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Deutsches Herz der Finsternis

Zur Befreiung von Auschwitz

Von Lars Hartmann

»Der Faschismus war nichts als Menschenwerk, dies offenbar sich noch in der jeglicher Dämonie spottenden »Banalität des Bösen«. Er kann sich real auf keine höhere Gewalt berufen. Damit aber schlägt jede gesellschaftstheoretische Kritik des Faschismus, die […] ohne die Konstruktion einer höheren Gewalt nicht existieren kann, in Affirmation um, in reine Rechtfertigung dessen, was um keinen Preis zu rechtfertigen ist. Die Theorie sucht nach Gründen. Für die planmäßige Vernichtung von 6 Millionen Menschen, die noch nicht einmal zum Vorteil irgendeines anderen ausgebeutet, sondern einfach nur vernichtet werden, gibt es aber keine Gründe. Und jeder Versuch, sie dennoch zu konstruieren, muß zurückgewiesen werden.« (Wolfgang Pohrt)



Foto vom Torhaus Auschwitz-Birkenau, Ansicht von innen,
kurz nach der Befreiung durch die Rote Armee, Fotograf
Stanisław Mucha

Attribution:
Bundesarchiv, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha / CC-BY-SA 3.0

»Aus der Richtung Kattowitz sah man das Feuer von Auschwitz noch 20 km weit.« (Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden)

Ein Höllenschlund und doch nur ein grobes Ahnen. Hilberg beschreibt in seinem Standardwerk »Die Vernichtung der Juden« wie die Nazis alles taten, um ihr Morden zu verbergen, um diese Orte der Vernichtungslager, die zugleich Nicht-Orte waren, in einen Schleier zu legen: Sobibor, Auschwitz-Birkenau, Maydanek, Belzek, Treblinka, Kulmhof. Nicht einmal der Vorzeige-Nazi und des Führers Jurist Hans Frank, immerhin Generalgouverneur des von der Wehrmacht besetzten Polens, wurde in Auschwitz vorgelassen. Man wies ihn mit einer läppischen Erklärung ab, man schickte ihn und seine Entourage zurück: Seuchengefahr! Bis 1944 kamen rund 2,7 Millionen Menschen in diesen Lagern ums Leben. Sie wurden ermordet.

»Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet‘, sagt ein jeder Parteigenosse, ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‘ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei –abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zuschreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte, denn wir wissen, wie schwer wir uns täten, wenn wir heute noch in jeder Stadt – bei den Bombenangriffen, bei den Lasten und bei den Entbehrungen des Krieges – noch die Juden als Geheimsaboteure, Agitatoren und Hetzer hätten. Wir würden wahrscheinlich jetzt in das Stadium des Jahres 1916/17 gekommen sein, wenn die Juden noch im deutschen Volkskörper säßen.« (Reichsführer SS Heinrich Himmler, Posener Rede, am 4. und 6. Oktober 1943 gehalten im Rathaus von Posen)

Diese Sätze stehen für sich, man muß sie sich auf der Zunge zergehen lassen und muß sie mit den Ohren lesen. Wie überhaupt diese Posener Rede insgesamt ein Dokument ist, das Einsicht nicht nur in die Denkmuster dieser Menschen gibt, sondern auch zeigt, was sie taten. Es ging nicht einfach um Vernichtung, sondern darum, eine Ideologie nicht nur zu leben, sondern auch aktiv zu praktizieren. Die Vernichtung der Juden. Gründlich und genau. Und doch eben eine Geheimrede, damit es nicht herauskommt, was anständig gebliebene Deutsche taten. Und nach dem Mai 1945, dem Tag der Befreiung, wie es dann ab 1985 immerhin offiziell hieß, mochten auch die übrigen, die vielleicht nicht mittaten oder auch nichts dagegen taten – wie auch, wer hätte heute den Mut, es ist immer leicht, mit eines anderen Arsch durchs Feuer zu reiten und Widerstand zu simulieren: oder wie es eine Jüdin in einem Interview sagte, als ihr Interviewpartner, ein junger Mensch, entgegnete: man hätte Widerstand leisten müssen: »Kindchen, du hättest genauso mitgetan, spiel nicht den Widerständler!« – mochten also auch die übrigen hinterher nicht groß daran erinnert werden.

