Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Die Logik der BWL und die Religion des Alltags

Klaus Dörres Untersuchung über die Ursachen und Wirkungskräfte
der Radikalisierung von Arbeitermilieus

Von Peter Kern
 

Die Nachricht, VW investiere hohe Summen in die deutschen Werke, traf in der Wirtschaftspresse auf skeptische Stimmen, gelten diese Standorte doch als besonders ineffizient und renditeschwach. Unternehmerisch sinnvoll sei dies keineswegs, es sei halt politisch gewollt, so die Kommentare. Finanzfachleute haben ihre eigene Vorstellung von Rentabilität, und Politik gehört nicht zu ihrem Metier. Ihnen gelten Produktionsstätten mit einem Ertrag von drei Prozent als unrentabel, würde sie doch keinen ordentlichen GWB, keinen Geschäftswertbeitrag leisten.

Der GWB ist eine für die Unternehmensführung zentrale Kennziffer, ein polyglotter Vorstand spricht gerne auch vom Shareholder Value. Nach Adam Riese liegt die Ziffer drei auf dem Zahlenstrahl rechts, aber laut BWL-Logik liegt sie links, im negativen Bereich. Was bloß drei Prozent einbringt - so viel wie etwa ein fürs Unternehmen aufgenommener Kredit kostet - weist demnach einen negativen GWB auf. Ein solcher Geschäftsbereich gehört in ein sogenanntes Low Cost Country ausgelagert, dazu rät im Jargon seiner Branche jeder Unternehmensberater. Outsourcing zu managen, ist sein Geschäft, wofür er von den Unternehmen gerne in Anspruch genommen wird, vor allem in Krisenzeiten wie den gegenwärtigen. Die in einem High Cost Country beschäftigten Industriearbeiter haben bei diesem Outsourcing natürlich das Nachsehen. Wer mehr als 3. 000 brutto im Monat verdient, gilt den Mc Kinseys als hochbezahlt. (Für diese Summe bieten sie etwa anderthalb Tage Beratung an, so hoch ist ihr Tagessatz).

Die Verlagerungspolitik der Unternehmen ist mitverantwortlich für die Resonanz, die die Rechte bei den Arbeitern findet. Klaus Dörre hat den Kausalzusammenhang in seinem Buch so herausgearbeitet, dass sich daran nichts deuteln lässt. Bei ihm findet eine soziologische Kategorie sinnvolle Anwendung, die eigentlich längst verabschiedet war, weil sie zur Gesellschaft der Singularitäten so gar nicht passen will. Vermutlich ist Singularität der kultursoziologische Oberflächenbegriff für Phasen der Hochkonjunktur, während die altehrwürdige Klassenkategorie wieder von sich reden macht, sobald ökonomische Krise herrscht und wieder gilt: It’s the economy, stupid. 

Die Arbeiterschaft macht längst nicht mehr als potentielles emanzipatorisches Subjekt von sich reden, sondern als für rechte Einflüsterung anfälliger unsicherer Kantonist. Die gerne als Globalisierungsverlierer Bezeichneten gelten mittlerweile als konservative, ja als reaktionäre Kraft. Infratest und Allensbach belegen mit ihren in den letzten Landtagswahlen ermittelten Zahlen die Affinität der deutschen Arbeiter, gar der gewerkschaftlich organisierten, zur AfD. Trumps Wahlergebnisse im rost belt gehen aufs Konto der nämlichen Klasse; den blue collars in den abgehängten Industrieregionen gilt der Milliardär als Messias.

Klaus Dörre hat keine feinsinnige Kulturkritik geschrieben, wonach die für die Wissensgesellschaft nicht recht Gebildeten für die rechte Malaise verantwortlich sind. Solchen elitären Ton schlagen immer mehr Kommentatoren an. Seine Studie bewährt den guten Sinn der Klassenkategorie. Die Kapitalbesitzer haben den ihnen gesetzespolitisch gebotenen Spielraum weidlich genutzt und immer mehr Beschäftigte in ein Prekariat verwandelt, sie in die Warteschleife geschickt, die dem Buch seinen Titel gibt. Zeitvertrag, Werkvertrag, Befristung – die als Regierungskunst verstandene BWL-Logik hat zum Erstarken der neuen Rechten ordentlich beigetragen haben. Es war die rot-grüne Koalition, die einmal das Arbeitsrecht deregulierte, und die CDU war damals sehr froh, dass ihr die Sozialdemokraten die Arbeit abnahmen. Beide eint nun das Entsetzen vor den sich festsetzenden Rechtsradikalen, und auch die begünstigten Vorstände der Konzerne sind ziemlich entsetzt. Die AfD und das ihr zugehörige Mob-Milieu, dem schon die Lust auf Pogrom in den Fingern juckt, sieht man in den exportorientierten Unternehmen als rufschädigend an. Den Chefs der kleinen Firmen dagegen gefällt die AfD ausnehmend gut. Die Kleinunternehmer und Handwerksmeister sind neben den Arbeitern ihre treusten Wähler, die Wahlanalysen zeigen dies.  

