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Ein unvollendetes Projekt oder:
Die Weltmeisterschaft im libidinösen Pfeifenrauchen


Über Michel Foucaults »Die Geständnisse des Fleisches«

Von Wolfgang Bock

 

Ein epizyklisches Konzept

Im Jahre 2018 wird postum der vierte Band von Michel Foucaults Projekt Sexualität und Wahrheit: Die Geständnisse des Fleisches (frz. Les aveux de la chair), veröffentlich. Das Buch ist der Nachzügler eines ohnehin komplexen Konzeptes. Das erste Buch, das die Exposition des ursprünglich auf sechs Bände angelegten Vorhabens enthält, erschien bereits 1976. Im Anschluss an seine frühen Bücher über den Wahnsinn (1961) und die Klinik (1963), die Ordnung der Dinge (1966), die Archäologie des Wissens (1969) und vor allem mit Überwachen und Strafen (von 1975) des „mittleren“ Foucaults untersucht er in Der Wille zum Wissen die Rede über die Sexualität im 19. Jahrhundert, zu der jedes Subjekt sich in der Moderne verhalten soll. Hauptsächlich geht es ihm darum, die sogenannte Repressionshypothese, nach der im viktorianischen Zeitalter der Sex untersagt gewesen sein soll, durch die Analyse eines produktiven Verhältnisses zu ersetzen: der Sex soll nicht verboten werden, sondern unter dem Scheinverbot sich gerade entwickeln, sich ausdehnen, verästeln und sich möglichst lange hinziehen – etwa so, wie bei der Weltmeisterschaft im Pfeifenrauchen. Die energetische Grundlage dazu bildet die Libido, der Foucault gleichsam nun auf dem Schauplatz der Geschichte nachgeht.
Im Vorgriff der späteren Untersuchungen zur Biopolitik und der Gouvernalität geht es Foucault dabei vor allem um drei Motive: Erstens die Ausdehnung und Durchdringung einer zuvor religiös bestimmten Pastoralmacht in alle Persönlichkeitsbereiche; das Subjekt soll von sich sprechen und so zu einem Knoten und Durchgangspunkt der Macht werden, die nicht mehr von oben her dirigiert wird. Zweitens werden auf diese Weise Normalitäten entworfen, Perversionen eingepflanzt und beides zugleich immer wieder neu erschaffen. Foucault untersucht hier die Diskurse in den Feldern Homosexualität, Masturbation, Hysterie der Frau und Perversion. Drittens erscheint als produktives Nebenprodukt dieses Diskurses die Bevölkerungspolitik im Zentrum des Staatsinteresse, nach seiner Terminologie die Biopolitik und die Gouveramentalität. Diese neuen historischen Aufrisse sind vor allem gegen eine herkömmliche Epocheneinteilung und gegen eine herkömmliche Soziologie bei Emil Dürckheim und Max Weber gerichtet. Am Ende des ersten Bandes gibt es eine wichtige luzide Passage über die Entwicklung der Macht, die sich nicht mehr hierarchisch entwickeln soll, sondern eher vertikalen Knoten- und Netzmodellen folgt, wie man aus den asiatischen Kampfkünsten als Chi (Tai Chi) oder Ki (Aikido) kennt.

Von den beiden Folgebänden hätte man nach der ursprünglichen Ankündigung weitere Untersuchungen im Übergang vom Ancien Regime zur Neuzeit erwartet. Foucault aber verblüffte damals seine Leser mit einer Wende zur Antike: Der zweite Band
, Der Gebrauch der Lüste, erschien 1984 (1989 auf Deutsch); er hatte nun den Liebesdiskurs bei den alten Griechen zum Gegenstand. Ähnlich wie es bereits im ersten Band latent durchscheint, geht es vor allem um homoerotische Liebe; das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist davon nur ein Nebenprodukt. Keine Verbote bestimmen auch hier das Feld, sondern eine Ethik, die sich aus Entwicklung und Einhegung insbesondere bei Sokrates entwickelt: der zu erziehende Adelsknabe soll Erfahrungen mit Älteren machen, aber dabei nicht zerstört werden. Das aus der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bekannte sokratische Verhältnis (oder „platonischer Eros“) eines „Wissen-wollenden Jüngeren“ zu einem „erfahrenen Älteren“, legt sich hier als ein gegenseitiges Gespinst von Libido und Wissen, Begegnungsstätten und Entwicklungsfiguren um.

