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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik

 











Foto: © Roderich Reifenrath

Die (hoffnungslose) Verteidigung des Öffentlichen Raums

Eine solipsistische Utopie

Von Wolfram Schütte

(In dankbarer Erinnerung an Jafar Panahi & sein „Taxi Teheran“)
 

1.
Was mir wie eine schöne Feerie vorschwebt, wird selbst, wenn es doch einmal realisiert werden würde, von mir gewiss nicht mehr erlebt werden. Utopien, die ein Achtzigjähriger hegt, haben den St. Nimmerleinstag schon hinter sich. Umso freier (was auch bedeutet: rücksichtsloser im Hinblick auf die Pragmatik) kann man dann die phantastische Reise ins Blaue hinein antreten (& sich ins Wünschenswerte träumen).

2.
In meiner Lebenszeit (soweit ich sie mit Verstand erlebt habe, also etwa ab dem 6. Lebensjahr, was bei mir heißt; ab 1945) habe ich die Veränderung & Einschränkung, bzw. das Verschwinden des Öffentlichen Raums durch die allgemeine technische Entwicklung unserer Gesellschaft miterlebt, wenn auch nicht wirklich bemerkt, erkannt, begriffen & ihre nachhaltigen Folgen auch nicht verstanden. Als es den Öffentlichen Raum noch fraglos & überall gab, hatten wir wohl gar keinen Begriff davon. Es ist wie mit Krankheit & Gesundheit: solange wir gesund sind, denken wir nicht an Krankheit; erst wenn sich ein Schmerz meldet, erfahren wir, dass wir bislang schmerzlos gelebt hatten. So bemerken wir erst die Existenz des Öffentlichen Raums im Augenblick seines Hinscheidens, Verschwindens oder seiner eingetretenen Abwesenheit (durch seine allgemeine, vielfältige, subjektive privatistische Nutzung).

Unter Öffentlichem Raum verstehe ich in einer Stadt ganz pragmatisch nur Trottoirs, Straßen & Plätze – also den materiellen Raum jenseits des privaten Immobilienbereichs, will sagen: alle gegebenen (tradierten) Räume, auf/in denen wir uns alle zu Fuß oder sonst wie alltäglich bewegen oder aufhalten (können). Die Öffentlichen Parks spielen bei meine Betrachtungen nur insofern eine Rolle, als auch sie räumlich reduziert werden könnten.

Möglicherweise bedürfte es einer surrealistischen Choc-Erfahrung, um plötzlich einmal des unleugbaren Faktums inne zu werden, dass sich dieser Öffentliche Raum im Verlauf des letzten Halbjahrhunderts sukzessive so verändert hat, dass heute von seinem drohenden Verschwinden ohne polemische Übertreibung oder kulturkritisches Ressentiment gesprochen werden kann, ja de facto muss!

3.
Warum spricht oder bedenkt dann keiner den prekär gewordenen Öffentlichen Raum? Es wird quasi ununterbrochen davon gesprochen, weil seine Prekarität jedem geläufig ist, der sich in ihm aufhält, z.B. wenn einer über „schlechte öffentliche Verkehrsmittel“ oder virulente Parkplatznot etc.in den Städten  klagt. Aber keiner weiß noch oder ahnt mehr, dass er dabei über den immer knapper gewordenen oder gar verschwundenen Öffentlichen Raum spricht. Der Begriff wie das ihm entsprechende Faktum sind obsolet geworden. Warum? Weil Jeder (individuell-motorisierte) & seine dadurch ermöglichte jederzeitige Mobilität im Öffentlichen Raum seinen individuellen Gewinn aus ihm zog – bis nun hin zum Boom des Paket-Liefer-Service etc. & der individuellen Privatisierung des Öffentlichen Raums sowohl durch Trottoir-Gastronomie als auch Straße & Trottoir zur Nutzung als Parkplatz. Seit jüngstem kommen noch E-Bikes & -Roller dazu, mit denen sich immer mehr Menschen im (dadurch) immer enger gewordenen Öffentlichen Raum bewegen können.

