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Drogen-Beratschlag(ung)

Selbstreflexion über Christoph Türckes Streitschrift
gegen die
»Digitale Gefolgschaft«

Von Wolfram Schütte

 

Liegt es einzig an der politischen & moralischen Sozialisation in der (west)deutschen Nachkriegszeit, dass einem als Angehörigen dieser Generation Wörter wie »Follower« oder »Influencer« auf Anhieb suspekt, um nicht zu sagen: negativ kontaminiert erscheinen? Und zwar sowohl in Bezug auf jene, die »Einfluss« haben, als auch auf jene, die ihnen oder anderen millionenfach »folgen«. (»Führer, befiehl! Wir folgen!«)

Was ist das für eine Gesellschaft, in der Einflussagenten – wenn auch nur als Werbeschlepper im Konsumkrieg – bewunderte Vielverdiener sind: ohne eine Qualifikation für ihr Urteil oder wenigstens als Sportler, Künstler oder Schauspieler ein anerkannt/erworbenes Renommee zu besitzen? Was ist das für eine Gesellschaft, in der individuelle Stellung/Achtung/Ansehen einer Person danach bestimmt wird, wie viele »Follower« sie (im Vergleich zu anderen) hat?

Die Gesellschaft, von der hier die Rede ist, existiert »nur« virtuell. Sie ist eine komplette Erfindung, die wir jedes Mal aufrufen, betreten & erleben, wenn wir uns ins internationale Netz begeben. Gleichgültig, mit welchen Mitteln (Computer Tablet, Smartphone) wir uns im Netz bewegen, basiert dessen wie deren Existenz, Gebrauch & Funktionsweise auf  Elektrizität (& dem Vorhandensein von Vermittlungsgeräten (Glasfaserkabel, Wlan, Sendemasten etc.).

Es scheint mit der Eröffnung des www.net hinterrücks, will sagen: ohne dass es jemand bemerkt hat, Swedenborgs metaphysischer Spiritismus technologisch verwirklichbar geworden zu sein.

Im Gegensatz zur Existenz im Real-Lokalen, vulgo im »analogen« Leben, in das wir mit Fleisch & Blut eingeboren wurden & bis zum physischen Tod leben, ist der Aufenthalt im Virtuellen potentiell grenzen-, wo nicht sogar zeitlos. (Im Internet kann »die Spur von meinen Erdentagen / nicht in Äonen untergehn«, allerdings so unauffindbar sein wie die Nadel im Heuhaufen.) Denn das Abenteuer Internet gleicht dem, was der englische Schriftsteller (& Mathematiker!) Lewis Carroll als erzählerisches Phantasma für seine Kinderbücher »Alice im Wunderland« & »Alice hinter den Spiegeln« sich erfand & ausmalte: ein sowohl fremdes als auch vertrautes Universum - das sein Besucher im Internet z.B. via Smartphone, durch taktile Minimalbewegungen, auf dem Bildschirm (als dem sinnlichen Ort der Erscheinung dieser »Welt«), aufruft & durchquert.

Wie selbstverständlich, sprich: dominant dieser Kontakt mit dem virtuellen Universum in unserem analogen Alltagsleben derzeit schon (geworden) ist, bemerkt jeder, der heute das somnambule Versunkensein auf der Straße Gehender beobachtet, die auf ihr Smartphone starren oder es im Gehen & Sitzen laufend befingern. (Erinnern diese »Smartphonier« nicht an den filmischen Albtraum George A. Romeros, der die reale Welt in »Night of the Living Dead« von Zombies durchsetzt sein lässt?)

Oder weiß man nicht auch von sich selbst, dass heute der Tag zuhause mit dem Einschalten des Computers beginnt & große Zeitteile des Tages vor ihm verbracht werden – ob zuhause oder im Betrieb. Denn er ist – wie seine jüngste mobile  Fortentwicklung, das Smartphone - Unterhaltungs- & Arbeits-, wenn nicht gar Orientierungselement unseres Alltags, zu dem heute bereits nahezu selbstverständlich »Facebook«, »Instagram« & »Twitter« gehören – wie Wind & Wetter?

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Man sollte sich noch (oder erst) einmal vor Augen stellen, dass mit der kommerziellen Nutzung des Internets in den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine technologisch bedingte, grundsätzliche Veränderung unserer alltäglichen Lebens- & Arbeitswelt eingetreten ist, die unter dem Begriff der totalen, um nicht zu sagen totalitären »Digitalisierung« zusammenzufassen wäre. Mit rasender Geschwindigkeit verbreitet sie sich unaufhaltsam & hocherwünscht global, wenngleich staatliche Autoritäten fieberhaft daran arbeiten, sektorale nationale Kontrolle darüber zu gewinnen.