Es zeigt sich also eine besondere vorchristliche Verbindung von Libido, Askese und Ethik, die dann im kurz darauf erscheinenden dritten Band
Die Sorge um sich (1984) (1990 auf Deutsch) anhand des ethischen Diskurses in der römischen Antike weitergeführt wird. Auch hier geht es zunächst weniger um die Liebe zwischen Mann und Frau als um eine Ethik des adeligen römischen Mannes. Zunehmend aber rückt nun ein Verhältnis des ethischen Wohlverhaltens in den Mittelpunkt der Ethik, für das die Ehe eine wichtige Schule wird. Das ist alles immer noch vorchristlich gehalten. Allgemein zeichnet sich damit von den Griechen zu den Römern eine Verschiebung in den Machtfeldern des Hauses und eine gewisse Wechselseitigkeit und Gleichheit der Frauen gegenüber ab, da die Machtsphären in der Öffentlichkeit sich vergrößern und komplexer werden. In der Ehe kommt es zu einer größeren Gleichheit, in der Öffentlichkeit zu einer Aufspaltung und Verfeinerung der Macht. Der Übergang von der hellenistischen zur römischen Kultur zeuge von solcher Umarbeitung. Im Gegensatz zur herkömmlichen Geschichte, die in Rom einen individualistischen Rückgang ins Privatleben feststellt, will Foucault hier von einer „Krise des Subjekts“ sprechen.

Eine Flaschenpost aus den Achtzigerjahren

Der 2018 erscheinende vierte Band mit dem etwas reißerischen Titel Die Geständnisse des Fleisches, der fast vollendet war und nun 34 Jahre später aus Materialen des Archivs zusammengestellt worden ist, erscheint heute wie ein Findling aus einer anderen Zeit. Foucault war 1984 verstorben und hatte keine posthumen Veröffentlichungen seiner Arbeiten zugelassen. Dieses Verbot hat sein Verleger nun umgangen. Wenn er diesen bereits in den 1980er Jahren angekündigten Band heute in die Hand nimmt, fühlt sich der Rezensent in Manchem weiter an die 1980er Jahre erinnert: an die ersten mühsamen und langen Exzerpte, die er von den damals für ihn kaum erschwinglichen ersten gebundenen Bänden angefertigt hatte; an die Diskussionen mit den Freudianern oder mit den Habermasianern, die ihn langen Jahre aufs Glatteis führten – Habermas hatte 1988 seinen Philosophischen Diskurs der Moderne veröffentlicht, der tatsächlich auf die französische Moderne kaum Rücksicht nimmt und nicht allein zum Verständnis von Foucault wenig zielführend ist.
Der Blick in das Buch zeigt, dass Foucault seiner Hypothese und seiner Methode treu geblieben ist. Er untersucht nun die Ratschläge der christlichen Kirchenväter, hauptsächlich Ambrosius von Mailand und Augustinus zu den Themenfeldern der Zeugung und der Taufe, zur Jungfräulichkeit des Mönches, hauptsächlich als „Arbeit der Seele an sich selbst“ (S. 239) Oder zur Handhabung der Ehe und des Verheiratet Seins („Die Pflicht des Ehegatten“, „Das Gut und die Güter der Ehe“). Das sind alles Motive, zu denen er bereits in den vorherigen beiden Bänden vorgearbeitet hatte. Nun kann er zeigen, dass auch die christlichen Autoren sich nicht groß von ihren griechischen und römischen Vorläufern unterscheiden.[1] Wichtig wird nun der Topos des Fleisches: „Das Fleisch ist als ein Modus der Erfahrung zu verstehen, das heißt als ein Modus der Erkenntnis und Transformation von sich durch sich, der auf einem bestimmten Zusammenhang zwischen Aufhebung des Bösen und der Bekundung von Wahrheit beruht.“ (S. 77). Das Christentum erfindet den Kodex danach nicht, sondern spitzt ihn für Foucault, der das Hauptaugenmerk auf die Bußpraxen als „Entdeckung von sich“ legt, auf besondere Weise zu.
Vor allem liege dem Zusammenhang auch hier, bei den noch heute gültigen Begründungen des Christentums, wiederum nicht die These vom Verbot der Sexualität zugrunde. Insbesondere im letzten Teil „Die Libidinisierung des Sexes“, in dem es zentral um Augustinus von Hippo (354-430) geht, argumentiert Foucault ganz ähnlich wie im ersten Band. Dort hatte er den Viktorianismus des 19. Jahrhundert nicht als Bremser, sondern als subtilen Auslöser und Anfeuerer eine Sexualdebatte mit bestimmten Ein- und Ausschlusstechniken ansieht. Er kann zeigen, dass sich auch Augustinus gleichsam als erster Vertreter des Victorianismus keinesfalls generell gegen die Lust und für das Kinderzeugen als Zweck der Ehe ausspricht und sich ansonsten für eine drakonische Idee von Erbsünde stark macht. Diese Interpretation wurde vor allem später von Luther forciert und auch von Kierkegaard gern wieder aufgenommen. Augustinus selbst hatte nach Foucault immerhin so viel von den griechischen Ethikphilosophen aufgenommen, dass er sich intensiv dem Geschlechtsleben widmet – er gilt als Erfinder der Libido als allesdurchziehende Kraft im Leben.[2] Freilich findet Foucault auch bei Augustinus wieder das Interesse an Normierungen und an ausgrenzenden Perversionen zugleich.
Diesen Blick auf die Kirchenväter gewinnt Foucault also aus der Generalperspektive seines Projektes, wenn er sich auch hier wieder und wieder gegen die Repressionshypothese aussprechen will. Man merkt zugleich auch, dass Foucault Herausgeber der Werke von Georges Bataille ist – dessen affektives Interesse an der perversen Seite des Katholizismus, die dieser unter der Hand immer wieder selbst hervorbringt, muss ebenfalls bei ihm vorausgesetzt werden. Weitere Einblicke in die Entwicklung seiner Gedankengänge erlauben auch die vier beigefügten Anhänge, in denen sich Formulierungen und Notizen zu der Generalhypothese finden.

