Die vielfach durch ihre
Übersetzungen aus dem Französischen (Stendhal/Flaubert) ausgewiesene &
prämiierte Übersetzerin Elisabeth Edl schreibt im wie immer kundigen Nachwort
ihrer jüngsten Arbeit u.a.: »>Die Lehrjahre der Männlichkeit< wollen vor allem
auch langsam gelesen werden, mit Blick aufs Detail«.
Das wäre nicht nur als ihr Wunsch verständlich, die deutschen Leser sollten
bemerken & nachvollziehen können, was die Übersetzerin ihnen en détail
erarbeitet & vorgelegt hat. Sondern für die Empfehlung, die rund 800 Seiten mit
Bedachtsamkeit sich gewissermaßen genießerisch einzuziehen, sprechen auch noch
ganz andere Gründe.
Zum einen, weil Flauberts Abrechnung mit seinem Jahrhundert bei ihrem Erscheinen
1869 harsch von der französischen Kritik zurückgewiesen wurde, aber der
innovative Gegenwarts-, Gesellschafts- & Epochenroman heute als das zweites der
Flaubertschen Meisterwerke gilt; zum anderen, weil dieser Hanser-Dünndruckband
mit 800 Seiten nicht nur die Edlsche Neuübersetzung enthält, sondern neben ihrem
rund siebzigseitigen (!) Nachwort die besonders wichtige Chronologie zur
französischen Politik zwischen dem großen Napoleon & dem kleinen (Napoleon
III.). Vor allem aber wegen Edls fortlaufenden Anmerkungen zu Flauberts Roman
über die Mitte des 19.Jahrhunderts in der von Walter Benjamin (der die «Education
sentimental» schätzte) so genannten «Hauptstadt des 19. Jahrhunderts».
Mit den 140seitigen Anmerkungen wird der Primärtext aufs Erstaunlichste &
Vielfältigste unterkellert, so dass sowohl Flauberts wahnwitzige Recherchen zu
Zeit, Ort & Sujets seines Romans ans Licht gezogen sowie (Berechnungs-)Fehler,
die ihm unterlaufen sind, amüsiert erwähnt werden, sondern auch der zerklüftete,
mehrfach revolutionär veränderte politische Hintergrund transparent wird.
Um dessen exakte Rekonstruktion hatte sich der Genauigkeitsfanatiker Flaubert
wie wohl kein zweiter Romancier seiner Zeit bemüht, so dass z.B. das fiktive
Pariser Geschehen historisch genau lokalisierbar war. (Literarisch entspricht
das dem, was im Film hieße: «gedreht an Originalschauplätzen»). Auch wird
dadurch deutlich, wie & was er «en détail» & wortwörtlich aus eigener Orts-
oder Straßenkunde & Augenzeugenschaft oder aus zeitgenössischen Dokumenten,
Erinnerungen, Moden & Alltagsgegenständen wie Speisekarten oder Zeitungen, sowie
aus angeforderten Memorials von Freunden, Bekannten & Kollegen in das Mosaik
seines Zeitbilder-Kaleidoskops hineinmontierte – ohne dass seine verschwiegene
Montagetechnik erkennbar gewesen wäre.
So klären einen die Anmerkungen z.B. auch darüber auf, dass eine besonders
auffällig-gewagte Metapher wie (die auch von Eichendorff beschworene) «blaue
Luft» gar nicht von Flaubert stammt, der sich diese poetische Feder aus einem
Brief seines engen Freundes Maxime du Camp angeeignet & aufgesteckt hat.
*
Flauberts «L'Education sentimentale. Histoire d'un jeune homme» ist bislang bei
uns vornehmlich unter Titeln wie «Erziehung des Herzens» oder «Lehrjahre des
Gefühls» geläufig gewesen. Bekannt war, dass der französische Romancier sich an
Goethes Muster des Bildungsromans, «Wilhelm Meisters Lehrjahre», orientiert
habe. Wenngleich dann Flaubert das verschlungen-allegorische Muster Goethes
gewissermaßen vom romantischen Kopf auf realistische Füße gestellt hätte –
zumindest in diesem zweiten Versuch unter dem gleichen Titel, mit dem er aber
selbst gar nicht zufrieden war, jedoch keinen besseren fand (wohl weil Balzac
mit «Les Illusions perdues» ihn schon okkupiert hatte?)
