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Ein besonderes Vermächtnis

Peter Handkes dramatisches Monument für Zdeněk Adamec

Von Lothar Struck

Mit der Einladung des »Ex-Autors« an seine Gäste (also seine Leser), eine »traurige Geschichte« zu hören, endet Peter Handkes 2008 erschienene epische Erzählung Die morawische Nacht. Man ist geneigt, dies zu überlesen, aber wie so häufig nimmt er nicht nur Bezug auf seine erschienenen Werke und Figuren, sondern greift auch bisweilen vor. Und jetzt, 2020, gibt es sie, diese »traurige Geschichte« und ein Versprechen, knapp zwölf Jahre später, wird eingelöst. »Zdeněk Adamec« heißt das Werk, ein Drama, »eine Szene«.

Erstmals erwähnt Handke Adamec gegen Ende seiner Rede zur Ehrendoktorwürde der Stadt Salzburg im Juni 2003. Er hatte von Selbstverbrennungen von vier oder fünf Personen in Tschechien gehört, angeblich, wie die Medien berichteten, »aus Protest gegen den Krieg«, den sogenannten Irak-Krieg der USA vom März/April 2003. Er nennt zwei Namen, um diese Menschen in »den Zug der Dauer« einzureihen: »Der eine junge Mann heißt Zenedek [sic!] Adamec, der andere heißt Roman Mašl.« Handke fragt in seiner Rede nach dem vollständigen Text des Abschiedsbriefs von Adamec, da er nur »zwei, drei Worte« daraus in Zeitungen gelesen habe. Es ist nicht klar, woher Handke die Informationen hatte. Sowohl von der »Berliner Zeitung« über den »Guardian« bis zur »New York Times« wurde im März und April 2003 darüber berichtet.
Zdeněk Adamec ist von nun an eine Person, die Handke beschäftigt. In einem fiktiven Werk taucht er zum ersten Mal 2017 in der langen Erzählung Die Obstdiebin auf. Valter, der Begleiter der Obstdiebin Alexia, referiert über ihn kurz, nennt ihn beim Vornamen, weil er ihn »inwendig« kenne. Es ist ein kurzer Exkurs, eine Annäherung, die rasch endet.

Zdeněk Adamec wurde 1984 in Humpolec (Südböhmen) geboren. Sein Vater war Steinmetz. Der Sohn soll ein sehr guter und gewissenhafter Schüler gewesen sein. Er besuchte eine Technische Schule in Pelhřimov. Und dann der 6. März 2003. Adamec wählte den Prager Wenzelsplatz als Ort für seine Aktion, der Platz, auf dem (unter anderen) Jan Palach 34 Jahre zuvor sein Fanal gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei setzte. Er übergießt sich mit Benzin und zündet sich an, »aus Protest gegen den Zustand der Welt«. In einem Brief sieht er sich als »Opfer des sogenannten demokratischen Systems, in dem Geld und Macht statt die Menschen entscheiden«. Sein ganzes Leben habe aus »Ausschließungen« bestanden. Er beklagt, dass man sich in der Gesellschaft zu wenig um den anderen kümmere. Der letzte Satz seines Abschiedsbriefes ist die Bitte, aus ihm keinen Narren zu machen.

Peter Handke hat diese Bitte für sein Drama beherzigt. Sechs, sieben oder acht Personen, Frauen und Männer, stehen auf der Bühne, die ein öffentlicher Raum, vielleicht ein Platz sein soll, weiträumig auseinanderstehend positioniert (es ist, als hätte der Autor die Corona-Krise vorausgesehen), reden miteinander, fallen sich ins Wort, widersprechen oder ergänzen sich. Alle Reden im Text werden in Anführungszeichen gesetzt, ohne personelle Zuordnung (wie stellt man das auf der Bühne dar?). Alles »wie es euch gefällt«, wie es in der einzigen Regieanweisung, die es gleich zu Beginn gibt, heißt. Ein »Gespräch, ein abendliches, ein nächtliches (oder zeitweise auch dramatisches), setzt ein, und ein Satz gibt in der Folge den anderen, oder auch nicht, mit Pausen dazwischen, oder auch nicht.« Oder ein Fest, wie einer meint? Alles bleibt offen, nein: frei; frei schwebend.

Man kann nicht anders als suchen: Wieviele Personen erkennt man? Ein Mauerschauer, ein, zwei Spielverderber, ein Rechercheur, Anekdotenerzähler (wieviele?), ein ehemaliger Barmann, ein Wüterich (da, wo es möglich ist, auch als *in denkbar; wünschenswert im ein oder anderen Fall sogar). Die Szenerie ist wie beim Schweigestück, der Stunde, da wir nichts voneinander wussten, die Dialoge erinnern bisweilen an Handkes schönsten, spielerischsten Drama, dem Spiel vom Fragen. Dabei geht es doch um einen 18jährigen, der sich das Leben genommen hat. Und um mehr.

