Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Die beiden Johannes

Über Peter Handkes Journale

Von René Steininger

Bernhard oder Handke? In Österreich ist das beinahe eine Glaubensfrage (so wie die russische Intelligenz, Brodsky zufolge, in Anhänger Tolstojs und Dostojewskijs zerfällt). Dass einer beide mit Gewinn liest, scheint nicht möglich oder kommt jedenfalls einem Sakrileg gleich. Meinen Freunden, in der Mehrzahl Bernhard-Leser, rate ich dennoch immer zu einer selektive Lektüre ihres Gegenspielers: »Lest wenigstens seine Journale!«

Beiden gemeinsam ist, dass sie sich auf dem Boden der christlichen Apokalyptik bewegen, und beide verlegen den Schauplatz der Katastrophe gern auf österreichisches Staatsgebiet, in die »Versuchsstation des Weltuntergangs«, als die schon Karl Kraus Österreich bezeichnet hat. Die Apokalypse in Österreich zu verorten, mag der Generation nach 45 aufgrund der größeren zeitlichen Nähe zum Holocaust leichter gefallen sein als uns Jüngeren, die die Alpenrepublik vorrangig als »Urlaubsparadies« und Zielland für Einwanderer aus anderen Kriegsregionen kennengelernt haben. Aber der Teufel ist nicht so schwarz, wie man ihn malt, und das Unglück gedeiht auch in den Speckzonen und hinter farbenfrohen Fassaden: 

»Das Fett, an dem ich würge: Österreich«
(Das Gewicht der Welt)

Der schwermütige Ton im ersten von bisher sechs veröffentlichten Journalen Handkes, Das Gewicht der Welt aus den 70er Jahren, weicht in den späteren Tagebüchern zunehmend helleren und weicheren Klängen. Die kontrollierte Polemik macht Platz für Poesie und im katastrophischen Geschehen keimt der Samen für die Auferstehung.

Nachzeichnen lässt sich diese Entwicklung auch an seiner Beziehung zu Thomas Bernhard, die spätestens seit den 80er Jahren von Abscheu und Ablehnung geprägt ist (obsessiv etwa in dem Salzburger Journal Am Felsfenster morgens). Zu beinahe jedem Urteil des Apokalyptikers aus Ohlsdorf findet sich ein Gegenzitat im Journal des Salzburger Evangelisten. Wo Bernhard in jedem Kind nur bestenfalls den künftigen Fleischer von nebenan, schlimmstenfalls aber den Nazischergen von morgen erblickt, sieht Handke in ihnen auch die Hoffnung auf einen Neubeginn: 

Nicht »Unseren Kindern soll es einmal besser gehen als uns«, sondern: Unsere Kinder sollen einmal besser sein als wir (Phantasien der Wiederholung)

Handke bleibt jedoch ambivalent. So sehr er die Werke (Kinder oder Bücher) bejaht, so sehr misstraut er den Instrumentarien, denen sie ihre Existenz verdanken: den Genitalien oder Worten, zumal sie beide gern den niederen Instinkten von Macht und Kontrolle gehorchen. 

»Und kann nur die lieben, die eine unsichere Sprache haben; und die mir gefallen, deren Sprache will ich unsicher machen« (Die Geschichte des Bleistifts)

 »Sexualität in der Luft wie eine Mordstimmung«
(Das Gewicht der Welt)

 Allenfalls der Zweck heiligt gelegentlich das Mittel, sprich: Poesie die verballhornte Sprache oder die wunderbaren Kinder den Akt der Zeugung. Dass die Lust möglicherweise, wie der Apokalyptiker einwenden würde, nur die List einer gefallenen, machiavellistischen Natur sei, fällt dem Evangelisten nicht ein, der bei der körperlichen Vereinigung bereits an Vaterfreuden schwelgt: 

»Die Lust, wenn sie vorbei ist, ist vorbei; die Freude, wenn sie vorbei ist, ist nicht vorbei« (Am Felsfenster morgens)