Unzufrieden mit den inadäquaten deutschen Titel-Versuchen, fand Elisabeth
Edel bei dem großen dänischen, einst europaweit bekannten Nietzsche-Entdecker
Georg Brandes den Titel «Lehrjahre der Männlichkeit». Friedrich Schlegel hatte
damit in seinem Roman «Lucinde» dessen Helden charakterisiert & Brandes in
seinem Buch «Die romantische Schule in Deutschland» beiläufig gemeint, der Titel
treffe genauso gut auf Flauberts Roman zu. Der Schweizer Essayist Ferdinand Lion
fragte dann später: «Hat Flaubert in Schlegels >Lucinde< das Kapitel >Lehrjahre
der Männlichkeit< gekannt»? (Was für eine komische Frage! Dazu hätte doch
Flaubert die «Lucinde» deutsch kennen gelernt haben müssen. Lion hatte
wohl Brandes nur oberflächlich gelesen.)
Obwohl dem Titel, den Edl für ihre Übersetzung nun gewählt hat, etwas
Preußisch-Didaktisches (oder Feministisches?) anhaftet, kann man als Leser von
Frédéric Moreaus mäandrierendem Leben zwischen Achtzehn & Achtundvierzig Jahren
sich damit besonders dann anfreunden, wenn man auch, wie Edl, die «Lehrjahre»
Frédérics eher für eine sentimentale Nichtsnutzigkeit hält als für eine
produktive, bereichernde, charakterformende, wenn auch desillusionierende
männliche Lebenserfahrung (wie sie der «Bildungsroman» intendiert).
*
Wenn wir dem gebürtigen Provinzler, der im gleichen Jahr geboren ist wie sein
Schöpfer Flaubert, zum ersten Mal begegnen – am 15.September 1840 -, ist der
Achtzehnjährige auf der Rückfahrt vom Besuch bei einem reichen Onkel in Le Havre
(aus dessen Erbschaft er später sein aufwendiges Leben bestreiten wird). Der
mittelmäßig talentierte Frédéric Moreau hatte wohl in der Hauptstadt
übernachtet, bevor er nun mit dem Raddampfer nach Nogent-sur-Seine zu seiner
verwitweten Mutter heimfährt. Zwei Monate später wird er nach Paris gehen, um
Jura zu studieren, mit der Hoffnung, in den Künsten, der Politik & der
Gesellschaft künftig zu reüssieren & eine große bürgerliche Karriere zu machen.
Jedoch ein Balzacscher «Rastignac», wie seine Mutter wünscht, ist dieser
Flaubertsche Gegenentwurf zu dem skrupellosen Ehrgeizling Balzacs nicht; wenn er
später die adlige Witwe Dambreuse zu ehelichen gedenkt (um sich ins gemachte
finanzielle Nest zu setzen), fehlt ihm die skrupellose erotische Eroberungslust
Julien Sorels, mit der Stendhal in «Rot und Schwarz» seinen «männlichen» Helden
aus der Provinz ein Jahrzehnt früher ausgestattet hatte.
Auf dem Schiff bewundert Frédéric die Nonchalance, mit der sich der
Bilder-Händler Jacques Arnoux, reicher & großzügiger Eigentümer der Pariser
Galerie «Art industrielle», unter den Mitreisenden des Seine-Dampfers in Szene
setzt; mehr noch aber verliebt sich Frédéric «unsterblich» in die reizende
Schönheit von «Madame Arnoux»: eine erotische Fixierung, die ihm lebenslang
erhalten bleibt, ohne dass es zwischen beiden je zu der anfangs
unausgesprochenen, dann verdrängten, zuletzt immer noch ersehnten (späten)
sexuellen Erfüllung gekommen wäre.
Wie folgenreich diese Schiffsreise & der heimische Aufenthalt für Frédéric (&
die Konzeption des gesamten Romans) ist, bemerkt man fasziniert erst so richtig,
wenn man nach dessen Lektüre noch einmal zu diesen zwei ersten Kapiteln
zurückblättert. Nicht nur die Arnouxs, sondern auch mehrere der späteren
Bekannten, wie z.B. sein jugendlicher Copain Deslauriers, mit dem er am Ende
(gewissermaßen im Erscheinungsjahr des Romans, 1869) die triste Bilanz ihrer
beiden auf der Strecke gebliebenen Lebensentwürfe zieht, tauchen hier schon am
Horizont auf.
Alle anderen maßgeblichen Personen von Frédérics Leben treten in Paris in sein
Leben: sei's als Studienkollegen (wie z.B. der hochherzige Republikaner
Dussardier, den der düstere Fanatiker Sénécal während der Revolution tötet),
sei's als amouröse Lebensabschnittsbegleiterinnen wie vor allem die «Lorette»
(Prostituierte) Rosanette, die sich zeitweise von mehreren Liebhabern aushalten
lässt.