Denn erst einmal lockt das Internet mit dem »Mahagonny«-Versprechen, wonach dort jeder alles dürfen darf, vulgo: mit schrankenloser Freiheit, unzensierter oder undisziplinierter Unmittelbarkeit & permanenter Anarchie. Alles ist, alle sind: gleich (wertig/wichtig).

Ist damit die vom seligen Herbert Marcuse gefeierte & erwünschte »Entsublimierung« des bislang vom gesellschaftlichen Überich dominierten Subjekts radikal gelungen? Endlich hemmungslos leben (wenn auch nur virtuell), nicht wahr? Unter der Tarnkappe der Anonymität jederzeit zu allem seinen Senf & vor allem dem feixenden Affen Zucker geben oder zum eigenen Vergnügen & dem applaudierender Gesinnungsgenossen im Netz die tobende Sau rauslassen in die Cloaca maxima auf- & abschwellender »Shitstorms«?

Und was kann man doch sich in Sekundenbruchteilen alles ergooglen oder mit Wikipedia an Wissen & Erkenntnis »sichern«!

Der emeritierte Philosoph Christoph Türcke hat – nach einer ganzen Reihe zeit-, gesellschafts- & mentalitätskritischer literarischer Eingriffe – nun seine jüngste Streitschrift der »Digitalen Gefolgschaft« gewidmet, weil er uns alle unwiderruflich »auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft« sieht.

So polemisch zugespitzt, wie seine Titelei zu sein scheint, ist sie aber für den Kenner unter den Liebhabern der digitalen Weltrevolution nicht. Die Zahl der Kritiker, Abtrünnigen & Warner, die jenseits kulturkonservativer Bedenkenträgerei dem einst so allseits begrüßten, bewunderten & hofierten Medium heute skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, ist in den letzten Jahren stetig gewachsen – wenn auch nicht im Entferntesten so sehr, wie das kollektive Verlangen nach der Teilhabe am Smartphone-Hype, das wohl bald bei uns in Mitteleuropa den Rang eines fundamentalen Lebensmittels erreicht, worauf auch der Sozialhilfe-Empfänger ein Recht habe (bzw. dieser vor allem!?) Und wird man nicht, selbst wenn man sich nur in der analogen Welt des öffentlich-rechtlichen TV oder Radio aufhält, laufend darauf verwiesen, in die virtuelle zu wechseln, wenn man z.B. bei der Tagesschau zu Themen,  Fakten oder Personen »mehr wissen will«?

Türckes Buch, besteht aus 4 Großkapiteln: »1. Der High-Tech-Dschungel, 2. Die Auflösung der Öffentlichkeit, 3. Digitale Gefolgschaft, 4. Ausblick«. Es zapft seine Quellen an vielerlei Orten an & bezieht seine Substanzen aus der wachsamen Wahrnehmung öffentlicher Diskussionen & Debatten über die umfassende Digitalisierung unserer modernen Gesellschaften. Türckes Streitschrift ist so stoffreich & vielsichtig, dass ich, auf den erstaunlich ausgreifenden Essay mit Entschiedenheit verweisend, nur ein paar seiner Thesen herausgreifen werde, die mich in der letzten Zeit besonders beschäftigt haben.   

Ausgehend von der euphorisch verstandenen Utopie des berühmten kanadischen »Medien-Philosophen« Marshall McLuhan (1911/1980), wonach (damals noch nur durch das Fernsehen) »die Familie der Menschheit wieder zu einem großen Stamm« werde, die in einem »globalen Dorf« miteinander rund um den Erdball kommuniziere, nimmt Türcke die archaisierenden Metaphern von »Stamm« & »Dorf« ernst, will sagen: wörtlich. Und zwar, weil er im Web (samt allem, was es bedingt, bzw. ins Leben gerufen hat) gewissermaßen die Copy Paste erblickt, die sich die Menschheit aus eigener (prometheischer) Macht nach dem mundialen Realvorbild ihrer psycho-physischen Existenzweise mikro-elektronisch erschaffen hat & woran sie nun im analogen Leben sichtlich so klebt, als sei das Virtuelle das (wirklich) Wirkliche.

