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Anfangen, wo es anfängt
Von Jürgen Nielsen-Sikora |
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Der erste Satz, so Peter-André Alt, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der FU Berlin, sei »der wichtigste des ganzen literarischen Textes.« Ob eine Geschichte glücke, hinge nicht zuletzt vom ersten Satz ab: »Der erste Satz ist daher ein Phänomen, an dem sich die Leistung der Fiktion erkennen lässt. Er kommentiert das Reale, er imitiert die Natur, und er reflektiert die Tätigkeit der Literatur, Welten zu fingieren.« Die Literaturwissenschaft habe sich, so Alt weiter, bis dato allerdings nur sporadisch mit der Faszination erster Sätze beschäftigt. Alts Essay will deshalb »Grundmuster des ersten Satzes« systematisch herausarbeiten und Romananfänge auf diese Weise einer Typologie zuführen. Leitend ist hierbei Alain Robbe-Grillets Bonmot, wonach man anhand erster Sätze eine ganze Literaturgeschichte schreiben könne. Original und Fälschung
Alt konzentriert sich auf insgesamt 249 Anfangssätze der Weltliteratur,
vorrangig aus dem deutschen Sprachraum, ergänzt durch englische, französische,
spanische, italienische und russische Werke, sowie Werke aus Nord- und
Lateinamerika, beginnend jedoch bei den alten Griechen, namentlich Homers
Ilias, die er in einer klassischen Übersetzung mit »Singe den Zorn, o
Göttin, des Peleiaden Achilleus …« wiedergibt. Das Problem zeigt sich nicht weniger an dem als Motto vorangestellten Zitat des Aristoteles, das strenggenommen gar kein Aristoteles-Zitat ist. Bei Alt heißt es nämlich: »Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.« Der Satz ist Aristoteles' Schrift »Politik« entlehnt, und zwar der Stelle 1303 b29. In der Meiner-Ausgabe heißt es vollständig: »Denn der Fehler liegt im Anfang, und der Anfang, heißt's, ist die Hälfte des Ganzen, so daß also auch ein kleiner Fehler im Beginn entsprechend große Fehler im weiteren Verlaufe zur Folge hat.« Die vollständige Wiedergabe gibt dem Satz also einen völlig anderen Sinn als von Alt intendiert – ganz abgesehen davon, dass der Kontext (kleine Streitigkeiten einflussreicher Personen, die große Zerwürfnisse nach sich ziehen) unbeachtet bleibt. Typologien
Die Typologisierung der ersten Sätze aber ist stark und zeichnet in der Tat eine
Art Literaturgeschichte im Groben nach, zumal Alt äußerst belesen ist. Eine weitere, wichtige Typologie ist die Herausgeberfiktion als »Freibrief, der ungehindertes Erzählen ermöglicht.« Denn der Roman gilt noch im frühen 18. Jahrhundert als Lügengeschäft. Die Rahmung, die auch Hermann Hesse später im »Steppenwolf« so prominent aufgreift, verschwindet jedoch zusehends. An die Stelle tritt vermehrt das Geständnis des Erzählers, das dem Leser etwas über die Empfindlichkeit des Protagonisten preisgibt.
Alt macht zudem auf knappe Personenportraits in ersten Sätzen aufmerksam (z.B.
in Süskinds »Parfüm«), und er lenkt den Fokus auf zahlreiche, intertextuelle
Anspielungen (so etwa bei Kumpfmüllers »Hampels Fluchten«). Ungenauigkeiten Alt rechnet damit, dass erste Sätze, die keine Wirkung entfalten, dazu führen können, dass der Leser das Buch beiseitelegt. Dann sei der Beginn kein Anfang, sondern »ein leeres Versprechen«. Doch wie wahrscheinlich ist es wirklich, dass jemand nach dem ersten Satz ein Buch wieder zuschlägt, weil ihm der Satz nicht gefallen hat? Es gibt Romane, durch die man sich auf 30, 40, 50 Seiten kämpfen muss, ehe sie große Literatur werden: Harry Mulischs »Die Entdeckung des Himmels« ist so ein Fall, Jaume Cabrés »Das Schweigen des Sammlers« ein weiterer; für die Bücher von Umberto Eco gilt dies ganz allgemein auch. Wer Bücher nach einem Satz weglegt, ist gar kein Leser!
So schön Alts Essay auch zu lesen ist, so inspirierend seine eigenen Lektüren
auch sind – an manchen Stellen ist der Text doch recht ungenau. Ein Buch über
erste Sätze sollte meines Erachtens darauf bedacht sein, die Sätze korrekt
wiederzugeben. Das ist leider nicht immer der Fall.
»Der Mann ohne Eigenschaften« und »Tristram Shandy« beginnen strenggenommen
nicht mit den Sätzen, die Alt zitiert. Bei Frischs »Stiller« fehlt nach: »Ich
bin nicht Stiller« das Ausrufezeichen. So auch in »Die unerträgliche
Leichtigkeit des Seins«, wo es heißen müsste: »… und auch diese Wiederholung
wird sich unendlich wiederholen!«
Artikel online seit 28.02.20 |
Peter-André Alt |
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