Der empfindsam-naive «tumbe Tor», dieser träumerische Parzival in der Hauptstadt
des 19.Jahrhunderts, scheitert durch eigene Ziellosigkeit & die
Antriebslosigkeit seiner Ambitionen ebenso wie durch das Pech, dass ihm andere
in entscheidenden Momenten seinem möglichen erotischen Gelingen zufällig in die
Quere kommen – wie z.B. Rosanette ihn gleich zweimal zu verschiedenen Zeiten in
den Augen seiner «unsterblich Geliebten» Marie Arnoux bewusst desavouiert.
Als Madame Arnoux, immer noch an der Seite des nun völlig verarmten & todkranken
Ehemanns in der Provinz lebend, am Ende Frédéric überraschend in seinem Pariser
Zuhause aufsucht, womöglich, um sich ihm hinzugeben, sehen beide bei ihrem
letzten Rencontre jedoch davon ab, nun endlich den lebenslang versäumten
Beischlaf nachzuholen.
«Madame Arnoux» wird sie übrigens wohl nicht nur immer wieder wegen des
«objektivistischen» Gestus' von Flauberts Prosa genannt. Sondern auch, weil
suggeriert werden soll, dass Frédéric sie nicht als «Marie», wie ihr Vorname
lautet, sondern als die verheiratete Frau liebt. Elisabeth Edl
weist darauf hin, dass Flaubert immer eine besondere Vorliebe für das Wort «adultère»
(Ehebruch) hatte. («Was verboten ist, das macht uns scharf»?)
Ohne Zweifel ist die
Porträtgalerie weiblicher Existenzweisen in den «Lehrjahren der Männlichkeit»
die größte Attraktivität des Romans, weil ihnen der Schöpfer von Emma Bovary
sein einfühlsamstes gestalterisches Interesse zuwendet.
Wobei einem als heutiger Leser an dieser historischen Epoche in Frankreich
auffällt, in welcher der morbide, restaurative Feudalismus vom stürmisch sich
entfaltenden Finanz- & Spekulationskapitalismus abgelöst wird, dass offenbar
das Macht ergreifende französische Großbürgertum vom Feudalismus der
großen Ludwige eines übernommen hat: die Selbstverständlichkeit der
Mätressenwirtschaft in der gesellschaftlichen Machtelite. (Denkt man an
Mitterands sowohl als auch an Hollands präsidentiale Sexgeschäftigkeiten, hat
sich daran bis heute wenig geändert.)
Wenn Frédéric Moreau für seinen Schöpfer gewissermaßen das Inbild des auf ganzer
Linie sanft ins Kleinbürgertum hinab gescheiterten Gernegroß ist, so fungiert
die lebensfroh-sinnliche Rosanette als sein aktives weibliches Gegenbild. Mit
ihr verlebt der von seiner romantischen Liebesfixierung Marie Arnoux – heute
würde man wohl sagen – «traumatisierte» Frédéric ein paar schöne Tage & Nächte
in der idyllischen Landschaft von Fontainebleau, wohin das Liebepaar während der
Revolution von 1848 vorübergehend ausgebüxt war. (Eine der brillantesten
Episoden des Romans.)
Die «Marschallin», wie sie von ihren Liebhabern genannt wird, zu denen ja auch
der Ehemann von Frédérics platonisch geliebter «Madame Arnoux» gehört (der hatte
Rosanette ja den Provinzler zugeführt), war eigentlich nur «zweite Wahl» für
Frédéric. Der hatte nämlich ein luxuriöses chambre séparée eingerichtet, wo er
die endlich mit ihm zum Ehebruch bereit scheinende Marie Arnoux sehnsüchtig
erwartete. Allerdings vergeblich. Die plötzliche Erkrankung & Genesung ihres
Sohns, die sie als göttliches Zeichen deutete, verhinderte die Katholikin am
Kommen – was der enttäuschte Liebhaber jedoch nicht ahnte oder gar wusste.
Gewissermaßen zur Bestrafung der Ausgebliebenen holte er sich daraufhin
Rosanette ins präparierte Liebesnest & logierte fortan bei ihr als ihr ständiger
Begleiter (Allerdings weint er nachts still an Rosanettes Seite - gewiss aus
Enttäuschung über die Ausgebliebene.)