Ein später Beitrag zu einer aktuellen Debatte

Spannend an dem neuen Band ist, dass Foucault sich mit seinem Ansatz in einen gewissen Gegensatz zu einem der wichtigsten deutschen Kenner dieser Periode, den Bochumer Philosophen Kurt Flasch begibt. Flasch hat in einer Reihe von Schriften, darunter als wichtigste Kampfplätze der Philosophie (2008), gezeigt, dass es einen grundlegenden Streit zwischen dem humanistischen antiken Erbe und einer quasi abergläubischen Leugnung der aufgeklärten Tradition bei Augustinus gibt: Augustin verwirft danach die griechische Tradition zu Gunsten eines Glaubensfatalismus, der alles unter die Erbsünde und die praktisch unerreichbare Gnade Gottes stellen will und so die Kriminalgeschichte des Christentums (Deschner) mit Verfolgung und Inquisition einläutet. Dieser Hypothese, die nahe an derjenigen der Repression liegt – Flasch ist Schüler Horkheimers und Max Webers – setzt Foucault damit seine Idee einer stärkeren Kontinuität der griechischen Ethik-Praxen auch bei den Kirchenvätern entgegen. So groß sei der Einfluss der Christen nicht gewesen, meint er; und dabei handelt es sich dann nicht darum, die Sexualität und die Lust zu unterlassen, sondern gerade letztere einer komplexen Regelung zu unterwerfen. Aus solcher Lustmaschinerie stammten dann die sexuellen Typen, mit denen wir es bis in unsere Zeit zu tun hätten.

Die Wiederkehr der guten Ehe und der Perversionen
im 19. Jahrhundert

Der vierte Band von Foucault erlaubt so also eine fiktive Debatte zwischen ihm und Flasch. Aber auch Flasch räumt ein, dass die repressive Seite des Christentums nicht so sehr durch Augustinus selbst, als durch seine rigiden späteren Ausleger in die Welt gekommen sei. Das gelte vor allem für die Augustiner, die Protestanten geworden sind, wie Martin Luther oder Sören Kierkegaard. Die Protestanten zeichnen sich historisch nicht etwa durch mehr Toleranz aus, sondern gerade durch einen größeren Dogmatismus und den rigiden Ausschluss der (griechischen) Vernunft zugunsten der Frage der Gnadenwahl. Das zeigt sich dann vor allem wieder an der Pastoralmacht des 19. Jahrhunderts. Das Buch des dänischen Pastors Sören Kierkegaard Entweder-Oder (1843) enthält im zweiten Teil die emphatische Rede eines Ethikers B über die Vorzüge der Ehe; das ist das eine Feld von Foucaults genealogischen Untersuchungen durch die Epochen. Diese Vorzüge will B (zusammen mit einem Heidepastor) gegen den vermeintlichen lebensuntauglichen, dem Griechentum anhängenden Ästhetiker und Verführer A anführen, der damit das zweite Feld von Foucaults Interesse, die Perversionen, beackert. Die Aufteilung also in die „gute Ehe“ und die perversen Praxen des Verführers (dessen Tagebuch Kierkegaard, wie alle anderen paganen Zeugnisse unter Pseudonymen selbst verfasst) wiederholt noch einmal die von Foucault im Willen zum Wissen angesprochenen Konstellationen und Selbstverschränkungen von Perversion, Scheinverbot und neuerlicher Hervorbringung bestimmter sexuellen Praxen. An der Lektüre von Kierkegaard zeigt sich die Produktivität von Foucaults Ansatz und die Aktualität seiner Untersuchung erneut. Auch Foucault war ein endemischer Leser Kierkegaards.