»Die Ereignisse schienen in den Köpfen ein Versteck gefunden zu haben, keiner vermisst sie. Keiner will sie haben.«
(Gisela von Wysocki, Wiesengrund)

Der Gang durch Buchenwald von Weimar aus reicht.
Doch nun kommt The Wirtschaftswunder:

»Einst waren wir mal frei
Nun sind wir besetzt
Das Land ist entzwei
Was machen wir jetzt?
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt gibt’s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder
Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

Und aus der Ferne leuchtet der Schein der Feuer, aber es sind nicht die Raffinerien von Auschwitz-Monowitz, sondern die Verbrennungsöfen die Brandgruben schimmern: heute, nach dem Film »Herr der Ringe«, würde man an das Land Mordor denken. Nur ist all das schlimmer. Es ist keine Fantasy. Aber sehr wohl  ist dieses Tun dort der menschlichen Phantasie und vor allem deutscher Gründlichkeit und Schaffenskraft entsprungen.

Wie nähert man sich diesem Ort? Eigentlich gar nicht. Theorie reicht an dieses Szenario nicht heran und müßte es doch zugleich, um nicht sprachlos zu bleiben und damit da so etwas wie ein Denken, eine Denkbestimmung ist, die das, was da war, einholt.

Mit Hegel kann man nicht durch Auschwitz reiten, sagte einmal Anfang der 1990er ein Germanistikprofessor in Hamburg. Es war Klaus Briegleb. Er mag einerseits recht haben. Aber ich halte diese Sicht für falsch. Hegel befreit nicht von Auschwitz und holt alles irgendwie in die holistische Theorie ein, damit wir im Denken kompensieren. Aber man kann mit Hegel das, was sich in seiner Perversität und Widerlogik jeglichem Denken qua einer überbordenden Rationalität entzieht, zumindest versuchen in Begriffe zu fassen, und schon das Nennen einer Aporie oder einer Schwierigkeit ist ein erster Weg und Ansatz, sich anzunähern.

Was macht Auschwitz, was macht die Shoah derart spezifisch? Vielleicht das, was Hannah Arendt so treffend und in vier Worten bezeichnete: »Die Banalität des Bösen«. Daß da mit akribischer Logik Herren- und Paragraphenreiter, die Hunde, ihren Garten, ihre Katze und ihre Frau lieben, eine Tötungsmaschinerie in Gang setzten, und zwar bis in die Protokollierungen und die Fahrplan-Verzeichnisse hinein.

»Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorge zu machen und ihnen Ideale zu bringen, damit unsere Söhne und Enkel es noch schwerer haben mit ihnen.« (Himmler, Posener Rede)

Menschen gelten als Dinge und jeder an seinem Platz nach Stufen geordnet und Menschen auf dem Rang von Tieren. Ohne jeden ökonomischen Sinn: Rassedenken, Antisemitismus und eine Klassifizierung von Menschen, die im Vergleich zum Kolonialregime der Engländer und Franzosen eine völlig andere Qualität entwickelte und damit einen qualitativen Sprung tat, hin zu einer neuen Form von Gewalt und dies eben macht die Singularität der Shoah aus.

Nicht mehr die Ökonomisierung von Menschen, sondern deren bedingungslose Auslöschung stand im Vordergrund. Nicht weil sie schlecht arbeiteten, sondern schlicht, weil sie nicht mehr als Menschen gesehen wurden und weil sie vor allem Juden waren. Als Volksschädlinge, als Auszurottendes. Auch Neger ließ man die Straße putzen und man schlug ihnen den Rücken blutig. Aber wenige Weiße nur kamen auf die Idee, sie auszurotten: im Gegenteil, es war bequemer, sie auf Plantagen oder in Fabriken zu halten und die drakonischen Strafen galten nicht ihrer Vernichtung, sondern der Disziplinierung der übrigen Sklaven. Sofern sie sich fügten und ihren Platz sahen. Darin liegt der Unterschied zwischen Sklaverei, Kolonialismus und dem Vernichtungs-Antisemitismus der 1940er Jahre. Der Jude wurde nicht als dienende »Rasse« gehalten, sondern er war, dem Ungeziefer gleich, von dieser Welt zu vertilgen.

»Der Umstand, daß man die Vernunft in der Geschichte stets unterstellen muß, wenn man die unterstellte Vernunft mit der Realität verwechselt. So kommt es, daß ausgerechnet Vulgärmarxisten, welche die Unterscheidung von Begriff und Sache und also den Unterschied zwischen der wirklichen Idiotie der wirklichen Geschichte und der Vernunft, mit der Marx diese idiotische wirkliche Geschichte begreift, nicht gelernt haben – daß ausgerechnet Marxisten dem deutschen Faschismus die weltgeschichtliche Absolution erteilen, und zwar gerade dort, wo sie ihn als besonders ausgekochten, besonders teuflischen Trick des Kapitals verdammen.« (Wolfgang Pohrt)