Diese Liaison blieb zwiefach folgenreich. Zum einen gab Frédéric dadurch die von
ihm bei einem Heimataufenthalt eingegangene Verlobung mit einer wesentlich
jüngeren reichen Nachbarstochter auf, zum anderen bekam Rosanette ein Kind, das
jedoch bald darauf starb. Vergeblich träumte sie von einer Heirat mit Frédéric,
dem sie für seine gesellschaftlichen Aufstiegsambitionen zu «vulgär» war.
Dabei hatte die Prostituierte Charakter & ein eigenes Ethos. Da Frédéric schon
ihre Wohnung bezahlte, hätte in ihren Augen eine weitere finanzielle Belastung
«ihrer Liebe geschadet». Deshalb erwirtschaftet Rosanette sich ihren
Lebensunterhalt insgeheim durch andere (ältere) Liebhaber. Flauberts Sympathie
für diese selbstständige Frau drückt sich meines Erachtens auch darin aus, dass
er sie, als einzige Person des Romans, in direkter Rede von sich
erzählen lässt - wie sie von ihrer Mutter auf den Weg zur Prostitution gebracht
wurde. Und dass sie dieses nicht untypische Geständnis einer «Lorette» dem
Geliebten im Augenblick ihrer intimsten Verbindung macht & es der Autor
als dunklen Untergrund ihres Schicksals mitten in die Idylle der gemeinsamen
Fontainebleau-Glückseligkeit platziert, dürfte auch für meine Annahme sprechen.
Ein Beispiel für die meisterhafte Diskretion des Erzählers Flaubert, das man
erst bei einer zweiten Lektüre entschlüsseln kann, findet sich sehr früh in der
Beziehung zwischen Frédéric & Madame Arnoux: Auf der abendlichen
Kutsch-Rückfahrt von einem Ausflug in das Haus der Arnouxs im Bois de Boulogne
neben der Angehimmelten & ihrer schlafenden Tochter sitzend, bemerkt er, dass
Madame Arnoux weinte. «War es Reue? Sehnsucht? Was nur? Dieser Kummer, von dem
er nichts wusste, rührte ihn wie etwas ganz Persönliches, jetzt gab es zwischen
ihnen ein neues Band, eine Art Komplizenschaft», heißt es in dem typischen
Flaubertschen «style indirect libre».
Warum nur weint sie, warum hatte sie zuvor neben ihm «am ganzen Leib gezittert»
& warum ist sie zugleich so gereizt? Hatte nicht liebevoll & aufmerksam ihr
Ehemann vorm Wegfahren einen Strauß Rosen für sie gepflückt? Zwar hatte sie den
Strauß auf ihr Zimmer getragen, weil sie sich an der Stecknadel, die der
eheliche Galan daran befestigt hatte, verletzt gehabt hatte. Als sie »nach einer
Viertelstunde» zu den Wartenden zurückkam, ohne den Strauß, eilte Frédéric, ihn
zu holen – obwohl sie gesagt hatte, sie wolle ihn nicht. Bei nächster
Gelegenheit warf sie ihn aus der fahrenden Kutsche & griff «nach Frédérics Arm
und bedeutet ihm, niemals davon zu sprechen».
Was der naive Bewunderer nicht bedenkt – vielleicht aber der aufmerksame Leser
erinnert –, ist ein winziges Faktum: dass Frédéric bemerkt hatte, wie
Monsieur Arnoux in seiner mit Papieren vollgestopften Tasche gewühlt & «irgendeins»
herausgezogen & damit den Rosenstrauß umwickelt hatte. Offenbar hatte er jedoch
zufällig ausgerechnet jenes Papier gegriffen, das Frédéric als ahnungsloser
Postillon d'amour ihm früher am Tag als Brief seiner Mätresse «nicht vor Zeugen»
übergeben & Arnoux nach der Lektüre «in seine Tasche gestopft hatte».
Verständlich, dass Madame Arnoux über dieses corpus delicti der Untreue ihres
liebevollen Gatten not amused war! Ebenso verständlich, dass sie nach einer
Viertelstunde ohne das hochsymbolische, vergiftete Rosengeschenk erschien & erst
ihr Töchterchen umfasste (die betrogene Mutter!), bevor sie die Kutsche bestieg.
Und der ignorante Frédéric hatte den von ihr auf dem Zimmer zerfledderten
Rosenstrauch auch noch erneut mit dem verräterischen Brief-Papier umhüllt!