4.
Die Städte haben die schleichende massenhafte individuelle Indienstnahme, bzw. ökonomische Nutzung nicht nur stillschweigend, wie selbstverständlich hingenommen, sondern auch gefördert, indem sie sowohl kostenlose als auch kostenpflichtige Parkgelegenheiten markierten. Vor allem durch Gewinnabschöpfung in Form von Parkgebühren & Nutzungsabgaben (für Anwohnerparkplätze oder Trottoir-Gastronomie) haben sie ihre kommunalen Gewinn-Interessen an die Vermietung zur temporären individuellem Nutzung öffentlicher Räume immer mehr erweitert (Ich frage mich, ob das Hilfspolizeiliche Personal, das die Ge- & Verbote kontrolliert, bereits „nach Erfolg“ mit zusätzlichen Boni honoriert wird.)

5.
Aber die Ahndung mit sogenannten „Bußgeldern“ für „Sünder“, die gegen verkehrspolizeiliche Vorschriften vielfältigster Art verstoßen haben, ist sowohl en détail als auch en masse wirkungslos, schon gar nicht nachhaltig, um eine jeweilige Wiederholungstat oder- täterschaft  abschreckend einzuschränken, gar zu verhindern.

Zum einen, weil nur ein geringer Prozentsatz der massenhaften Delikte erkannt & geahndet wird, zum anderen, weil die Bußgelder geringfügig sind. Sie sind in jedem Fall himmelweit von drakonischen Strafen entfernt, von deren Schmerzhaftigkeit allein eine nachhaltige Wirkung überhaupt noch zu erhoffen wäre. Auch die entschiedenste Strafe – Abschleppen aufgrund einer polizeilichen Anordnung – wird, wenn es überhaupt zu einer solchen polizeilichen Erkennung gekommen ist, nur noch bei schwersten Verstößen angeordnet. (Sonst wären noch mehr Abschleppdienste in den Straßen unterwegs als die verschiedenen Paketablieferdiente.)

Wenn das „Bußgeld“ für dieselbe Parkzeit geringer ist als die Kosten für das Parkhaus & davon ausgegangen werden kann, dass die Polizei weder regelmäßig noch flächendeckend täglich kontrolliert, kann dieses eingeschränkte Risiko vom bewussten Falschparker häufig, wo nicht sogar regelmäßig, eingegangen werden.
Auch „kassiert“ die Verkehrspolizei immer wieder nur an bestimmten, für den „Ertrag“ aussichtsreichen Orten.
Überhaupt ist die Stadt-& Verkehrspolizei derart unterbesetzt (& Streifendienste so gut wie obsolet), dass ihre sichtbare Präsenz nicht mehr vorhanden ist.

6.
Da die Parkplatznot von allen motorisierten Verkehrsteilnehmern als quasi „natürlich“ angesehen & subkutan als unvermeidlicher allgemeiner Zustand akzeptiert wird, bei dem jeder die Parkplatznot des anderen, gewissermaßen „solidarisch“, anerkennt (weil er das gleiche für seine Parkplatz-Notdurft erwartet), nimmt jeder die Verkehrsübertretung des anderen  „verständnisvoll“ hin & hält dessen mögliche polizeiliche Ahndung für „bürokratisch“ & angesichts der faktischen Notsituation des Falschparkers für „unangemessen“.  Oder schlichtweg für „Pech“.

7.
Das ethische Verhältnis des Bürgers zu „den Gesetzen“ (sowohl allgemein als auch z.B. zur Straßenverkehrsordnung) ist lax. Dem entspricht die finanziell geringfügige Ahndung im Deliktfall – sofern er nicht mechanisch-elektronisch vorgenommen worden war & quasi automatisch verfolgt werden muss.

8.
Die Gesetze über den Gebrauch & die Fahrwegsbestimmung für E-Roller wie Fahrräder sind weitgehend fiktiv, weil deren Einhaltung nicht kontrollierbar & ahndbar ist: nicht nur, weil das entsprechende verkehrspolizeilische Personal weder vorhanden noch vor Ort wäre, sondern auch, weil eventuelle Geschwindigkeitsübertretungen nicht justiziabel zu fixieren wären (mangels elektronischer Meldern). Die zwar verbotene, i.e. missbräuchliche, aber angesichts der prekären Verkehrssituation auf den Innenstadtstraßen auch wiederum verständliche.Nutzung der Fußgängerwege durch Fahrrad oder E-Roller wird entweder so gut wie nie verfolgt (s.o) oder falls es durch die zufällige Anwesenheit eines Polizisten zu einer Anzeige kommt, ist das Bußgeld zu gering, um abschreckend zu wirken.