 Die Frau, die solche Freuden erst ermöglicht, fällt in den Journalen von Handke eine untergeordnete Rolle zu. Misanthropisch ist er nicht weniger als Bernhard, der dumpfen, lärmenden, empfindungsfressenden« Mehrheitsgesellschaft kann er auch nicht mehr abgewinnen. Doch seine Misanthropie trägt unverkennbar misogyne Züge (anders als die von Bernhard, dem  genialen Vereinfacher, der in seiner allgemeinen Verachtung der Spezies klar im Vorteil ist, muss er doch nicht mehr extra auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, Rassen oder Altersgruppen eingehen): 

»Keine Frau! - Das Gebot der Gebote für einen Künstler«
(Am Felsfenster morgens)

 Als primär am Schöpferischen Interessierten begreift Handke auch die Natur als Schöpfung, nicht als touristische Kulisse, Freiluftlabor oder Übungsgelände für Freizeitsportler. Der Gegensatz zum Zeitgeist könnte an dieser Stelle nicht größer sein und treibt den Poeten in die Opposition und die selbstgewählte Einsamkeit: 

»Die Gefahr für einen Künstler (heutzutage), daß er, im Alleinsein und Alleinarbeiten, verbiestert, daß er tatsächlich, zur Verteidigung seines mehr oder weniger kleinen Quells, zum Biest wird«
(Die Geschichte des Bleistifts)

Manchmal ist der Unzeitgemäße dabei seiner Zeit aber auch voraus, und so findet sich vieles, was später unter den Schlagworten »Entschleunigung« und »Wachsamkeit« viral geworden ist, präjudiziert in den Journalen. Am stärksten ist Handke immer dort, wo er der Versuchung, zu urteilen, widersteht, seinen »heiligen Zorn« im Zaum hält und lediglich gibt, was er sieht. An den schönsten Stellen seiner Notizbücher gelingen ihm dann Bilder von synästhetischer Qualität, welche die Stille sprechen und die Farben hören lassen: 

»Drinnen, wo er saß, überrieselte ihn der Laubfall draußen« (Die Geschichte des Bleistifts)

»Das Herbstblättersausen hat Lichtqualität«
(Die Geschichte des Bleistifts).

 Ungeheuer genau beobachtete Analogien stehen neben sprachlichen Momentaufnahmen, die ganz auf ihre Bildkraft vertrauen können: 

»Die Spatzen können, im Flug, aufsetzen auf der Erde und sofort gehen, so wie manche Hochseilartisten das können« (Am Felsfenster morgens)

»Die Kinder mit den bunten Schultaschen verschwinden in den einförmigen Häusern« (Die Geschichte des Bleistifts)

Geschult hat Handke diesen Stil, seine »Wachsamkeit«, vornehmlich in zwei Disziplinen: dem Gehen und dem Lesen. Lesen wird für den, der schreibt, Teil seiner Arbeit. Der Strom des Denkens speist sich sozusagen aus den Zuflüssen der Lektüre. In den Journalen haben die eingestreuten Zitate klassischer Autoren (nur Männer, was die Binnen-I-Regel an der Stelle tatsächlich überflüssig macht) darum auch tatsächlich oft den Charakter von Selbstbekenntnissen, manchmal auch ungewollt. Da kann es schon passieren, dass der Autor Plinius den Leser Handke porträtiert, indem er einen Baum beschreibt: 

»Manche Bäume erhalten lieber den Wipfel und lassen die unteren Äste absterben« (Plinius, zitiert nach Handke)

Auch für diese 'Lesefrüchte'gilt, was ich oben schon gesagt habe: Je länger sie gereift sind, desto beiläufiger darf geerntet werden und desto feiner wird die Ernte ausfallen. Im Anschluss an eine Bibel-Lektüre bemerkt Handke etwa:

»Immer wieder spricht Jesus zu den Leuten 'sich umwendend'« (Am Felsfenster morgens)

Oder, Homer lesend:

»Wenn in der Odyssee zwei über einen Dritten 'flüstern', reden sie Gutes über ihn« (ebenda)