Es ist der Leser, der hier mehr ahnt & weiß, als der «Held» - während der Autor,
gewissermaßen mit Pokergesicht, das skandalöse Geschehen exakt protokolliert,
ohne einen interpretierenden Hinweis, gar einen Kommentar zu geben, um das
Rätsel der weinenden Madame Arnoux zu lösen. (Demonstrativ ist im
Vergleich dazu der brennende Schlitten mit dem Namen Rosebud am Ende von Orson
Wells «Citizen Kane». Während niemand der Rechercheure im Film das Rätsel lösen
konnte, warum «Rosebud» Kanes letztes Wort war, können es aber die Zuschauer.)
*
Die Lebens- & Liebesabenteuer des mittelmäßigen, dünkelhaften Helden stehen
gewiss im Vordergrund des Romans & finden das primäre Interesse der Leser, denen
wohl auch auffällt, welche alles dominierende Rolle das Geld (in Form von
Aktien, Grundbesitz, Mieteinkommen, Erbschaften, Darlehen & Börsenspekulation)
in der bürgerlichen Gesellschaft & den Liebschaften einnimmt. (Sogar das
verunglückte Bordellabenteuer, das die beiden Freunde aus Nogent-sur-Seine als
«Das Beste in unserem Leben» bezeichnen, steht ironischerweise in diesem
Zeichen.)
Gleich zweimal im Verlauf des Romans arrangiert Flaubert Szenen, in denen seine
Personen weinen, sich aber über Anlass oder Grund ihrer intensivsten
emotionalen Erschütterung einander im Unklaren lassen oder sogar belügen – damit
die Geheimnisse ihrer Einsamkeiten so unentdeckt bleiben wie der Grund von
Madame Arnouxs Weinen.
Eine besonders groteske Szene spielt sich nach dem Tod des reichen
Börsenspekulanten Dambreuse in dessen Haus ab. Während sein erkaltender Leichnam
im Parterre liegt, malen im Stockwerk darüber sich seine Witwe & der gerade von
ihr zur Heirat animierte Liebhaber Frédéric aus, was sie mit dem Erbe künftig
für ein glanzvolles Leben führen wollen. Aber zuvor macht sich Frédéric Gedanken
über die standesgemäße Beerdigung und begibt «sich noch einmal zum Schneider,
wegen der Trauerkleidung für die Dienerschaft; und dann blieb ihm noch ein
letzter Weg, er hatte nämlich Biberfellhandschuhe bestellt und angebracht waren
Handschuhe aus Flockseide».
Als der Witwe eröffnet wird, dass ihr verstorbener Ehemann sie insgeheim enterbt
hatte, sucht sie vergeblich in seinem Arbeitszimmer nach dem Testament, auf das
sie ihre Witwenzukunft gebaut hatte. Sie hatte die Geldschränke mit Axthieben(!)
erbrochen: »Eine trauernde Mutter kann nicht jammervoller neben einer leeren
Wiege sitzen als Madame Dambreuse vor den gähnenden Geldschränken».
Da die Dambreuses ein offenes Haus immer für den (depravierten) Adel & andere
politischen Reaktionäre hatten, benutzten alle Lobredner des Verstorbenen auf
seiner Beerdigung die Gelegenheit, «gegen die Sozialisten zu wettern». Wie es
schon damals in diesen Kreisen um die von ihnen öffentlich doch so hoch
gehaltene Kirche stand, offenbart beim Requiem ihre «religiöse Unwissenheit», so
«dass es eines Zeremonienmeisters bedurfte, der ihnen hin und wieder ein Zeichen
gab für Aufstehen, Knien und Sitzen».
*
Der enttäuschte Romantiker Flaubert (Ist er nicht zum Zyniker geworden?) nimmt
in seiner «Education sentimentale» jede Gelegenheit war, Voltaires «Ecrasez
l'infame» gegen die politische Restauration literarisch in Stellung zu bringen,
indem er nicht nur den vertrottelt-reaktionären Adel, sondern ausnahmslos alle
politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen, Organisationen & Ambitionen der
sich konstituierenden bürgerlichen Demokratie seiner gnadenlosen Ironie, seinem
beißenden Spott und dem Säurebad seiner scharfen Satire aussetzt: Alles ist Lug
& Trug, Gier, Korruption, Geschäftemacherei & Opportunismus. (So lässt sich am
Wandel seiner Geschäftsfelder der ökonomische & geistige Niedergang Monsieur
Arnoux ablesen.)
