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Die absolute Biografie
Von Jürgen Nielsen-Sikora |
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In Franco Volpis großem Werklexikon der Philosophie wird Hans Blumenberg als »einer der herausragenden Philosophen der Nachkriegszeit« bezeichnet. Dieses Urteil ist absolut zutreffend, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Blumenberg bis heute weitestgehend im Schatten anderer großer Philosophen steht. Der Öffentlichkeit jedenfalls ist der in seinen letzten Lebensjahren äußerst menschenscheue Blumenberg bis heute – trotz Sibylle Lewitscharoffs Roman »Blumenberg« (2011) und Christoph Rüters Kinofilm mit dem Titel »Der unsichtbare Philosoph« (2018) – kaum ein Begriff. Dabei ist das Werk Blumenbergs so vielfältig und aktuell, intellektuell anregend und disziplinübergreifend wie nur wenige andere. Zu Blumenbergs 100. Geburtstag im Juli 2020 hat Rüdiger Zill (Einstein Forum Potsdam) nun eine voluminöse Biografie vorgelegt: Auf mehr als 800 Seiten rekonstruiert er Blumenbergs Leben und stellt dessen zentrale Gedankengänge vor, um den Philosophen aus dem Schatten ins Licht der Öffentlichkeit zu führen. 1920 in Lübeck geboren, studiert Blumenberg in Paderborn, Frankfurt a.M., nach dem Krieg dann in Hamburg, wo vor allem Ludwig Landgrebe zu seinen Lehrern zählt. Ende 1947 erfolgt die Promotion, drei Jahre später die Habilitation in Kiel. Mittelalterliche Ontologie und die Phänomenologie Husserls bilden zunächst die Schwerpunkte seines Denkens. Es folgen außerplanmäßige Professur in HH, erste ordentliche in Bochum 1965 und nach Münster 1970. Dort lehrt er bis zu seiner Emeritierung nach dem Sommersemester 1985. Blumenberg beginnt erst spät, ab Mitte der 1960er Jahre, zu publizieren. Ab dann ist seine Schaffenskraft jedoch nicht zu bändigen. Es folgen zahlreiche Bücher und Aufsätze über Kultur, Glaube, Wissenschaft, Begriffe, Technik, Literatur und Hermeneutik, darüber hinaus Texte für Zeitungen, die er unter anderem mit dem Pseudonym »Axel Colly« unterzeichnet (sein Colly hieß Axel). Er selbst begeistert sich für die Schriften von Sartre, Jünger, Carossa und Goethe.
Im Zentrum
seines eigenen Denkens stehen nicht zuletzt Aspekte des »Unbegrifflichen« –
Metaphern, Mythen, Anekdoten, Fabeln –, die Blumenberg rehabilitiert, weil sie
die Welt lesbar machen, sowie die Geschichte der abendländischen Astronomie
(insbesondere die Erkenntnisse des Kopernikus), mit der auch die Frage des
menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses aufscheint. In »Der absolute Leser« geht Rüdiger Zill der teils geheimnisumwitterten Person und dem so überaus facettenreichen Werk Blumenbergs auf den Grund, indem er auf bislang unbekannte Quellen aus dem Nachlass zurückgreift. So gelingt ihm ein sprachlich brillantes und in seiner Fülle kaum zu übertreffendes Portrait Blumenbergs. Die Jugendjahre kommen hierbei ebenso zur Sprache wie fachliche Kontroversen und Konflikte mit Kollegen, hervorgerufen auch durch seine Herausgeberschaft von Fachzeitschriften, und die ausführlichen Kontextualisierungen seiner Bücher.
Ein Panorama
der deutschen Nachkriegsphilosophie entfaltet sich durch Referenzen auf Hans
Jonas, Walter Bröcker, Ludwig Landgrebe, Jürgen Habermas, Carl Schmitt,
Hans-Georg Gadamer, Erich Rothacker, Martin Heidegger, Dieter Henrich, Edmund
Husserl, Hermann Lübbe und Siegfried Unseld. Zudem wird das Universitätsleben in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verständlich, so dass niemand, der sich
für Blumenberg interessiert an Zills Biografie vorbeikommt. Es ist ein
unbedingtes Plädoyer, Blumenberg neu, wieder oder überhaupt zu lesen. |
Rüdiger Zill
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