Das ist es auch für Viele, weil die imaginäre Überschreitung des Ichs, die man als lokales Subjekt im analogen Leben bislang nur qua individueller Phantasiearbeit & nur für sich herstellen konnte, nun durch die jederzeitige Teilhabe im Mikrochip-Universum des Virtuellen substantiell erweitert & mobilisiert wird (wenn nicht gar scheinbar »objektiviert«). Die sinnliche, audio-visuelle Suggestion, quasi durch eine Hand-bzw. Fingerbewegung im Universum des Virtuellen zu sein, sich in ihm zu bewegen, weil man es in seiner unendlichen Fülle (wie Prospero) herbei- & aufrufen & vor allem(!) mit anderen dort auch kommunizieren kann, wenn man (wie z.B. im realen Dschungel ein Dorf) im virtuellen Dschungel die richtige Plattform  gefunden hat: - Das ist doch wohl der primäre psychologische Grund für die unwiderstehliche Attraktivität & die rasante Karriere der digitalen Welt in unserem modernen Leben.

Türcke begründet zurecht deren Herkunft aus der Taylorisierung – die qua Digitalisierung weit über deren ursprüngliche Funktion im Arbeitsprozess heute fortschreitend in alle Lebensbereiche eingreift: die »treibenden Kräfte  heißen Formalisierung und Informalisierung. Sie waren schon längst vor der Digitalisierung wirksam, haben aber durch sie einen epochalen Intensitätsschub bekommen. Seither wuchern sie wie ein Dschungel«..

Um bei der Dschungel-Metapher Türckes zu bleiben: wie sollte/könnte man angesichts dieser totalen »Neuen Unübersichtlichkeit« (Habermas) im High-Tech-Dschungel umhergehen oder wie sich im virtuellen Universum orientieren? Denn zwar ist der besagte »Dschungel« durch seine binäre Struktur formalisiert, aber da in ihm das Subjekt quasi »nackt« ist, benötigt es Orientierungshilfen (Scouts), die im »Zivilisationsprozess« des analogen Lebens sich im Laufe der Jahrtausende zu immer komplexeren, differenzierteren Vermittlungsformen & -formaten, Gesetzen & Erkenntnismitteln entwickelt hatten. Sie steuern unsere Psyche, unsere alltäglichen Verhaltensweisen & unseren (inner)gesellschaftlichen Verkehr. Moralisch z. B. was wir offen gegenüber anderen äußern oder was wir bloß nur für uns denken, mutmaßen oder unterstellen & unausgesprochen lassen: - eine Schutzbarriere für uns & unsere Mitmenschen. Ein fundamentaler kultureller Standard im analogen Leben. Im Virtuellen, bzw. vollends im Schutz der Anonymität wird er leicht(er) preisgegeben. Schon sucht die Mediensoziologie mit dem Begriff einer »Empörungsdemokratie« das Phänomen zu definieren.

Wurde nicht eben aufgrund des »durchschlagenden Erfolgs«, den Rezo mit seinem Youtube-Video «Die Zerschlagung der CDU« millionenfach hatte, sowohl der offenbar unter Jugendlichen längst bekannte »Youtuber Rezo« den ignoranten Printlesern bekannt, als auch  das Faktum, dass »die jungen Leute« in Deutschland seit geraumer Zeit Youtube als Plattform nutzen, um sich aktuell über die laufenden Ereignisse zu informieren?

Es ist doch wohl so: wo unsereins noch verbal googelt oder die Text-Beute der Perlentaucher nachliest, ist »die Jugend« schon weiter, indem sie sich gleich, (bzw. nur noch) auf  Youtube ikonografisch umsieht!

Wenn die Entstehung der Schrift mit der Sesshaftigkeit eintrat & erst recht mit der Ablösung der Bilderschriften (ägyptisch) durch die Buchstabenschrift auch zu einer physiologischen Wahrnehmungsveränderung der Menschen führte, welche den Blick auf die Konzentration fokussierte, um die hochkomplexe sprachliche Nuancierung kommunikativ zum Klingen, will sagen: Verständnis zu bringen, entsprach der nomadischen Lebensweise in der Natur eine physiologische Wahrnehmung, die den gesamten Gesichtskreis auf potentielle Gefahren, Veränderungen oder mögliche Ziele absuchte. Beide unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen werden wie andere Kulturtechniken (z.B. das Lesen) erlernt, verinnerlicht & können aber auch wieder verloren werden.