Frédérics Herumtaumeln in
dem, was die zeitgleiche Offenbach-Operette «La Vie Parisienne» als pure
Lebenslust feiert, bietet Flaubert ein weites Feld signifikanter
Gesellschaftsmomente, um die lustvoll-bösartige Abrechnung mit der Gesellschaft
seiner Zeit immer erneut, zumeist brillant, in Szene zu setzen. Der Reigen der
Ereignisse, an deren Denunziation sich Flaubert grimmig vergnügt, reicht vom
derben Tanzsaal, dem exklusiven Kostümball & dem Empfang, dem Gesetzten Essen &
dem Séparée bis zum Duell, der Pferderennbahn, der politischen Versammlung, der
Auktion und der Fabrik-Arbeit. Ganz zu schweigen von den Revolutionen 1830 &
1848, in denen er «die Bürger», je nach politischem Gusto, auf dem Weg zu ihrer
Republik & Demokratie beobachtet.
Zu den makabersten Szenen der
Revolutions-Passagen gehört jene, in der «Vater Roque, empört über die
Missachtung seiner Autorität», einen inhaftierten jungen Mann, der im Gefängnis
nach Brot schreit, einfach umbringt. «>Da hast du's!< sagte Vater Roque und
schoss. Man hörte ein ungeheures Gebrüll, dann nichts. Am Rand des Holzzubers
klebte noch etwas Weißes» – offenbar das Gehirn des aus purer Wut Erschossenen.
«Danach ging Monsieur Roque seiner Wege». Als kurze Zeit darauf seine Tochter
ihn schalt, er habe sich aus lauter Sorge um sie krank gemacht, erwiderte er: «
>Ja! du hast recht! Aber ich kann mir nicht helfen! Ich bin viel zu
weichherzig!<»
Eine Szene, die aus Karl Kraus' «Letzten Tagen der Menschheit» stammen könnte.
*
Elisabeth Edl spricht in
ihrem Nachwort vom «eigentlichen Roman der Moderne». Sie beruft sich dabei auf
den Hymnus, den Hugo von Hofmannsthal der «L'Education sentimentale» widmete;
er bewunderte, dass sich der Roman auf «das Ganze des Lebens» beziehe & die
Leser »so viel Einsicht in das wirre Kräftespiel unseres Lebens» daraus gewinnen
könnten.
Gemeint sind damit wohl nicht nur die biografischen, politischen & erotischen
Irrungen & Wirrungen des Frédéric Moreau in Paris, sondern Flauberts
detaillierter Versuch, gewissermaßen synthetisch die französische Gesellschaft,
Kultur, Geschäftswelt & die technische Entwicklung (!) während der 30 Jahre, in
denen das Romangeschehen spielt, umfassend zu rekonstruieren & suggestiv seinen
Zeitgenossen deren eigenerlebte Zeit vor Augen zu stellen.
Wir späteren Leser aber
assoziieren mit Flauberts szenischen Beschreibungen Bilder von Manet, Renoir,
Degas oder Caillebotte ebenso wie die Operetten Jacques Offenbachs. Und bei den
satirischen Passagen, in denen der Bürger-Hasser groß ausholt, stehen einem
Karikaturen von Grandville oder Daumier- wenn nicht gar Bilder von Ensor oder
George Grosz – assoziativ vor Augen.
Ein einzigartiges Beispiel
für die «Velozität» der Zeit, über die schon der alte Goethe geklagt hatte, ist
Flaubert an einer Stelle gelungen: Frédéric eilt zu Madame Arnoux, von der er
erfahren hat, dass sie sich allein in einem gemieteten Haus in einem Pariser
Vorort aufhält: Dort «machte er nun öfter Besuche. Er versprach dem Kutscher
üppige Trinkgelder. Doch seine Ungeduld über die Langsamkeit des Pferdes ließ
ihn häufig aussteigen; dann kletterte er, ganz außer Atem, in einen Omnibus; und
wie verächtlich musterte er die vor ihm Sitzenden, denn die fuhren nicht zu
ihr!»
So elegant & psychologisch
komplex wie hier gelingt es Flaubert nicht immer, die zeitspezifischen
Veränderungen (von der gemieteten Droschke zum öffentlichen Omnibus) mit der
fiktiven Geschichte in Einklang zu bringen.
Vor allem hat der
Schriftsteller fortlaufend das Problem, die fiktive Geschichte in die
historische Rekonstruktion des zeitgenössischen Ambientes einzupassen. Da
Flaubert essayistische Passagen verschmäht, sucht er die Atmosphäre der Zeit in
kaleidoskopisch-summarische Tableaux zu konzentrieren, z.B. wenn er den
proletarischen Tanzrausch durch Abbreviaturen der unterschiedlichen weiblichen
Hingaben erotisierend zu beschwören versucht, oder wenn an anderer Stelle in
einem längeren Absatz sämtliche Kutschen-Typen mit ihren Namen aufruft (&
Frau Edl zu tun hat, in ihren Anmerkungen uns deren Unterschiede zu erklären.).