Was im Zeitalter der ersten Kolonialisierungen als minderwertige oder einfach zu erobernde oder aber christlich zu bekehrende niedere Kultur gesehen wurde, die zu dienen hatte oder was einfach ein ökonomischer Absatzmarkt für Waren war und was dann im 19. Jahrhundert als Rassediskurs biologistisch sich fortsetzte, gewann im deutschen Faschismus eine völlig andere Dimension. Ein qualitativer Sprung. »Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden«, so schrieb Adorno in den »Minimal Moralia«. Aber das ist nur die halbe Wahrheit und erklärt jenen Haß auf die Juden und diesen unbändigen Willen zur Vernichtung, diese Zwangsläufigkeit, bei der alle mittaten, nicht. Das Subjekt dieses Satzes läßt sich durch beliebige andere Zugehörigkeiten substituieren – ob Muslim, Christ oder Hindu. Die Logik des Vorurteils ist damit zwar bezeichnet, aber eben nicht die spezifische Differenz hin zur restlosen Vernichtung. Für den Juden reichte es nicht einmal, daß er dem Arier dient. Das eben, was eine Sklavengesellschaft oder Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben auszeichnet. Die wenigsten Juden waren dafür vorgesehen. Sondern er war zu vertilgen. Ihre Orte war Birkenau, Majdanek, Sobibor. Und dieses Vertilgen, dieses Morden der Juden, gerade weil sie Juden waren und aus keinem anderen Grund, machte Hitler bereits in »Mein Kampf« unmißverständlich deutlich und er machte dies auch am 30.1.1939, zu seiner Rede zum Tag der Machtergreifung unmißverständlich deutlich:

»Und eines möchte ich an diesem vielleicht nicht nur für uns Deutsche denkwürdigen Tag nun aussprechen. Ich bin in meinem Leben sehr oft Prophet gewesen und wurde meistens ausgelacht […] Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.«

Heraus sprang nur eins: das Problem, wie man effizient hunderttausende von Menschen effizient verbrennt. Man denkt, das geht leicht: aber dem ist nicht so. Es bleiben im normalen Feuer die Knochenrückstände und aus den Hochöfen mußten die Sonderkommandos zuweilen an die 40 cm dicke Fettschichten herauskratzen. Wie darüber sprechen?

Einen zentralen Aufsatz zu diesen Fragen nach dem Begreifen und am Ende auch nach den Dimensionen von Sinn, unpolemisch, analytisch und begrifflich scharf und nicht in seinem zuweilen störenden Politfuchteln, schrieb Wolfgang Pohrt in dem lesenswerten Text »Nationalsozialismus und KZ-System«:

»Die Verdrängung selbst der Geschichte des deutschen Faschismus aus dem allgemeinen Bewußtsein behindert nachhaltig die Möglichkeit, einen Begriff davon zu erarbeiten. Denn jede Diskussion setzt voraus, daß die Beteiligten viel mehr über den Gegenstand wissen, als jeweils zur Sprache kommt. Die Diskussion verschiedener Faschismustheorien setzt z.B. immer die Kenntnis nicht nur dieser Theorien, sondern auch der von diesen Theorien noch einmal verschiedene Realität voraus. Nur im Verhältnis von Sache und Begriff läßt sich dessen Wahrheit vernünftig beurteilen.

Auch die Sache aber stellt sich für das Bewußtsein stets nur in Begriffen dar. Wo die Sache an sich selbst unbegreiflich ist, weil ihre eigene Struktur die Voraussetzung aller Erkenntnis; die »adaequatio rei et intellectus«, die Übereinstimmung von Gegenstand und Einsicht prinzipiell ausschließt, dort tendiert sie dahin, sich der Darstellung und dem Bewußtsein überhaupt zu entziehen. Das Unbegreifliche ist am deutschen Faschismus aber gerade das Wesentliche. Ihn zeichnet aus, daß er von keiner Theorie mehr wirklich erreicht werden kann.«

Dies scheint mir der zentrale Punkt, die Crux dieser Angelegenheit. Wir können die Shoah in alle möglichen Theorien einholen, als Historiker, als Soziologen, als Ökonomen, aber es bleibt immer ein unbegreiflicher Rest, woher diese unendliche Bosheit kommen mag.

