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Anfangen, wo es anfängt

Peter-André Alts Essay über »Erste Sätze der Weltliteratur
und was sie uns verraten.
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Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Der erste Satz, so Peter-André Alt, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der FU Berlin, sei »der wichtigste des ganzen literarischen Textes.« Ob eine Geschichte glücke, hinge nicht zuletzt vom ersten Satz ab: »Der erste Satz ist daher ein Phänomen, an dem sich die Leistung der Fiktion erkennen lässt. Er kommentiert das Reale, er imitiert die Natur, und er reflektiert die Tätigkeit der Literatur, Welten zu fingieren.«

Die Literaturwissenschaft habe sich, so Alt weiter, bis dato allerdings nur sporadisch mit der Faszination erster Sätze beschäftigt. Alts Essay will deshalb »Grundmuster des ersten Satzes« systematisch herausarbeiten und Romananfänge auf diese Weise einer Typologie zuführen. Leitend ist hierbei Alain Robbe-Grillets Bonmot, wonach man anhand erster Sätze eine ganze Literaturgeschichte schreiben könne.

Original und Fälschung

Alt konzentriert sich auf insgesamt 249 Anfangssätze der Weltliteratur, vorrangig aus dem deutschen Sprachraum, ergänzt durch englische, französische, spanische, italienische und russische Werke, sowie Werke aus Nord- und Lateinamerika, beginnend jedoch bei den alten Griechen, namentlich Homers Ilias, die er in einer klassischen Übersetzung mit »Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus …« wiedergibt.
Raoul Schrott hatte demgegenüber schon 2015 darauf hingewiesen, dass diese Übersetzung nicht richtig sein kann, da niemand »in der Antike, in keiner ihrer Kulturen« es je gewagt hätte, »mit einem derart umstandslosen Imperativ wie: Sing, Göttin! vor eine Gottheit zu treten, bloß um sie zur Unterhaltung aufzufordern. Außerdem würde dies das gesamte Epos als von ihr diktiert ausweisen – während doch klar ist, dass Homer für die Abfassung verantwortlich zeichnet.« 
Hier zeigt sich bereits ein erstes Problem des Anfangs – das der richtigen Übersetzung bzw. das der Vielzahl an Übersetzungen, die den ersten Satz in ein immer neues Licht tauchen, so dass es zumindest problematisch wird, ersten Sätzen eine so enorme Bedeutungslast aufzubürden, wie Alt dies tut. Denn Text-Varianten wie zum Beispiel die Neuübersetzung von Gogols »Tote Seelen«, oder Sternes »Tristram Shandy« weichen doch recht stark von anderen, älteren Übersetzungen ab, und man muss sich insofern fragen, welche Bedeutung dies für die Philosophie des ersten Satzes hat. Dazu findet sich in Alts Buch leider nichts.

Das Problem zeigt sich nicht weniger an dem als Motto vorangestellten Zitat des Aristoteles, das strenggenommen gar kein Aristoteles-Zitat ist. Bei Alt heißt es nämlich: »Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.« Der Satz ist Aristoteles' Schrift »Politik« entlehnt, und zwar der Stelle 1303 b29. In der Meiner-Ausgabe heißt es vollständig: »Denn der Fehler liegt im Anfang, und der Anfang, heißt's, ist die Hälfte des Ganzen, so daß also auch ein kleiner Fehler im Beginn entsprechend große Fehler im weiteren Verlaufe zur Folge hat.« Die vollständige Wiedergabe gibt dem Satz also einen völlig anderen Sinn als von Alt intendiert – ganz abgesehen davon, dass der Kontext (kleine Streitigkeiten einflussreicher Personen, die große Zerwürfnisse nach sich ziehen) unbeachtet bleibt.

Typologien

Die Typologisierung der ersten Sätze aber ist stark und zeichnet in der Tat eine Art Literaturgeschichte im Groben nach, zumal Alt äußerst belesen ist.
Alt entdeckt etwa erste Sätze, die der moralischen Erbauung dienen, Bücher, deren Titel zunächst als Werbemedium samt kurzer Inhaltsangabe eingesetzt werden, und die erst nach und nach – mit dem Prozess der Selbstbehauptung der Literatur gegenüber der Historie –kürzer werden. Der Souveränitätsgewinn der Literatur zeigt sich nicht zuletzt in einer zunehmend subjektiven Färbung des Anfangs. So zum Beispiel in Sternes »Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman« – ein Buch, das für Alt insofern wegweisend ist, als es »das Wissen über die Welt mit dem Anspruch auf radikal subjektive Meinungen verbindet.« Dieser Prozess setzt sich unmittelbar fort bei Friedrich Niolai und findet zuletzt Anknüpfungspunkte bei John Irving.

Eine weitere, wichtige Typologie ist die Herausgeberfiktion als »Freibrief, der ungehindertes Erzählen ermöglicht.« Denn der Roman gilt noch im frühen 18. Jahrhundert als Lügengeschäft. Die Rahmung, die auch Hermann Hesse später im »Steppenwolf« so prominent aufgreift, verschwindet jedoch zusehends. An die Stelle tritt vermehrt das Geständnis des Erzählers, das dem Leser etwas über die Empfindlichkeit des Protagonisten preisgibt.

