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Very british, indeed!

Ulrike Draesner biographischer Roman-Hybrid »Schwitters«

Von Wolfram Schütte
 

Man kann wohl nicht sagen, dass Kurt Schwitters (geb. 1887) als Lyriker unter den Liebhabern deutscher Dichtung besonders bekannt geworden wäre. Er war es wohl auch nie so recht, als er noch der DADA-Bewegung angehörte & mit dem Lautgedicht der »Ursonate« oder dem verrückten Liebesgedicht »Anna Blume« wenigstens als Avantgardist sich einen Namen machte.

Bevor der Hannoveraner Schwitters sein solitäres Talent, auf mehreren künstlerischen Hochzeiten gleichzeitig tanzen zu können, in seiner Heimat voll entfalten konnte, emigrierte der Neunundvierzigjährige – von der Nazi-Kulturpolitik als »Entarteter Künstler« stigmatisiert – nach Norwegen & floh 1940 vor der anrückenden Wehrmacht über den Nordatlantik in einem Kutter nach Großbritannien, wo er, ohne je wieder deutschen Boden betreten zu haben, 1948 gestorben ist. Seine in Hannover gebliebene Frau war schon 1944 gestorben, ein Jahr nach der Zerstörung des Wohnhauses durch eine Fliegerbombe.

Die 1962 in München geborene Ulrike Draesner, eine multitalentierte poetria doctus, die 1992 promoviert wurde & von 2015 bis 2017 in Oxford als Dozentin gelehrt hat, ist als versatile Künstlerin mit mehreren Romanen, Lyrikbänden & Essays bekannt geworden. Sie gehört heute zum Lehrkörper des Leipziger Literaturinstituts.

Ihr jüngstes Buch heißt lakonisch »Schwitters, Roman«. – ist auch einer, obwohl er zugleich eine Biografie ist. Eine an den Lebenswendepunkten lokalisierte, sprachlich vielfältig instrumentierte Roman-Phantasie, die sich an Kurt Schwitters bewegtem Lebensweg orientiert. Die Autorin hat überaus gründlich im Leben & Nachleben des deutschen Künstlers recherchiert – wenngleich die größten, wohl auch spezifischsten Werke von Kurt Schwitters de facto zerstört sind oder nur noch als Fotografien oder als Gerücht existieren. Ich meine: seine drei begehbaren »Merz«-Installationen. Die erste hatte er in seinem Hannoveraner Elternhaus eingerichtet, die zweite auf einer Insel in der Nähe Oslos und die dritte im nordwestenglichen Ambleside (Lake District), wo er zwischen 1945 & 1948 mit seiner letzten & jüngsten Geliebten »Wantee« in dürftigen finanziellen Verhältnissen gelebt hatte.

Immerhin ist seine unvollendete, ultimative Wand-Malerei, an der er, ausgestattet mit einem schmalen usamerikanischen Stipendium, bis zuletzt arbeitete, als vollständige Wand dem verfallenden »Merz Barn« im regen- & wasserreichen Lake District entnommen & damit gerettet worden & seit 1965 in der Hatton-Gallery der Universität Newcastle zu besichtigen.

Letzteres habe ich dem Internet entnommen – weil ich mir endlich einmal eine sinnliche Vorstellung von Schwitters´ skulpturalen Arbeiten machen wollte. Denn obwohl es der schriftstellerische Ehrgeiz Ulrike Draesners war, mit dem lustvollen Gebrauch aller literarischen Darstellungs- & Evokationsmittel vornehmlich den Bildenden Künstler & seine artistischen Obsessionen den Lesern vor Augen zu stellen, gelingt es ihr nicht – zumindest bei mir nicht -, die »Merz«-Bauten allein sprachlich zu beschwören. Das ist wohl auch gar nicht möglich, weil Schwitters Räume in Szene gesetzt hat, die anders als Bilder, Collagen oder Skulpturen »nichts bedeuten« wollten – außer da & dort zu sein (gewissermaßen im Benjaminschen Sinne jeweils Aura ohne Sinn stiftende Objekte) zu sein..