Die Regierungsparteien haben, als sie das Arbeitsvertragsrecht deregulierten, zugleich die Industriepolitik forciert. Sie versuchen seit Jahr und Tag, der Verlagerung von Industriearbeitsplätzen entgegenzuwirken. Wenn Automobile und Waschmaschinen sich in Polen oder China billiger fertigen und auf die Weltmärkte bringen lassen, ist ein höheres Automatisierungsniveau das Mittel der Wahl, um in Deutschland hergestellte Güter wettbewerbsfähig zu halten und Jobs zu sichern. Dieser Schluss ist zwingend, auch wenn er auf den ersten Blick widersinnig erscheint, denn auch die hoch automatisierte Fertigung kommt nicht ohne menschliche Arbeitskraft aus, und es braucht in den vor- und nachgelagerten Fachbereichen besonders qualifizierte. Über Industriepolitik schreibt Klaus Dörre leider nicht, und es ist schade drum, denn ein soziologisches, empirisch erhärtetes Urteil über den erhofften Effekt, Beschäftigung zu schaffen und sozialen Konflikt zu befrieden, hätte man gerne gehört.

Damit Industriepolitik bei den Industrien anlangt, haben die Regierungsparteien eine Akademie der Technikwissenschaft, ein Bündnis Zukunft der Industrie, eine Initiative Neue Qualität der Arbeit, eine Konzertierte Aktion Mobilität ins Leben gerufen. Ähnliche Gremien gibt es in jedem Bundesland. Der Staat lässt mit seinen Milliarden zur Künstlichen Intelligenz, zur Industrie 4.0, zur Batterietechnik, zur Energiewende forschen und gibt damit technologische Anschubhilfe. In solchen Gremien ist vertreten, wer zum deutschen System der industriellen Beziehungen Zugang hat, die Industrieverbände, Gewerkschaften, ausgesuchte Universitäten und die Forschungsgesellschaften. Es ist ein Großversuch, mit dem Ziel, die gegenwärtigen Umbrüche der Industriegesellschaft zu moderieren und Druck von den Arbeitsmärkten zu nehmen. Dörre kann diesem Korporatismus nichts abgewinnen; der Green New Deal ist für ihn bloß eine Mogelpackung.

Die neue Rechte will die gegenwärtigen Strukturumbrüche – die schon ohne die vom Virus verursachte Rezession schwierig genug zu bewältigen wären – bei ihren Adressaten unter die Schwelle der Aufmerksamkeit drücken: Den nächsten, mit dem Internet der Dinge gesetzten Automatisierungsschub; den Abschied von den fossilen Energiequellen; den Wechsel vom Verbrennungs- zum elektrischen Motor; das Qualifizierungsproblem überalterter Belegschaften. Für alles, was gegenwärtig eine dringende Antwort verlangt, soll „Ausländer raus“ die Antwort sein. Wer sich der Rechten in den Weg stellen will, tut gut daran, ins Realitätsbewusstsein zu heben, was diese ausblenden will. Zeigt sich doch dann, wie existenzbedrohend eine Politik ohne blassen Schimmer ist.  Herr Gauland im Sommerinterview, von Thomas Walde nach den Vorschlägen seiner Partei bezüglich des schnellen Internets befragt - eine Sternstunde!

Was Industriepolitik leistet, ist ein wichtiger Beitrag gegen das Erstarken der neuen Rechten. Sie, die Transformation moderiert, hat jedoch selbst eine nötig. Gegenwärtig ist Industriepolitik viel zu sehr Eldorado für die Unternehmer und Linsengericht für die Gewerkschaften. Take the money and run, ist mitunter das Motto, und oft genug gilt das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben.  Die Konzerne kassieren Forschungsgelder ohne Garantie zu leisten, dass neue Produktlinien tatsächlich im Inland gefertigt werden, und jede ökonomische Krise, wie die gegenwärtige, lässt sie sofort wieder im Outsourcing das Mittel der Wahl sehen. 