Weil er den sogenannten »Iconic Turn« im Internet auf dem Vormarsch sieht (z.B. Emoticons statt Verbalisierungen), diagnostiziert Türcke in der Gegenwart einen schon eingetretenen allgemeinen Verlust an Differenzierung & langfristig das Verschwinden des intellektuellen Vermögens. So kommt der Philosoph zur Ansicht einer Retrobewegung »ins Archaische auf  High-Tech-Niveau« – umso mehr, als die »Lernfähigkeit«, die wir mit jedem Besuch einer Plattform (wie z.B. Google) akkumulieren, nur affirmative, mit unseren bisher gespeicherten Interessen kompatible Informationen zuspielt. So entsteht die solipsistische Informationsblase.  

Indem er sowohl die Erfindung der Suchmaschine Google als auch die von Facebook anekdotisch zurückbindet an »gewisse menschliche Schwächen« wie Eitelkeit & Voyeurismus, könnte man in beiden auch archaische Verhaltensnormen des Homo Sapiens im Kosmos seines selbstgeschaffenen virtuellen Universums sehen oder zumindest mutmaßen. Und zwar derart: Im High-Tech-Dschungel präsentiert ihm die Suchmaschine die jeweilige primäre Führungsmacht, der er sich ohnmächtig & konformistisch unterwerfen kann, im »Ranking« kehrt der Ritus des numinosen Orakels (mittels algorithmischer Bestimmungen) wieder, wohingegen Facebook/Instagram seinem Clubmitglied  erlaubt oder es dazu animiert, launische, von momentanen Emotionen bestimmte Willkür, bzw. Allmacht durch den neronischen Gestus auszuleben. Im Like/Dislike des erhobenen oder gesenkten Daumens ist jeder souverän, weil jedermann über jeden Ausnahmefall verfügen kann. (Carl Schmitts autoritär-elitäre Definition wird im »Shitstorm« gewissermaßen ubiquitär, was mancherorts fälschlicherweise für eine längst fällige »Demokratisierung« gehalten wird.)

Beim Erstaunen über die heutige Wunderlichkeit unserer technoiden Alltagsmodifikationen dürfte Friedrich Schillers Behauptung, der Mensch sei nie mehr Mensch, als dann, wenn er spiele, als aktueller interpretativer Ansatz eine überraschende Relevanz besitzen. Denn selbstverständlich hängt unsere drogenhafte, drogensüchtige Art des Umgangs zusammen mit den spielerisch erzeugten Virtualitäten & ihren mannigfaltigen suggestiven Möglichkeiten auf dem Smartphone. Obwohl man doch selbst stationär ist & ans analoge Leben gebunden bleibt, kann man via Smartphone dennoch die existenzielle Erfahrung machen, höchst mobil zu sein  & sich selbst als Handelnden zu erleben.

Dieses süchtig gesuchte Glücksgefühl virtueller Allmacht »annulliert« mit einer Bewegung »Langeweile«, i.e. unverplante, »nutzlose« Zeit, weil inaktives, wartendes Sein; und »befreit« sowohl von der strukturellen Isolation, Ohnmacht & Sinnlosigkeit der meisten individuellen Existenzen in unseren kapitalistischen Gesellschaften als auch von den generellen Anforderungen, Ansprüchen & Abstraktionen des analogen modernen Gesellschaftslebens. Dessen »disziplinierende«, regulative Strukturen – also das, was den politisch-sozialen Begriff der »Öffentlichkeit« konstituiert – geht jedoch mit dieser scheinbaren Freiheit & vermeintlichen »direkten Demokratie« verloren. (Wo permanentes «Ranking« tonangebend herrscht, ist von Minderheitenschutz nicht mehr die Rede, obgleich er substantiell zur Demokratie gehört. Oder wie Türcke formuliert: »Praktiziert wird unablässige Basisdemokratie ohne res publica«).

Solange die »analoge« Gesellschaft weder willens noch in der Lage ist, zu erkennen & entschieden zu verteidigen, was sie im mehrtausendjährigen Prozess der Zivilisation an kooperativen & stabilisierenden Faktoren des Rechts-, Sozial- & Kulturlebens entwickelt & im Begriff & Faktum von »Öffentlichem Raum«, »Gemeinwohl«, »Öffentlichkeit« zusammengefasst hat, bleibt der kollektive Weg in die »Digitale Gefolgschaft« à jour – und zwar vornehmlich im immer enger werdenden öffentlichen Raum während dessen totaler Privatisierung.

»Unsichtbar macht sich die Dummheit, wenn sie genügend große Ausmaße angenommen hat«. (Brecht)  

Artikel online seit 13.06.19
 

Christoph Türcke
Digitale Gefolgschaft
Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft
C.H.Beck, München 2019
251 Seiten brosch.,
16.95 €

Leseprobe

 


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