»Nicht einmal die Konstruktion eines strafenden Gottes – das erste Tasten wie der letzte Ausweg der Vernunft – vermag die planmäßige, fabrikmäßige Vernichtung von mindestens 6 Millionen Menschen in jenen sinnvollen Zusammenhang zu stellen, in dem der Gegenstand allein erkannt werden kann. Die Theorie setzt einerseits stets ein die Sache unter seinen eigenen, subjektiven Bestimmungen setzendes Subjekt voraus. Sie beginnt also erst jenseits der Konzentrationslager, in denen das Subjekt planmäßig vernichtet wird. Die Theorie setzt andererseits eine Sache voraus, die von den Denkbestimmungen eines auf sie reflektierenden menschlichen Subjekts nicht völlig verschieden ist: was real keiner menschlichen Logik gehorcht, kann auch kein Mensch begreifen. Vor einer Institution, in welcher die Unmenschlichkeit zum Prinzip erhoben ist, muß die Theorie daher kapitulieren.
Das Zurückweichen der Theorie vor dem deutschen Faschismus ist auch Darstellungen anzumerken, die nicht vorrangig theoretische Ambitionen haben. Z.B. Kogon, dessen Thema Beschreibung systematischer Menschenvernichtung ist, spricht eigentlich immer von etwas anderem: von der Organisation des Lagers, von der komplizierten Hierarchie unter den Henkern, von der ähnlich komplizierten Hierarchie unter den Opfern, von Kompetenzstreitigkeiten, Kommunikationsproblemen usw. Die Beschreibung erreicht gewissermaßen nicht den Gegenstand selbst, sondern sie hält bei der minutiösen Protokollierung der Organisation und Technik inne, die ihn hervorgebracht haben. […]  Am Ende weiß man über die KZ vor allem eins: wie man sie macht. Der deutsche Faschismus zwingt offenbar das Denken zur funktionalistischen Regression: statt zu fragen, was er ist und wie er zu beurteilen sei, fragt man, wie er funktioniert. Die Anpassung der Theorie an ihren unbegreiflichen Gegenstand und damit ihre Kapitulation ist vermittelt durch einen besonderen Mechanismus der Angstbewältigung: zum organisatorischen und technischen Problem neutralisiert und reduziert, verliert die planmäßige Menschenvernichtung ihre Schrecken. Das Unbegreifliche wird scheinbar nicht begreiflich, es wird sogar gewöhnlich, und das beruhigt.«
Es sind diese Passagen ganz unmittelbar von Adornos Diktum beeinflußt, daß nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei und – nun kommt der zweite Teil des Satzes, der gerne übergangen wird: »das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.« (Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft)

Man könnte dieser Passage, mit Hölderlin gesprochen, deutschen Gesang folgen lassen, oder wie Paul Celan es in dem Gedichtband »Atemwende« von 1967 als Gedichttitel schrieb, den »Singbaren Rest« folgen lassen oder jenen »Cello-Einsatz«, der einem oder einer zuweilen bei der Ankunft aufspielt. »Alles ist weniger, als// es ist,// alles ist mehr.« Punctum. Kein Bild reicht da heran. Aber man kann es dichten, wie Celan es in seiner »Engführung« tat. In einer zunächst hermetisch erscheinenden Sprache, die es aber gar nicht ist. Suggestiv zwar einerseits, im Sinne von eindringlich, aber dann im Bild doch wieder revozierend, bis hin zum Partikelgestöber und einem demokritschen Atomismus, in den sich ein Körper in der »Engführung« – ein musikalischer Terminus übrigens – aufzulösen vermag:

»VERBRACHT ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:

Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,
mit den Schatten der Halme:
Lies nicht mehr – schau!
Schau nicht mehr – geh!

Geh, deine Stunde
hat keine Schwestern, du bist –
bist zuhause. Ein Rad, langsam,
rollt aus sich selber, die Speichen
klettern,
klettern auf schwärzlichem Feld, die Nacht
braucht keine Sterne, nirgends
fragt es nach dir.«

Gras, das man auseinander schreibt, kann Gas bedeuten, indem man das »r« wegläßt, oder rückwärts gelesen Sarg. Solche Dichtung wie die von Celan sperrt sich gegen jegliche Eindeutigkeit und Vereinnahmung, sie macht sich spröde. Auch das gehört zu dem, mit Hölderlin vielleicht gesprochen, dem Andenken.

»Dann wurden die Opfer gezwungen, nackt mit erhobenen Händen durch den Schlauch zu gehen oder zu laufen. Im Winter 1942/43 konnte es aber auch vorkommen, daß die entkleideten Menschen stundenlang barfuß im Freien stehen mußten, bis sie an die Reihe kamen. Dort konnten sie dann die Schreie derer hören, die vor ihnen in die Gaskammern gegangen waren.« (Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden)

Man kann mit Auschwitz nicht durch die Hölle reiten, und schon gar nicht kommt man mit Auschwitz in den Himmel der Theoriegerechten. Die Singularität von Auschwitz ist unhintergehbar. Aber sie ist zugleich keine Mystik und auch keine negative Theologie, aus der sich irgendwie doch ein positiver Gehalt pressen oder gewinnen ließe. Besser als alle Spekulation wäre es gewesen, wenn man all die Täter dort in den Lagern juristisch und zeitig vor allem nach 1945 zur Rechenschaft gezogen hätte. Gegen solche Mystifizierung des Unaussprechlichen richtet sich auch  Giorgio Agambens Kritik in seinem Buch »Was von Auschwitz bleibt«.

