Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Das letzte Einhorn revisited

Über Markus Gabriels
»Fiktionen«

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Nicht weniger als ein Buch gegen den Zeitgeist will das über 600 Seiten starke Buch sein – eine Schrift gegen jenen Zeitgeist, der das Verhältnis von Sein und Schein falsch deute, weil der Schein als nicht existent missverstanden werde. Doch das Sein sei immer schon vom Schein durchzogen, der Glaube an ein reines Sein selbst Schein, das es zu durchschauen gelte.

Aus dieser dialektischen Grundhaltung will der Bonner Philosoph Markus Gabriel eine »ontologisch verbesserte Fiktionalitätstheorie« entwickeln und die Frage nach der Nicht-Existenz neu stellen: Nicht-existierende Dinge (»Fiktionen«) will er als Teilsphäre des Seins anerkennen. Fiktionen füllen in diesem Verständnis die Zwischenräume zwischen Geist und Materie aus: Es sind die Einbildungskraft, die Phantasie, die ästhetische Darstellung in der Kunst usw. Fiktionen hinterlassen Leerstellen und Interpretationsspielräume, derer sich seine Schrift annimmt.

Die Theorie dahinter nennt er »Sinnfeldontologie« und betont, die Dinge existierten lediglich in verschiedenen Sinnfeldern, Kontexten, Bezügen: So existiert ein Einhorn in Einhorn-Filmen wie dem bekannten Zeichentrickfilm von 1982, in Ridley Scotts »Legend« (1985) oder bei Prinzessin Lillifee.

Das Buch entwickelt dementsprechend einen fiktionalen Realismus, in dem die Sinnfeldontologie bestimmt, was ein Sinnfeld ist und in welchem Sinnfeld die Dinge existieren. Die Sinnfeldontologie ist insofern nichts anderes als eine Art Meta-Erzählung, von der nicht wirklich klar wird, in welchem Sinnfeld sie selbst existiert und für welches der unendlichen Sinnfelder sie nun Gültigkeit beansprucht. Nichts, so Gabriel, existiere in allen Sinnfeldern – doch die Theorie will zumindest deutlich machen, dass dies für alle Sinnfelder gilt. Dies scheint mir ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, das mit Elementen der Wissenschaftskritik, der Erkenntnistheorie, der Hermeneutik, der Anthropologie, der Ontologie und der Sprachphilosophie arbeitet und zahlreiche Allgemeinplätze in einer recht hochgestochenen Sprache präsentiert.

Um der Kritik an der Unverständlichkeit des eigenen Textes vorzubeugen, verweist Gabriel auf Jürgen Habermas. Dieser habe sein Unverständnis für die Texte Anderer (wie Jacques Derrida) als Unverständlichkeit der Texte missverstanden. Dieser Hinweis ist allerdings ein recht billiger Trick, durch den Kritik verunmöglicht werden soll: Wenn schon ein international anerkannter Philosoph wie Habermas Derrida nicht mehr versteht, wer soll ihn denn dann überhaupt verstehen? Will Derrida am Ende vielleicht gar nicht verstanden werden? Will auch Gabriel am Ende nicht verstanden werden?

Wer so viele triviale Gedanken in Sätze packt, die den Anschein erwecken, hochkomplex zu sein, erweckt damit zumindest den Anschein. Aus den 600 Seiten ließen sich endlos Beispielsätze zitieren. So behaupte etwa der »meontologische Isolationismus …, dass Gegenstände, die in einem gegebenen nicht-fiktionalen Sinnfeld nicht existieren und in einem fiktionalen Sinnfeld existieren, vom nicht-fiktionalen Sinnfeld isoliert sind, in dem wir uns als Rezipienten befinden. Sie treten stets nur in einer Einbettung im Wirklichen auf.«

Tatsächlich ist mir ein Einhorn noch nie im Wald, allenfalls im Kino auf der Leinwand begegnet. Wenn das ein Buch gegen den Zeitgeist ist, bin ich lieber der Zeitgeist!

Artikel online seit 23.08.20
 

Markus Gabriel
Fiktionen
Suhrkamp
636 Seiten
32,00 €
978-3-518-58748-5

Leseprobe & Infos

 


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