Ein
großartiges und furchtbares Buch. Ergreifend und empörend. Der Roman erzählt
eine wahre Geschichte, die einem die Tränen in die Augen treibt und vor Zorn, ja
einer unbändigen Wut erbeben lässt.
Colson Whitehead, 1969 in New York geboren, erzählt auch hier wieder von der
(Leidens-) Geschichte der Schwarzen in Amerika. Sein ebenfalls grandioser Roman
»Underground Railroad«, vor zwei Jahren auf Deutsch erschienen, mit dem Pulitzer
Preis und dem National Book Award ausgezeichnet, wurde zum Welterfolg. Sein
neuer Roman, »Die Nickel Boys«, raffiniert gebaut, spannend erzählt, sollte zur
Pflichtlektüre werden.
Elwood Curtis lebt mit seiner Großmutter Harriet in Tallahassee, Florida. Die
Eltern haben sich davon gemacht, als er sechs Jahre alt war. Elwood ist
intelligent, ehrgeizig und fleißig. Als Schwarzer träumt er davon, einmal »wie
die weißen Jungen den Vergnügungspark ›Fun Park‹ besuchen zu dürfen«. Die
Rassentrennung ist noch nicht aufgehoben. Er besitzt eine Schallplatte mit Reden
von Martin Luther King, in denen der seiner Tochter eindrucksvoll versichert:
»Obwohl du Fun Town nicht betreten darfst, bist du genauso viel wert wie jeder,
der hineindarf«.
Elwoods Lehrer Mr. Hill verschafft ihm einen Platz in einem College für Farbige,
ganz in der Nähe. Um sich im College einzuschreiben, will er dorthin trampen.
Damit beginnt seine tragische Geschichte. Er steigt ein in gestohlenes Auto. Die
Polizei erwischt den Fahrer und beide jungen Männer werden in die
Besserungsanstalt »Nickel« eingewiesen. Anfangs hat Elwood noch Hoffnung,
immerhin gibt es »üppige grüne Gärten, alte Bäume« und ein Gelände ohne Zäune
und die minderjährigen Häftlinge sollen Unterricht erhalten.
Er ist dort zwar unschuldig gelandet, wusste aber, dass das bei einem Schwarzen
keine Rolle spielt. Die Hautfarbe genügt als Schuldbeweis. Er sagte sich, »ich
mache das Beste daraus«. Doch die Besserungsanstalt »Nickel« war ein Ort der
blanken Willkür und ungehemmten Brutalität. Hier wurde gefoltert und gemordet.
Neuankömmlinge fragten sich anfangs, was das nächtliche »monströse Rauschen und
Sausen« zu bedeuten hatte. Sie sollten es bald erfahren. Ein riesiger Ventilator
übertönte die Schreie der Jungens, die mit Lederriemen geschlagen wurden. Den
Großteil der Kleidung und Essenszuteilungen verhökerten die Wärter auf dem
Schwarzmarkt.
Whiteheads erschütternder Roman basiert auf Tatsachen, die 2014 aufgedeckt
wurden. Die Anstalt war 2011 geschlossen worden und auf dem Gelände sollte ein
Neubauviertel entstehen. Bei der Aushebung der Baugrube wurden Dutzende
Leichname mit eingeschlagenen Schädeln oder Brustkörben und gebrochenen Beine
gefunden. Entlassene Jugendliche hatten zwar mehrfach auf die entsetzlichen
Zustände in der Anstalt hingewiesen, geglaubt wurde ihnen nicht. Viele der
Zöglinge konnten aber auch später nicht über ihre Leidensgeschichte reden. Zu
tief saß das Trauma. Auch Elwood Curtis, der später heiratet und sich eine
bürgerliche Existenz aufbaut, wird ein Leben lang ein doppeltes Geheimnis mit
sich herumtragen. Er wird nie darüber sprechen (können), dass er ein Jahr seines
Lebens im »Nickel« verbracht hat und erst recht nicht über das, was dann auf
seiner Flucht passiert ist. Die grausame Zeit im »Nickel« wird ihn sein Leben
lang verfolgen. Die Lehre, die er daraus gezogen hat, ist schlicht: »Du sollst
nicht lieben, denn man wird dich im Stich lassen, du sollst nicht vertrauen,
denn man wird dich verraten, du sollst nicht aufbegehren, denn man wird dich
Mores lehren«.
Von den Verantwortlichen der Gewalt und der Verbrechen im »Nickel« wurde
übrigens kein einziger zur Rechenschaft gezogen.
Artikel
online seit 07.08.19
Wir danken dem
Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt &
Rhein-Main
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Colin
Whitehead
Die Nickel Boys
Roman
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser Verlag, München 2019;
224 Seiten
23,00 €
Leseprobe
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