Diese summarischen verbalen
Präsentationen erinnern an Historische Filme, die prunkend ihr gesamtes
bewegliches Arsenal an «Leitfossilien» auf einmal präsentieren – also
z.B. einmal eine Korona von unterschiedlichen historischen Autotypen durchs Bild
hin-& herfahren lassen. Bei der Darstellung von Massenszenen (z.B. dem Geschwofe
auf der Tanzfläche, dem Auf-& Abtrieb der Besucher des Pferderennens) bedient
sich Flaubert auf das Verblüffendste filmischer Montage-Erzählweisen, will
sagen: dem Wechsel unterschiedlicher Einstellungsgrößen: vom Panoramablick bis
zur Großaufnahme («Sie drehten sich so nahe bei ihm, dass er auf ihren Stirnen
die Schweißtröpfchen sah»). Es gibt sogar eine Passage mit klassischen
Überblendungen, wenn Frédéric einmal eine Halluzination hat.
Der ganze Roman (auch seine
elliptische Erzählweise!) lässt sich für das cinéastische Auge als ideale
Vorlage für einen aufwendigen Historischen Film «lesen» – am besten von Max
Ophüls («Lola Montez»), Francois Truffaut («Jules und Jim») oder Jean Renoir
(«La Règle du jeux»), von dem ja auch schon eine der vielen Adaptionen der
«Madame Bovary» stammt. Ein unerfüllbarer Traum! (Dem Internet entnehme ich,
dass Alexandre Astruc 1962 eine «L'Education sentimentale» gedreht hat, die aber
offenbar die fundamentalen Subtilitäten des literarischen Originals tilgte.)
Vom A bis Z scheint mir «L'Education sentimentale» seine Verfilmung unbewusst zu
antizipieren. Von der Eröffnungsszene auf dem Schiff, den Mit-Reisenden &
Frédérics staunender Wahrnehmung der Familie Arnoux (mit Voice-over einer
Erzählerstimme) bis zu den beiden letzten Sequenzen (Frédéric blickt der auf der
Straße in einem Fiaker verschwindenden Madame Arnoux nach, die sich zuvor bei
ihrem letzten Rencontre zum Abschied eine Strähne ihres (mittlerweile weißen)
Haars abgeschnitten hatte: «Und das war alles»/ Im Winter am Kamin sitzend,,
plaudern die beiden Jugendfreunde über ihr Leben, bilanzieren, was aus ihren
Bekannten & Freunden geworden ist & ziehen am Ende ihre berühmte bittere Bilanz)
Noch nie hatte ich bei einem
Klassiker so bedrängend die Vision, lesend ihn als den Film zu sehen,
nachdem das Buch als seinem eigentlichen ästhetischen Ziel zu verlangen schien.
Etwa derart, wie Marx das Entwicklungsgesetz der Ökonomie beschreibt: wenn die
Produktivkraft sich so steigert, dass sie die bislang bestehenden
Produktionsverhältnisse sprengt. Wie Flaubert mit seiner literarischen
Epochen-Rekonstruktion «L'Education sentimentale» den Erzählroman des
19.Jahrhunderts.
Denn für Flauberts neuartige
Ästhetik der quasidokumentarischen Rekonstruktion von Zeit & Ort als
authentischer Kulisse für eine fiktive Handlung, Geschichte & agierendes
Personal, das gewissermaßen wie von einer Kamera «registriert» werden sollte,
war die alte Erzählstruktur & -haltung (Balzac/Stendhal) nicht mehr adäquat. Das
Flaubertsche Ideal einer quasi «objektiven» Erzählweise basierte auf der
permanenten Suche nach dem «seul mot juste», um zur subjektlosen, womöglich
a-humanen Prosa des «wissenschaftlichen Zeitalters» (Brecht) zu gelangen.
Wahrscheinlich sind erst einige der Vertreter des "Nouveau Roman» bis dorthin
gelangt. Flauberts Hass auf das, was er «Dummheit» nannte & auf Schritt & Tritt
in seiner bürgerlichen Umwelt registrierte, drängte ihn zu satirischen An- & vor
allem Eingriffen.in Gestus & Stil seiner Prosa der Impassibilité.