In Anlehnung des eingangs erwähnten Aphorismus von Kraus könnte man sagen, jeder Krähwinkel ist heute ein Versuchslabor für den Weltuntergang. Wo die Zerstörung ubiquitär geworden ist, muss man keine Weltreise antreten, um eine gültige Aussage über den Zustand der globalisierten Welt zu machen. Als Schüler Schopenhauers und überzeugt, dass es anderswo auch nicht besser ist, verließ Thomas Bernhard daher seine verhasste Heimat nur selten, allenfalls um im Süden zu überwintern und seine kranke Lunge zu kurieren. Peter Handke dagegen zieht es in den frühen 80er und späten 90er Jahren rastlos in die Ferne, manisch angetrieben von dem Wunsch, die Schönheit der Schöpfung zu erkunden und zu bezeugen. Wenigstens, was der Zivilisationsprozess davon übrigließ: die glitzernden Scherben. Reisen wird ihm zum bevorzugten Weg der spirituellen Reinigung: 

»Mein Begehren geht nur noch auf Orte (und Werke?)«  
(Gestern unterwegs)

 Doch Patmos wirft seine langen Schatten voraus auf das fernste Arkadien, und schon bald mischen sich in die »frohe Botschaft« auch wieder Misstöne aus dem Buch der Offenbarung des anderen Johannes, des Apokalyptikers: 

»Ein treffendes anderes Wort für 'eilen' oder 'hetzen' wäre: 'teufeln': Die Reisegruppen teufeln mit ihren Führern durch die Museen und durch die Welt« (Gestern unterwegs)

 Um an den Stoff für seine Vision zu kommen und das »richtige Leben im falschen« ans Licht zu fördern, nimmt er immer längere Strecken in Kauf, vom slowenischen Karst über Südfrankreich und Spanien führt ihn der Weg nach Japan und von dort schließlich nach Alaska, stets durch die privilegiertesten Weltgegenden. Gegen den zeitgenössischen Unbill fährt er unverdrossen die Geschütze seines poetologischen Programms auf: das 'Staunen', die 'Illusion' und die 'Begeisterung'. Das klingt zuweilen angestrengt und ist dann nicht mehr utopisch, sondern schlicht geschichtsvergessen. Genauer hinhören aber sollte man und lernen kann man von ihm wiederum am besten dort, wo er das Mirakel im Kleinen ausmacht und Wunderbares hervorhebt, wo man es leicht übersieht. Oder überhört: 

»Der Regen hier in Schottland, auch wenn er stark fällt, fällt äußerst leise«
(Gestern unterwegs)

In seinem bislang letzten Journal, An der Baumschattennacht nachts, hat Handke seine Restless Legs wieder im Griff. Introvertierter umkreist er darin wieder die alten Musen, die ihn seit jeher trauend flankieren wie seine Engel den Maler Giotto: Vögel, Bäume und Blumen, Bücher, Werke, Totengeister. Nüchterner, vielleicht auch nur älter, aber keineswegs altersmild, gelingen ihm wiederholt Sprach-Bilder von zeitloser Eleganz:

»Ich drehe mein 'Mantra': den Bleistift am Spitzer«
(An der Baumschattenwand nachts)

Handke oder Bernhard? Sollten wir wirklich dogmatischer sein als die alten Kirchenväter, die schließlich die Bücher beider Johannes´ in den Kanon aufnahmen? Ihre Schriften sind der Geschichte rund um den historischen Jesus, welche die drei synoptischen Evangelien erzählen, zeitlich nachgeordnet.  Sie bieten eine Auslegung auch der späteren Ereignisse. Heben sie ins Visionäre oder verkehren sie ins Dämonische, und stehen damit auch am Beginn der nicht-realistischen Literatur (deren Erbe sowohl Bernhard als auch Handke nach eigener Aussage angetreten sind.)

Dass die Apokalypse – nach christlicher Tradition ein innerweltliches Ereignis – tatsächlich in Gang ist, ist im Lichte der demografischen Entwicklung und der fortlaufenden Verseuchung der Erde wieder wahrscheinlicher geworden.

Wir, das kleine, aber glückliche »Volk der Leser« (Handke) bezweifeln es nicht, behalten uns aber in Anbetracht der Daten und Tatsachen das Recht vor, ihnen mit Humor und Furor des Satirikers oder im Brennglas und Prisma eines wachen Träumers zu begegnen.

(Zitate aus: Das Gewicht der Welt; Die Geschichte des Bleistifts; Phantasien der Wiederholung; Am Felsfenster morgens; An der Baumschattenwand nachts, alle Frankfurt am Main)

Artikel online seit 23.08.20
 

 

 


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