Den Gewerkschaften bleiben, im Vergleich mit den für die Unternehmen fließenden Geldern, bescheidene Etats, mit denen sie ganz Wesentliches erforschen lassen: Wie kann die wissenschaftsbasierte Industrie, von der Digitalisierung auf ein neues Niveau gehoben, sich mit der Humanisierung der Arbeitsabläufe vertragen? Welche technologischen Hilfsmittel braucht es dazu, Tablets, Datenbrillen? Wo wird das Internet der Dinge gesteuert, im IT-Büro oder in der Werkshalle? Welche Qualifikationen halten menschliche Arbeitskraft künftig verkäuflich? Dass man mehr Datenfachleute braucht, weiß jedes Kind. Aber um es genauer zu wissen, ist eine auf unterschiedliche Industriezweige bezogene, arbeitswissenschaftliche Forschung verlangt. Der in guten Arbeitsplätzen sich niederschlagenden Forschung ist ein entscheidender Nebeneffekt zuzutrauen: Als Teil der Industriepolitik den Arbeitern eine Perspektive zu eröffnen.

Eine Arbeiterschaft ohne Perspektive verschafft dagegen der neuen Rechten eine gesicherte Zukunft. Dörres Untersuchung verweist auf die Kollateralschäden einer Personalpolitik der gedrückten Löhne und der gefügig gemachten Arbeitskraft. Was kaum in die Öffentlichkeit dringt, ist betrieblicher Alltag: Jede Investition in eine neue Produktreihe oder gar eine neue Fabrik will mit Zugeständnissen der Belegschaft bezahlt sein. „Was bekommen wir von Ihnen, wenn wir das nächste Modell am deutschen Standort fertigen?“ Ein Standardsatz in jeder Verhandlungsrunde zwischen Konzern- und Gewerkschaftsverantwortlichen. Man einigt sich auf weniger Urlaubsgeld, auf weniger Pausenminuten, auf längere Arbeitszeiten oder auf sozialverträglichen Personalabbau.

Wer mit ständiger Drohung mit Verlagerung oder Jobverlust erpresst wird, wird verängstigt und er wird wütend gemacht. Seine Wut richtet sich eher nach außen oder nach unten, statt nach oben. Die verquere Wut in einer sich selbst verleugnenden Klassengesellschaft ist das Leitmotiv, die deep story, die das besprochene Buch erzählt. Für AfD und Pegida war es ein Leichtes, das Feindbild der Flüchtlinge, der Fremden, der Türkischstämmigen zu projizieren. Befristete Verträge, schrieb neulich ein abgeklärter Kommentator der Zeitung für Deutschland, seien nicht infektiös, aber was ist mit Hassreden? Je prekärer die Arbeitsverhältnisse, desto größer die Nachfrage nach solcher Hetze. Ostdeutschland, wo die AfD ihre größten Triumphe feiert, und der Flügel zum ganzen Vogel geworden ist, wie ein CDU’ler treffend bemerkt hat, war nach der Wende das Experimentierfeld derer, denen Flächentarifvertrag und Gewerkschaften ein Greul sind. Soziales Wohlverhalten, so der damalige Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, bekomme man auch billiger.

Zu den vom Autor geschilderten vertragsförmigen Methoden, Belegschaften gefügig zu machen, kommen noch halblegale bis illegale zum Einsatz, damit es erst gar keine Betriebsräte gibt und vor allem keine Gewerkschafts-Fuzzis (im oberen Management nennt man sie gerne so). Drohung, Erpressung, Bestechung – das ganze Arsenal des Machiavellismus steht zur Verfügung. Anwaltskanzleien und Detekteien sind behilflich; Union Bashing gibt es nicht nur in South Carolina, auch in Süd-Württemberg weiß man, wie’s geht.

Die Gewerkschaften präsentiert das besprochene Buch etwas zwiespältig. Ihre Anstrengung, den Hassverkäufern (Adorno) die betrieblichen Räume eng zu machen, wird gewürdigt. So die klare Ansage des IG Metallvorsitzenden „Wer hetzt, der fliegt“, die Strategie also, Ausgrenzung mit Gegenausgrenzung zu beantworten.  Sie versäumten es aber, dem verhetzenden Antagonismus zwischen drinnen und draußen den richtigen zwischen oben und unten entgegenzustellen, so der Autor, und verweist auf die Diskrepanz zwischen der Sonntagspredigt und der Werkeltagspolitik. Im Gewerkschaftsseminar doziere man die Kapitalismuskritik, die im Alltag unterbleibe, denn da gälte die Sorge der Wettbewerbsfähigkeit des Exportweltmeisters. Hat der Autor nicht Recht?

