & auf ihnen an Parkplätzen ist für die modernste
Mobilität mit individuellem PKW nicht ausreichend. Erst recht, wenn die Breite
der immer populärer werdenden SUVs manche Straßen, in denen bislang Gegenverkehr
herrschte, quasi automatisch zu Einbahnstraßen schrumpfen lässt. Auch die
bestehenden Parkhäuser-Plätze sind für SUVs zu klein.
Zu viele beanspruchen auf zu kleinem Öffentlichem Raum Straßen-Parkplätze für
ihre (öfters mehreren) Fahrzeuge, wie auch in der Stadt jederzeit in ihrem
individuellen Auto mobil sein zu können & eine Parkmöglichkeit zu finden – ob
öffentlich (Straße, Parkhaus) oder privat (Garage, Privatparkplatz). Schon hört
man von regelmäßigen stundenlangen Parkplatzsuchen sowohl in Wohnungsnähe als
auch beim kurzzeitigen Besuch in den Stadtzentren.
12.
Dem durch temporäre Staus sich ankündigenden totalen Verkehrskollaps unserer
Innenstädte versucht man jetzt durch die einschneidende Erhöhung der
Parkgebühren, lokale oder temporäre Fahrverbote, Ausbau des öffentlichen
Nahverkehrs, Favorisierung des Rad-, bzw. E-Roller-Verkehrs entgegenzuwirken.
Zaghaft wurde auch schon einmal über elektronisch-algorithmische Hilfen
nachgedacht, um den vorhandenen Platz, zumindest für den PKW-Verkehr, zu
optimieren.
13.
Auch klima-politisch (CO2, Diesel etc.) läuft die derzeitige Argumentation gegen
das durch den Individualverkehr produzierte innerstädtische Fiasko. D.h. eher
über kurz als über lang wird der noch vorhandene Öffentliche Raum, obwohl nur
als potentiell private Nutzfläche verstanden, Mobilität in ihm nach den derzeit
herrschenden Verkehrs-Modus nicht mehr zulassen.
14.
Da (Beispiel Frankfurt a.M.) der innerstädtische Raum in den letzten Jahren für
immer größere, höhere Wohntürme genutzt wird (für Luxuswohnungen,
versteht sich, mit privaten Garagen), ist bereits eine exklusive innerstädtische
Bevölkerung entstanden. Sie lebt dort stationär, wohin die Mehrzahl der
Stadtbesucher nur temporär zum Arbeiten, „Shoppen“ & zum Amüsement in die
Großstadt kommt.(Wohntürme & deren Tiefgaragen sind Gated Communities!)
Sollte der Öffentliche Raum der Innenstädte in absehbarer Zeit für seine private
Nutzung zu klein & deshalb mit Fahrverboten reguliert werden, ist absehbar, dass
die dort – in der Innenstadt Heimischen – verlangen werden, dass primär sie
dort vor, bzw. gegenüber allen anderen unreglementiert mobil & motorisiert
sich bewegen können. D.h. im Extremfall würde der Öffentliche Raum der
Innenstädte exklusiv.
15.
Nur wenn der Öffentliche Raum (als Idee & als Faktum) gegen dessen ständige
exklusive private Nutzung im politisch-sozialen Bewusstsein restituiert würde,
wäre argumentativ, bzw. juristisch diese Tabuzone für das Allgemeinwohl zu
begründen oder zu verteidigen. D.h. man wird – wenn die individuelle
Motorisierung fortschreitet - nicht umhin können, die Innenstädte für den
Individualverkehr mit einem privaten PKW kategorisch zu sperren. Auch für
jene, die in der Innenstadt wohnen. (Sie könnten ihre PKWs nur benutzen, um die
innerstädtische Sperrzone zu verlassen oder in sie zurückzukehren. Diese
Bewegungen werden elektronisch kontrolliert & bei Verstößen so entschieden
geahndet, dass sie unterlassen werden.)
Der motorisierte städtische Verkehr bestünde dann nur noch aus öffentlichem
Nahverkehr (Bus & Bahn), Zulieferertransport, Taxi etc.
16.
Da der öffentliche Nahverkehr (wie ausgebaut auch immer) meist nur in die Nähe
der gewünschten Ziele kommt, müsste er ergänzt werden durch (Sammel-)Transport
in Taxis oder dergl. Wie ich einem Bericht der „Frankfurter Rundschau“
(12.10.19) entnehme, gibt es bereits in Hamburg derartige
Beförderungsmöglichkeiten. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Hessischen
Landtag erklärte nach eine Probefahrt mit einem solchen Verkehrsmodell:
„Mobilität muss nachhaltiger und vernetzter werden“.
Nachhaltiger wäre es, weil sich dieser innerstädtische Transport problemlos mit
Elektroautos betreiben ließe; vernetzter wäre es, wenn sich die individuellen
Kosten durch eine Chipkarte umstandslos abbuchen ließen.
Das Modell einer Kombination von Öffentlichem Nahverkehr in Kombination mit
minimalistischem Taxiverkehr im entschieden verkehrsberuhigten &
verkehrsentschlackten Öffentlichen Raum unserer Metropolen wird wohl noch aufs
Differenzierteste durchdacht & entwickelt werden (müssen).
Aber nur, wenn das Bewusstsein des von allen Bürgern restituierten &
respektierten Öffentlichen Raums zur unabdingbaren Grundlage einer
egalitär-demokratischen Verkehrspolitik in den Metropolen gemacht wird, besteht
die sozial-politische Aussicht, dass die brutale, lückenlose & besinnungslose
Reduzierung des Öffentlichen Raums zugunsten privater Interessen aufgehalten &
der Gedanke an das Gemeinwohl & die Öffentlichkeit nicht obsolet erscheinen,
sondern wieder produktiv werden können.
Artikel online seit
02.10.19
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