Auschwitz ist kein Unaussprechliches, kein Adyton, keine negative Theologie: Daß man, wie ein Leserbriefschreiber Agamben vorwarf, den unsagbaren und einzigartigen Charakter von Auschwitz durch dessen konkrete und faßbare Darstellung des Schreckens zerstörte, ist ein Trugschluß. »Doch warum unsagbar? Warum die Vernichtung mit dem Ansehen der Mystik schmücken? Im Jahre 386 unserer Zeitrechnung verfaßte Johannes Chrysostomos in Antiochien seine Abhandlung Über die Unbegreiflichkeit Gottes. Er setzte sich mit Gegner auseinander, die behaupteten, daß das Wesen Gottes begriffen werden könne, …« Indem Johannes die Unbegreiflichkeit vertrat, daß Gott »unsagbar«, »unaussprechlich«, »unaufschreiblich« sei, »weiß er genau, daß eben dies die beste Weise ist, ihn zu verherrlichen […] und anzubeten […].«

Ob Agamben den Johannes Chrysostomos richtig wiedergibt, vermag ich nicht zu sagen. Aber der von Agamben dargestellte Gedanke ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Und zugleich bleibt in all dem Feuer und der Asche ein Unbegreifliches. Etwas, das sich noch der Ökonomie der verstreuten Asche im Wind als Erinnerung oder als Dichtung entzieht. Kein Bild reicht heran.

                                                      ***

»Auschwitz« als Kollektivsingular bedeutet zunächst: Der organisierte Massenmord von Deutschen an Juden (und auch an Sinti und Roma), deren Gefangennahme in deutschen Städten, in griechischen, polnischen, dänischen, französischen Dörfern und Städten, der europaweite Abtransport dieser Menschen weit und tief in den Osten, hin zu den deutschen Vernichtungslagern in Polen und Weißrußland. Es bedeutete dies die Selektion, die industrielle und effiziente Tötung von Menschen, es bedeutete medizinische Experimente an Menschen und daß Menschen an den Rampen selektiert wurden. Zugleich bedeutete es aber auch, daß nichts, rein gar nichts davon nach außen dringen durfte.

Aber das ist es nicht alles. Es bedeutet auch, daß es eine hinreichende Zahl an Menschen gab, die dabei zusahen, als Menschen aus ihren Häusern geholt wurden, die dabei zusahen, als jüdische Geschäfte boykottiert wurden, die dabei zusahen als Synagogen brannten und Scheiben von jüdischen Geschäften zerschmissen wurden. All das. Und all das ist kein Fliegenschiß, wie Alexander Gauland dies insinuiert, und selbst wenn er diesen Satz hinterher relativierte, so ist solches Denken ganz und gar unangemessen in bezug auf die Sache.

Man kann Gedenken nicht verordnen und man kann es nicht erzwingen. Dennoch haben auch symbolische Tage eine Bedeutung und vor allem eine Aufgabe. Der 27. Januar hätte schon viel früher ein solcher Gedenktag sein müssen. Mit der Gründung der BRD.

Gedenken an Auschwitz bedeutet nicht nur Musealisierung, sondern ebenso einen Blick nach vorne, es bedeutet gelebtes Judentum und jüdische Gemeinden in Deutschland. Jedem, der in Berlin wohnt oder der dorthin reist, empfehle ich einen Besuch im wunderbaren Jüdischem Museum in der Lindenstraße. Gedenken an Auschwitz heißt auch: Solidarität mit Israel! Keine unbedingte, unkritische. Aber wer diesem Staat sein Existenzrecht abspricht oder zum Boykott von Judenprodukten, genauer gesagt von Waren aus Israel auffordert, der muß es sich eben gefallen lassen, als Antisemit bezeichnet zu werden. Daß es rechts Antisemiten gibt, wissen wir. Daß sie ebenso links existieren, davor wird gerne das Auge verschlossen. Wer heute beschwört: »Nie wieder Faschismus!«, der sollte ebenso daran denken, aus welchen Gründen sich der Staat Israel gründete. Ansonsten läuft das linke »Nie wieder« leer und gerinnt zur Parole.

Artikel online seit 27.01.20
 

 

 


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