Noch kein Ende in Sicht?

Sechs Bände hätte Foucaults Sexualitätsprojekt ursprünglich umfassen sollen; den allerersten verbrannte er angeblich selbst nach einem LSD-Experiment nahe Zabriskie Point in Kalifornien; vier sind bisher erschienen, bleibt also noch ein Band übrig (die Details kann man dem klugen Vorwort des Herausgebers Frédéric Gros entnehmen). In diesem wollte sich Foucault in bewährter Manier mit der ritterlichen Liebe des europäischen Mittelalters befassen: Die hohe Frau, die ritterliche Tat, die Einehe im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance. Allerdings unterläuft Foucault immer wieder die herkömmlichen Epocheneinteilungen. Immerhin hätte man von ihm auch hier etwas anderes erwarten können, als es bereits etwa durch Erich Auerbachs, Norbert Elias‘ oder Niklas Luhmanns einschlägigen Untersuchungen zur Liebe vorgezeichnet ist. Möglich, dass uns bald noch eine weitere Flaschenpost ins Haus steht. Auch diese zu entkorken, könnte Neues bringen.

[1] Der Zweck der Ehe ist bereits bei den Kirchenvätern vor Augustinus nicht das Kinderbekommen: „Die Ehe wurde aus zwei Gründen eingeführt: damit wir Enthaltsamkeit üben und damit wir Väter sind. Doch der wichtigere Beweggrund ist die Enthaltsamkeit.“ So heißt es in Johannes Chrysostomos dritter Homilie über die Heirat (vgl. Foucault, Geständnisse, S. 361). Das nehme Augustinus auf und forme daraus eine positive ethische Praktik, die sich nicht im Verbieten erschöpfe, sondern die Grundlage der christlich affizierten Selbsttechniken bilde, die sich von den paganen unterschieden: das unwillkürliche und natürliche der Libido sei nicht außerhalb des Subjekts angesiedelt, sondern sei dessen unbeherrschter Teil, der eingefangen werden müsse.

[2] Hier heißt es in einer Stelle zur Sünde mit exemplarischer Diktion bei Foucault: „Die Zustimmung, als unverzichtbarer Bestandteil der Konstituierung einer zurechenbaren Handlung als Sünde besteht somit nicht einfach in der Transformation eines Begehrens in eine tatsächliche Handlung; ebenso wenig ist sie die einfache Akzeptanz dieses Begehrens im Denken, in Form einer empfangenen Vorstellung. Sie ist ein Akt des Willens gegenüber sich selbst — und zwar eher gegenüber seiner Form als gegenüber seinem Objekt. Wenn das Subjekt zustimmt, öffnet es nicht die Pforten für ein begehrtes Objekt, sondern es konstituiert sich und besiegelt sich selbst als begehrendes Subjekt: Damit werden die Regungen seiner Begierde ihm zurechenbar. Die Zustimmung — und das ist der Grund für die zentrale Rolle, die sie bei Augustinus hat und auch später haben wird — erlaubt, das Subjekt der Begierde als Rechtssubjekt zu bestimmen.“ (S. 472). Augustinus setze die „theoretische Matrix“ (S. 478) der späteren Regime der Kirche als Pastoralmacht: Sex, Wahrheit und Recht werden später fester miteinander verbunden.

Artikel online seit 08.04.20
 



Michel Foucault
Die Geständnisse des Fleisches
Herausgegeben von Frédéric Gros
Sexualität und Wahrheit, Vierter Band, Berlin
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger
Suhrkamp

556 Seiten
36,00 €
978-3518587331

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