Alt macht zudem auf knappe Personenportraits in ersten Sätzen aufmerksam (z.B. in Süskinds »Parfüm«), und er lenkt den Fokus auf zahlreiche, intertextuelle Anspielungen (so etwa bei Kumpfmüllers »Hampels Fluchten«).
Auch Orte und Zeiten sind charakteristisch für einen Romanbeginn. In Büchners Erzählung »Lenz« heißt es gleich zu Beginn: »Den 20. ging Lenz durch´s Gebirg.« Orte können – wie hier bei Büchner – Landschaften, können aber auch Städte, Gebäude oder andere Räumlichkeiten sein.
Dahingegen fungieren Situationsbeschreibungen am Beginn einer Geschichte eher als Auslöser einer Handlung. Sie sorgten dafür, so Alt, »dass die Welt nicht bleibt, wie sie ist.« Das gilt auch für plötzliche Ereignisse. Sie sind Indizes eines unsicheren Lebens und zeigen das Ganze, indem sie sich »auf das Wesentliche« beschränken. Denken wir hier nur an Robert Menasses Auftakt in »Selige Zeiten, brüchige Welt«!
Manch erster Satz erzeuge Spannung durch Andeutungen, eine ganz eigene Stimmung, oder versuche, Unwahrscheinliches als wahrscheinlich dastehen zu lassen (»Frankenstein«). Nicht zuletzt kann ein erster Satz auch purer Kitsch sein, indem er verkläre, beschönige oder grob vereinfache.

Ungenauigkeiten

Alt rechnet damit, dass erste Sätze, die keine Wirkung entfalten, dazu führen können, dass der Leser das Buch beiseitelegt. Dann sei der Beginn kein Anfang, sondern »ein leeres Versprechen«. Doch wie wahrscheinlich ist es wirklich, dass jemand nach dem ersten Satz ein Buch wieder zuschlägt, weil ihm der Satz nicht gefallen hat? Es gibt Romane, durch die man sich auf 30, 40, 50 Seiten kämpfen muss, ehe sie große Literatur werden: Harry Mulischs »Die Entdeckung des Himmels« ist so ein Fall, Jaume Cabrés »Das Schweigen des Sammlers« ein weiterer; für die Bücher von Umberto Eco gilt dies ganz allgemein auch. Wer Bücher nach einem Satz weglegt, ist gar kein Leser!

So schön Alts Essay auch zu lesen ist, so inspirierend seine eigenen Lektüren auch sind – an manchen Stellen ist der Text doch recht ungenau. Ein Buch über erste Sätze sollte meines Erachtens darauf bedacht sein, die Sätze korrekt wiederzugeben. Das ist leider nicht immer der Fall.
»Die Blechtrommel« etwa wird mit dem Satz zitiert: »Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt.« Warum steht hier ein Komma statt des Doppelpunktes hinter »Zugegeben«? Auch ist der Satz nach »Pflegeanstalt« nicht zu Ende, wie der Punkt glauben machen möchte. Er geht vielmehr nach dem Semikolon weiter.
»Winnetou« zitiert Alt mit dem Satz: »Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein; dies hat …«. In der Ausgabe des Karl May-Verlags ist der Satz nach »… ein« zu Ende. Hier steht in der Tat ein Punkt. Und der nächste Satz beginnt nicht mit »dies«, sondern mit »Das …«.
In »Die Ästhetik des Widerstands« heißt es zudem nicht »hochaufgestreckt«, sondern »hochgestreckt.« Oder im »Der Zauberberg« steht nach: »Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, …« kein Komma, sondern ein Gedankenstrich.

»Der Mann ohne Eigenschaften« und »Tristram Shandy« beginnen strenggenommen nicht mit den Sätzen, die Alt zitiert. Bei Frischs »Stiller« fehlt nach: »Ich bin nicht Stiller« das Ausrufezeichen. So auch in »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«, wo es heißen müsste: »… und auch diese Wiederholung wird sich unendlich wiederholen!«
Andere Fehler sind eher marginal: Etwa, wenn in »Die Leiden des jungen Werther« lediglich aus »gesammlet« das heute übliche »gesammelt« wird, zwei Kommata weggefallen sind, und aus dem »daß« ein »dass« wurde.
Auch dass das »Arbeiterehepaar« in »Jeder stirbt für sich allein« von Hans Fallada nun keine zwei, mit einem Bindestrich zusammengehaltene, Wörter sind, ist ebenso zu verschmerzen wie der Punkt, den Alt Kafkas »Josef K« geklaut hat. Aber insgesamt wäre hier ein wenig mehr Sorgfalt wünschenswert gewesen. So heißt es am Ende mit Dylan Thomas, am besten dort anzufangen, wo es anfängt …

Artikel online seit 28.02.20
 

Peter-André Alt
»Jemand musste Josef K. verleumdet haben …«
Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten
C. H. Beck Verlag
262 Seiten
26,95 €
978-3-406-75004-5

Leseprobe

 


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