9.
Die neuen Gesetze für die Elektroroller haben nur einen zentralen Sinn & Zweck: im Falle von notwendigerweise entstehenden Unfällen den Gerichten wie den Anwälten als Handhabe zu dienen, um die jeweilige Schuldfrage juristisch zu bestimmen. Überwiegend ist der E-Roller als elegantes Spielzeug erwachsener Jugendlicher, die allein oder paarweise zum eigenen Vergnügen damit fahren, wo sie wollen. E-Roller-Fahren ist offenbar derzeit noch ein neues öffentliches Distinktionsmittel. Im Gegensatz zum Fahrrad, das sowohl die sportliche Anstrengung als auch dabei eine gebückte Haltung verlangt, dürfte die anstrengungslose Fahrweise in aufrechter Haltung ein psychologisches Plus für die E-Roller sein; ebenso, dass man sich, nach Gebrauch, nicht um den weiteren Verbleib des kurzzeitig gemieteten Geräts kümmern muss. Es wird stehen oder liegengelassen im Öffentlichen Raum wie weggeworfenes Papier. Allerdings ist das Wegwerfen von Papier oder Müll auf dem Trottoir verboten, straf- & ahndbar.

10.
Wie vergessen „der Öffentliche Raum“ (als Idee wie auch als städtischer Raum) wirklich ist, demonstrierte kürzlich die SZ in zwei ganzseitigen Artikeln, die auf die Platz- & Bewegungsnöte unserer Städte reagierten. In dem einen wurden drakonisch erhöhte & verkürzte Parkgebühren in unseren Innenstädten propagiert, um den individuellen Autoverkehr zu reduzieren (was z.B. in FFM schon geplant ist), in dem anderen wurde wg. der Elektroroller eher ironisch „über eine neue Form des Verteilungskampfs in deutschen Städten“ räsoniert.

Auf die Idee, dass hier in beiden Fällen über den motorisierten Ge-, bzw. Verbrauch des Öffentlichen Raums gehandelt & verfügt wurde, ist keiner der Autoren mehr gekommen – wie ja der „Öffentlichkeit“ der theoretische Begriff ihrer selbst samt deren urbane Materialisierung im „Öffentlichen Raum“ abhandengekommen ist.  Der darin inkubierte Gedanke des „Gemeinwohls“ erscheint wohl unter dem Diktum des herrschenden neoliberalen  Raubtier-Kapitalismus wie ein obsoletes Relikt aus „kommunistischen“ Zeiten. Wo das summum bonum sich aus der allseitigen ökonomischen Konkurrenz aller gegen alle gewissermaßen als automatischer Mehrwert ergeben soll, kann der ökonomiefreie Öffentliche Raum kein Tabu sein.

11.
Wie jeder weiß, sind unsere Innen-Städte – selbst jene, die nach den Zerstörungen des 2.Weltkriegs „verkehrsfreundlich“  gestaltet wurden – für die realen heutigen verkehrspolitischen Herausforderungen nicht ausgelegt. Der vorhandene Raum an Straßen & auf ihnen an Parkplätzen ist für die modernste Mobilität mit individuellem PKW nicht ausreichend. Erst recht, wenn die Breite der immer populärer werdenden SUVs manche Straßen, in denen bislang Gegenverkehr herrschte, quasi automatisch zu Einbahnstraßen schrumpfen lässt. Auch die bestehenden Parkhäuser-Plätze sind für SUVs zu klein.

Zu viele beanspruchen auf zu kleinem Öffentlichem Raum Straßen-Parkplätze für ihre (öfters mehreren) Fahrzeuge, wie auch in der Stadt jederzeit in ihrem individuellen Auto mobil sein zu können & eine Parkmöglichkeit zu finden – ob öffentlich (Straße, Parkhaus) oder privat (Garage, Privatparkplatz). Schon hört man von regelmäßigen stundenlangen Parkplatzsuchen sowohl in Wohnungsnähe als auch beim kurzzeitigen Besuch in den Stadtzentren.

12.
Dem durch temporäre Staus sich ankündigenden totalen Verkehrskollaps unserer Innenstädte versucht man jetzt durch die einschneidende Erhöhung der Parkgebühren, lokale oder temporäre Fahrverbote, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Favorisierung des Rad-, bzw. E-Roller-Verkehrs entgegenzuwirken. Zaghaft wurde auch schon einmal über elektronisch-algorithmische Hilfen nachgedacht, um den vorhandenen Platz, zumindest für den PKW-Verkehr, zu optimieren.