Ja, er hat Recht, denn seine Welt ist die des kritischen Wissenschaftlers, der dem Gedanken an eine wirkliche Transformation die Treue hält. Nein, er hat Unrecht, weil die Welt der zum Handeln Gezwungenen ausgeblendet bleibt. Auch der Handelnde will, so er dem nämlichen Gedanken treu bleibt, eine wirkliche Transformation, aber auf die real sich vollziehende muss er Einfluss gewinnen. Er ist in der Tat gefragt: „Wo sind die neuen Beschäftigungsfelder, mit denen Du verhindern willst, dass der Switch vom Verbrennungs- zum Elektromotor 120 Tausend Jobs kostet?“ Der Verweis auf die zu brechende Logik der Kapitalverwertung hilft da nicht weiter.

Eine Gewerkschaft, die reformistische Linke insgesamt, kann sich aus den Zwängen der Realität nicht davonstehlen. Auch muss sie zwei Arten der Politik beherrschen, den Konflikt- und den Kooperationsmodus (boxing and dancing nannten dies Kern/Schumann, die Doyens der Industriesoziologie). Nur im Konfliktmodus zu agieren, geht schon deshalb nicht, weil deutsche Industriearbeiter, egal ob männlich oder weiblich, ob mit inländischen oder ausländischen Wurzeln, keine wirklich linken Organisationen wollen. Diese Mentalität macht schon einen Kraftakt notwendig, um dem Alltagsrassismus in den Betrieben zu steuern. Was einmal Klassenbewusstsein hieß, fehlt völlig. Die heutigen Arbeiter lassen eher an die „Musterarbeiter“ denken, „sehr nette, traktable Leute für jeden verständigen Kapitalisten“, die Friedrich Engels einmal ironisiert hat1, als an das revolutionäre Subjekt, dem seine Hoffnung galt.

Die Gewerkschaften und ihre Betriebsräte sind zu einem Drahtseilakt mit permanenter Absturzgefahr gezwungen (zumal die Balancierstange fehlt, eine starke SPD). Die Unternehmer kommen nur dann an den Verhandlungstisch, die Kanzlerin leiht nur dann ihr Ohr, solange man etwas auf die Waage bringt. Aber die Gewerkschaften bringen immer weniger auf die Waage. Heutige Produktionsprozesse brauchen immer weniger ihrer klassischen Mitglieder. Für Mitgliedschaft muss man zudem zahlen, sein Kreuzchen bei den Kämpfern für den deutschen Diesel machen, ist dagegen umsonst. Die ganz schlau sein wollen, machen beides. Den Angestellten wiederrum, die der Anpassungsstrategie der netten, traktablen Leute zum Durchbruch verhalfen, gilt eine Industriegewerkschaft als ein der erhofften Karriere nur schadender Traditionsverein, daher bleiben sie fern. Wenn einmal nur noch jeder zehnte Beschäftigte zu den Gewerkschaften steht, wird sich deren Einfluss dem des Marburger Bundes angleichen; beim siebten ist man schon angelangt.

Industriegewerkschaften in einer Angestelltengesellschaft am Leben zu erhalten, ist so wenig trivial wie eine sozialdemokratische Partei vor dem Zwanzig-Prozent-Ghetto zu bewahren. Die Gewerkschaftsfunktionäre können wählen: Richten sie ihren Laden stringent aus, laufen ihnen die Mitglieder davon. Halten sie ihre Mitglieder und wollen sie neue haben, müssen sie ordentlich Wasser in ihren reinen Wein gießen. Dieses Dilemma, dem zum Beispiel die französischen Gewerkschaften ihren Niedergang verdanken, gehört zum Gegenwartskapitalismus, den Klaus Dörre ansonsten so überzeugend analysiert. Es ist das der gesamten Linken abverlangte hic Rhodos, hic salta. Der Kapitalismus gibt sich als unveränderbar, und für das tiefe, mit keinem Warenreichtum zuzudeckende Unbehagen macht seine Alltagsreligion die ausgedeuteten Sündenböcke verantwortlich. Die Angst haben, im System gesellschaftlich notwendiger Arbeit keinen Platz zu finden, sind für den Sündenbock-Mechanismus extrem anfällig, damit kalkuliert die neue Rechte. Der zur „Feindseligkeit gegenüber allen Fremden verallgemeinerte Antisemitismus“2 ist ihr Projekt. 

1 Engels, Friedrich, MEW 21, S. 194

2 Dahmer, Helmut, in Simmel, Ernst, Hrsg., Antisemitismus, Verlag Das Westfälische Dampfboot, S. 167

Artikel online seit 23.11.20
 

Klaus Dörre
In der Warteschlange
Arbeiter*innen und die radikale Rechte
Verlag Das Westfälische Dampfboot
355 Seiten
30 Euro
978-3-89691-048-6

 

 

 


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