Wenn James Joyce von seinem «Ulysses» stolz behauptete, der Roman reproduziere
die Existenz Dublins so genau, dass man es danach rekonstruieren könne, hätte
Flaubert mit noch größerer Berechtigung das gleiche von dem Paris der «L'Éducation
sentimentale» behaupten können.
*
Aber, wie steht es nun mit der Übersetzung Elisabeth Edls? Weder reicht mein
eingerostetes Schulfranzösisch, noch besitze ich das französische Original
(geschweige denn die von Edl befragte Sekundärliteratur), um fairerweise ihre
Übersetzungsarbeit beurteilen zu können. Obgleich Übersetzer generell wünschen,
dass die Kritik ihre oft jahrelange intensive Arbeit würdigt – natürlich mit
dem Wunsch, dafür zustimmend gelobt zu werden -, wären in diesem Fall nur
kundige Romanisten dazu in der Lage. Die generalisierenden Bemerkungen einer
pauschalen «Übersetzungskritik» erscheinen mir, ob positiv oder negativ, von
jeher anmaßend, gönnerhaft oder unfair. Allenfalls ist man als kritischer
Vor-Leser in der Lage, zu der deutschsprachigen Gestalt des französischen
Klassikers seine Eindrücke zu formulieren & im Übrigen den Vorsätzen zu trauen,
die Elisabeth Edl in ihrem Nachwort über ihre Übersetzerarbeit geäußert hat.
Erkennbar ist jedenfalls, dass Formulierungen wie z.B. «brachten ihn auf die
Palme»; «beschloss, mit der Marschallin nicht lange zu fackeln»; »in den Kram
passt»; «er marschierte in Richtung…» eine heutige alltagssprachliche
Redeweise imitieren. Ob ihnen im Original eine adäquate zeitgenössische
Ausdrucksweise entspricht, weiß ich nicht, nehme es jedoch an, weil Elisabeth
Edl ihren Beruf mit dem größten Respekt vor dem Original immer ausgeübt hat. Die
von ihr an der »L´Education sentimentale» gerühmte «Spannweite der Sprache» &
«die Vielfalt der Register» sei «unerhört», behauptet sie in ihrem Nachwort. Sie
hat sie jedoch als Übersetzerin «erhört» & damit ein Lektüre-Vergnügen bis ins
kleinste Detail der Flaubertschen Kunst ermöglicht. Denn das grandiose Buch ist
auch eine umfassende geistige Expedition in die Vor-& Frühgeschichte der
kapitalistisch-demokratischen «westlichen» Moderne. Es fragt sich, wie weit wir
heute gesellschaftlich davon entfernt sind.
Nicht verschwiegen seien aber auch ein paar stilistisch fragwürdige
Formulierungen, die mir bei der zurecht empfohlenen Langsamkeit der Lektüre zu
Stolpersteinen wurden:
«…dünkten ihm blöd»
Die Bediensteten auf der
Schwelle wehrten niemand den Zutritt (verwehrten niemandem…)
…breitet er im Triumph die
Arme (fehlt aus)
Anderswo (woanders)
In der Mitte des Tages,
wenn die Sonne lotrecht herabfiel (wenn die Strahlen der Sonne oder
das Sonnenlicht..)
Ließ Madame Arnoux erröten
wie eine Ohrfeige mitten im Gesicht (wie von/bei einer Ohrfeige mitten
ins Gesicht)
Ihr Mann, verschwenderisch
mit Närrischkeiten, unterhielt eine Arbeiterin der Manufaktur… (gemeint ist
wohl, dass er als Chef mit einer Arbeiterin eine Beziehung unterhält,
bzw. ihr einen Unterhalt zahlt, wie er´s bei den Luxusprostituierten tut, zu
denen er eine ständige Beziehung hat)
Ja, er besaß dieses Glück,
und er war nicht froher darum (darüber oder deshalb)
er geriet darob in
Verzückung (darüber)
an jemand anders (jemand
anderen)
ein großer bursche, der
niemand anders war als der sänger (niemand anderes)
und sie zogen bilanz über
ihr leben (sie zogen die bilanz ihrer/ihres leben(s))
Diese Sicherheit im voraus,
betreffend eine Sache, die er als edle Tat ansah, mißfiel dem jungen Mann
Artikel online seit 14.01.21
|
Gustave Flaubert
Lehrjahre der Männlichkeit
Geschichte einer Jugend
Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl
Hanser-Verlag,
München 2020
800 Seiten
42,00 €
Leseprobe |