13.
Auch klima-politisch (CO2, Diesel etc.) läuft die derzeitige Argumentation gegen das durch den Individualverkehr produzierte innerstädtische Fiasko. D.h. eher über kurz als über lang wird der noch vorhandene Öffentliche Raum, obwohl nur als potentiell private Nutzfläche verstanden, Mobilität in ihm nach den derzeit herrschenden Verkehrs-Modus nicht mehr zulassen.

14.
Da (Beispiel Frankfurt a.M.) der innerstädtische Raum in den letzten Jahren für immer größere, höhere Wohntürme genutzt wird (für Luxuswohnungen, versteht sich, mit privaten Garagen), ist bereits eine exklusive innerstädtische Bevölkerung entstanden. Sie lebt dort stationär, wohin die Mehrzahl der Stadtbesucher nur temporär zum Arbeiten, „Shoppen“ & zum Amüsement in die Großstadt kommt.(Wohntürme & deren Tiefgaragen sind Gated Communities!)

Sollte der Öffentliche Raum der Innenstädte in absehbarer Zeit für seine private Nutzung zu klein & deshalb mit Fahrverboten reguliert werden, ist absehbar, dass die dort – in der Innenstadt Heimischen – verlangen werden, dass primär sie dort vor, bzw. gegenüber allen anderen unreglementiert mobil & motorisiert sich bewegen können. D.h. im Extremfall würde der Öffentliche Raum der Innenstädte exklusiv.

15.   
Nur wenn der Öffentliche Raum (als Idee & als Faktum) gegen dessen ständige exklusive private Nutzung im politisch-sozialen Bewusstsein restituiert würde, wäre argumentativ, bzw. juristisch diese Tabuzone für das Allgemeinwohl zu begründen oder zu verteidigen. D.h. man wird – wenn die individuelle Motorisierung fortschreitet - nicht umhin können, die Innenstädte für den Individualverkehr mit einem privaten PKW kategorisch zu sperren. Auch für jene, die in der Innenstadt wohnen. (Sie könnten ihre PKWs nur benutzen, um die innerstädtische Sperrzone zu verlassen oder in sie zurückzukehren. Diese Bewegungen werden elektronisch kontrolliert & bei Verstößen so entschieden geahndet, dass sie unterlassen werden.)

Der motorisierte städtische Verkehr bestünde dann nur noch aus öffentlichem Nahverkehr (Bus & Bahn), Zulieferertransport, Taxi etc.

16.
Da der öffentliche Nahverkehr (wie ausgebaut auch immer) meist nur in die Nähe der gewünschten Ziele kommt, müsste er ergänzt werden durch  (Sammel-)Transport in Taxis oder dergl. Wie ich einem Bericht der „Frankfurter Rundschau“ (12.10.19) entnehme, gibt es bereits in Hamburg derartige Beförderungsmöglichkeiten. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Hessischen Landtag erklärte nach eine Probefahrt mit einem solchen Verkehrsmodell: „Mobilität muss nachhaltiger und vernetzter werden“.

Nachhaltiger wäre es, weil sich dieser innerstädtische Transport problemlos mit Elektroautos betreiben ließe; vernetzter wäre es, wenn sich die individuellen Kosten durch eine Chipkarte umstandslos abbuchen ließen.

Das Modell einer Kombination von Öffentlichem Nahverkehr in Kombination mit minimalistischem Taxiverkehr im entschieden verkehrsberuhigten & verkehrsentschlackten Öffentlichen Raum unserer Metropolen wird wohl noch aufs Differenzierteste durchdacht & entwickelt werden (müssen).

Aber nur, wenn das Bewusstsein des von allen Bürgern restituierten & respektierten Öffentlichen Raums zur unabdingbaren Grundlage einer egalitär-demokratischen Verkehrspolitik in den Metropolen gemacht wird, besteht die sozial-politische Aussicht, dass die brutale, lückenlose & besinnungslose Reduzierung des Öffentlichen Raums zugunsten privater Interessen aufgehalten & der Gedanke an das Gemeinwohl & die Öffentlichkeit nicht obsolet erscheinen, sondern wieder produktiv werden können.  

Artikel online seit 02.10.19
 

 


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