Mehrfach wird erwähnt, dass Schwitters, der »DaDa«-Künstler, weggeworfene, ausgeschiedene Gegenstände des Alltags aus dem Müll holte & für seine Collagen benutzte. Deshalb wurde er, vor allem in der angelsächsischen Kunstszene, als früher Vorläufer der Popart betrachtet. Allerdings wird an keiner Stelle des Romans eine der daraus entstandenen Collagen erwähnt oder deren Fabrikation beschrieben.

Aber um kunsthistorische Fragen geht es Draesner in »Schwitters« nicht. Künstlertum ist seine fraglose Existenzform, wenn sie  auch aus der  wiederkehrenden Erfahrung des Scheiterns & Verlustes hervorgeht. Die Autorin ist mehr daran interessiert, die Reibeflächen des bedingungslosen Künstlertums mit den Realitäten zu imaginieren, denen sich Schwitters auf dem Weg ins endgültige Exil ausgesetzt sieht. Vor allem aber entwickelt sich der Roman, den die anglophile Autorin ursprünglich auf Englisch hatte schreiben wollen  (bevor sie daran scheiterte) als ein persönlicher tour-de-force-akt Ulrike Draesners. Wesentlich intensiver, detaillierter, ironisch-humoristischer ist ihr der zweite & dritte Teil des »Englischen Lebens« & des »Nachlebens« ihres »Helden« gelungen als sein erster Teil im «deutschen Leben«.

Dabei kann sie die vertrackte Lebenssituation des von seiner Frau, seiner Familie & seinem Besitz getrennten & in fremdsprachiger Umgebung isolierten Mannes evozieren, der im London der V2–Einschläge eine junge Frau kennenlernt, die gerade durch Zufall dem Blitzkriegstod entkommen war. Denn der von Werner von Braun fortentwickelte Flugkörper machte im Gegensatz zur V1 kein Geräusch beim Absturz – wie Draesner neben vielem anderen zeitgeschichtlichen Details recherchiert hat. Die Ergebnisse ihrer historisch-lokalen Spurensuchen an Schwitters´ Aufenthaltsorten Lysaker, Isle of Man (wo er interniert war) & Ambleside breitet sie wie »die Strecke« des erlegten Wilds einer treffsicheren Jägerin vor ihren staunenden Lesern aus. Sie erwartet wohl, die redundante Informationsfülle, die zu einer journalistischen Verdichtung führt, ergebe gewissermaßen durch Addition atmosphärischer Details »automatisch«  eine «poetischen Vergegenwärtigung« – was nicht der Fall ist.

Erkennbar mit eigener Freude an ihrer Zweisprachigkeit demonstriert sie ausführlich die Differenz der Metaphern & Idioms im Deutschen & Englischen als eine zarte, amüsante Begleitmusik zu der liebevollen, weltabgewandten Zweisamkeit von »Kört« & »Wantee« im Lake District, dem feuchten Lieblingsort des englischen Romantikers mit dem vielsagenden Namen Wordsworth.

Ulrike Draesners »Schwitters« ist zweifellos ein Hybrid, eine literarische Kreuzung zwischen Biographie & Liebesgeschichte - & jedenfalls »kein Künstlerroman« (wie sie selbst bemerkt). In gewisser Weise - & das dürfte dem Kunstwollen der sprachkräftigen Intellektualität seiner Autorin entsprechen – gleicht das nicht nur thematisch grenzüberschreitende Buch einer »Merz«-Aktion. Denn seine Leser werden aufgefordert, die Innenseiten des Schutzumschlags aufzuklappen, damit sie dort zwei Zeittafeln lesen können, auf denen »Kurt das gute Leben« & »die andere Seite des Lebens pfeift (?!)«.

Ein herrlicher literarischer Leckerbissen ist das Ironie sprühende Nachwort der Autorin, very british indeed!

Artikel online seit 23.08.20
 

Ulrike Draesner
Schwitters
Roman
Penguin-Verlag
471 Seiten
25,00 €  

 

 


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