Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Eine sprachgewaltige Rebellin

Helena Adlers Debut-Roman »Die Infantin trägt den Scheitel links«
rockt die Literaturszene nicht nur in Österreich.

Von Lothar Struck
 

Das hat natürlich Tradition. Dieses tosende Erzählen, das brachiale Hintersichlassen von allen als einengend empfundenen Konventionen, das Schimpfen auf die Enge des Dorfes, der Bäuerlichkeit. Diese Mischung aus Wut, Zorn, Trauer und gleichzeitig das Bedürfnis nach Zuneigung. Dieses Zelebrieren des Ekelhaften. Die Kalauer. Die Expressivität. Da schreibt eine Frau ihr Leben zwischen 3 bis 18 auf. Ein halbes Wunder, dass dafür 180 Seiten genügen.

Der Blick auf die Pressestimmen zu Helena Adlers "Die Infantin trägt den Scheitel links" sagt alles. Natürlich der "Anti-Heimat-Roman". Die Parallelen von Innerhofer bis Josef Winkler. Natürlich fällt einem Elfriede Jelinek ein, denn der bisweilen bissige, in Sprachspielen eingepackte Sarkasmus der "Klavierspielerin" wie auch von "Lust" steckt in diesem Buch. Und auch all das, was man mit den gängigen Klischees über österreichische Coming-out-of-age-Literatur à la "Blasmusikpop" bis hin zu Angela Lehner verbindet.

Überraschend dann: Die Lektüre, diese dauerplappernde, synästhetische Ich-Erzählerin mit ihren hyperventilierenden Wahrnehmungen strengt an. Fast jeder Satz von Helena Adler schneidet, beißt, trifft. Aber man täusche sich nicht: Wo andere mit Repetitionen arbeiten, wo die Zorn in blinde Wut gerinnt, ist hier alles unter Kontrolle. Und gleichzeitig in Aufruhr. Eben waren die Urgroßeltern noch der Alptraum, leicht müffelnd, geizig, erstarrt in ihren Ritualen – dann, wenige Seiten später, wird ihr Tod betrauert, die "leibhaftige Großmut" des Urgroßvaters gerühmt, die Schuldkomplexe beim Tod der Urgroßmutter hervorgeholt (das Kind hatte die Alarmvorrichtung am häuslichen Krankenbett nach dem dritten Schlaganfall abgeschaltet) und dann werden Zeitsplitter von Wohlbehagen evoziert, gipfelnd in eine untergründige Zeitkritik, die man gar nicht erwartet hätte: "Sie bunkern und horten, sie sammeln und archivieren. Sie stapeln Konservendosen und lieben das Wort, denn ihre Erinnerungen sind in ihren Köpfen konserviert wie in Dosen. Sie falten Plastiksackerl und sammeln Himbeeren…Sie besitzen fast nichts, aber dieses Wenige ist so viel wert, dass es mehr ist als alles, was die Moderne an Überfluss hervorbringt oder die Zeit an Fortschritt."

Spätestens hier wird trotz des suggestiven Erzählens im Präsens klar: Die (namenlos bleibende) Ich-Erzählerin ist nicht mehr das Mädchen, die junge Frau. Sie ist über die erzählte Zeit hinweg und meist klüger als die, die sie einst war. Nicht schlimm. Aber manchmal eben störend, wenn sie dann plötzlich wieder naiv oder gar "dumm" ist bzw. dies spielt.

Das ist selten, nicht direkt störend, weil man im Strom der Assoziationsflut mitgerissen wird, kaum den Kopf nach oben bringt, immer mehr versinkt in dies Konstellation – Vater, Mutter, die beiden furchtbaren Zwillingsschwestern und eben sie. Da ist der Hof, die Alkohol- und vielleicht auch Sexsucht des Vaters, das merkwürdige Wesen der Mutter, teils hysterisch, teils beschwichtigend. Die Versuche der Versöhnungen. Ausgiebig wird es geschildert, dieses "Mausoleum der Kindheit". Schließlich der Ausbruch, als es aufs Gymnasium geht. Der Abgesang der Mutter auf die Kindheit ihrer Tochter. Sex mit dem Cousin. Immerhin widersteht diese den Drogen, aber dem Alkohol nicht und selten hat man eine derartig expressiv erzählte Kotzszene mit Widerwillen und Faszination zugleich gelesen wie hier.

So weit, so oberflächlich. Man labt sich einerseits, entdeckt irgendwann, dass jedes der 21 Kapitel den Namen eines Bildes trägt, und da ist (fast) alles an expressiver Kunst dabei, Hieronymus Bosch, Tizian und Rubens bis Georg Baselitz und Anselm Kiefer (Bildnachweise am Ende des Buchs), aber die Sehnsucht zeigt sich auf Bruegels Wimmelbilder des alltäglichen Daseins (gleich dreimal wird Pieter Bruegel der Ältere als Referenz bemüht).

Am Ende scheint alles zusammenzubrechen. Da ist die psychisch kranke Mutter, ihre Flucht in die Gebete. Und der Vater, der wegen Körperverletzung (oder mehr) im Gefängnis sitzt und gleichzeitig eine Suizidprävention durchläuft. Hier Anstalt, dort Knast. Die Zwillingsschwestern boten sie durch eine Intrige aus, übernehmen den Hof und erschaffen ein "architektonisches Sterilium". Wenn es je so etwas wie Heimat gab, ist sie nun weg. "Man hat mir meine Heimat genommen und meine Kindheit dazu."

Aber wer genau liest, bemerkt in und unter all dem Zorn eine Zuneigung, ja Liebe, der Erzählerin zu ihren Eltern. Eine Zuneigung, die nur allzu selten erwidert wird. Etwa wenn sie als Kind beim Arbeiten an der Säge kurz zum Sohn ihres Vaters wird. Oder wenn ihr die Mutter von ihrer Verwandlung erzählt, vom physischen Vorgang des Mutter-Werdens, von den Geburten. Da zeigt sich die Kunst einer Schriftstellerin, denn dieses ambivalente, komplizierte und bisweilen verkorkste Verhältnis zu den Eltern wird nicht nur einfach geschildert, sondern erzählt, oder, besser, zum Leuchten gebracht und das ist mehr als all die gelungenen Pointen und Assoziationen, die es aber braucht, um diese Stimmung zu erzeugen.

Die letzten Zeilen besiegeln endgültig den Abschied von Kindheit und Jugend: "Ich lege meine Waffen nieder", bekennt die Erzählerin – und stillt ihr Kind. Und dann beginnt man einfach noch einmal von vorne mit der Lektüre.

Artikel online seit 08.07.20
 

Helena Adler
Die Infantin trägt den Scheitel links
Jung und Jung
176 Seiten
20,00 €
978-3-99027-242-8

Leseprobe

 

 

 


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