Nein, es soll keine der »typisch tschechischen Selbstverbrennungsstories« werden und auch dem »Aktualitätenhorror« wird widersprochen. Gleich zu Beginn, damit das klar ist. Aber dann doch die Reminiszenz auf Jan Palach (und »dem anderen Jan« Zajíc). Ganz zu Beginn Adamec' Lebensdaten. Die Imagination der letzten Nacht auf der Toilette vom Prager Überlandbusbahnhof, der Rucksack mit dem Benzin, das Sich-Übergiessen. Wie hat Zdeněk gelebt? Was sagen die Eltern? »Recherchen, du? Ganz was Neues!« Ja, Recherchen.

Handke will Zdeněk Adamec und seine Tat beschützen. Er soll nicht der Sonderling oder Eigenbrötler sein, den man von sich wegschieben kann. Die Beschwörung einer für ausweglos gehaltenen Situation ist nur ein Aspekt dieses Lebens; der traurigste. Denn auch Zdeněk war »herzlich gerne auf der Welt«. Das Rodeln auf dem Hügel als Kind, immer »hinauf und hinunter«. Und dann die Lichtung im Wald, mit den Blaubeerstäuchern, die er als Jugendlicher zu seinem Refugium macht, (s)ein Eins-Sein mit der Welt erlebt. Als er sein »Geheimnis«, den Ort, einem anderen erzählt und ihn hinführt, dieser jedoch die Schönheit nicht erkennen kann, »keinen Mucks« macht, ist der Zauber für immer verdorben. Er besucht die Stelle nie mehr. Hält sich von nun an fast immer in Innensäumen auf, vor dem Computer. Eine Stelle gibt es noch, an bzw. in der er sich verewigt hat: in einem Museum ritzt er seinen Namen in ein mittelalterliches Foltergerät. Er wird »licht- und naturvergessen.« Schließt sich einer Gruppe an, die örtliche Stromnetze attackiert und ausschaltet (»The Darkers«) – und bereut dies später.

Der Abschiedsbrief Adamec' wird zum »Psalm«.  Der »Menschenkindjammer« ist »ein mannhaftes Flehen«. Diese Tat, dieses Sterben für sich alleine und dann doch offen auf dem Platz, geschah »weder [aus] Hochmut noch Weltverdruß, noch gar Wahn.« Er wollte auch keinen Ruhm. Was ihn antreibt, wissen die Fragenden und Sprechenden nicht. Keine Urteile, keine schnellen Meinungen, nur keine (politische) Vereinnahmung. Und auch »keine Moral, und schon gar keine Moralitäten!« Wenn »Zdeněk von Geld und Macht schreibt, will er etwas anderes sagen als ›Geld‹ oder ›Macht‹«. Einer will es wissen: »Übersetz das!«. Aber es »gibt dafür keine Übersetzung. Jedenfalls keine wörtliche. Du kannst sie nur fühlen, einzig und allein fühlen. Sowie du sie aber fühlst, dann weißt du. Und wie. Schon der Rhythmus, womit in Zdeněks Brief von der Macht und dem Geld die Rede ist, ist ein wesentlich anderer, von Grund auf verschieden von all den üblichen Sätzen und Syntaxen von Geld und Macht.«

Handke hat alles dazu gelesen, zitiert aus Zeitungen (verballhornt die Namen der Medien nur; die Originale sind leicht aufzufinden). Zwischendurch gibt es Anekdoten, ein, zwei Kalauer, scheinbare Umwege, die schließlich zu Hinführungen werden. Und dann natürlich eine Portion Journalistenkritik, etwa zu Radio Prag und der Stellungnahme 2003, Adamec' Tat habe nicht dieselbe Legitimation wie die von Palach. Eine (mittlerweile verstorbene) Politikerin fürchtete gar, Palachs Andenken würde durch Adamec »beschmutzt«. Wie mag dies für die Eltern geklungen haben? Ein Protagonist »weiß«, dass sie Mutter nach der Tat ihres Sohnes verstummt ist.

Adamec wird vom Dichter nicht vereinnahmt. Es ist ein wahrhaftiges Stück. Handkes Sympathie für Zdeněk ist nicht affirmativ, aber behütend. Trauer zeigt sich im Bedauern, dass diese sensible Persönlichkeit und ihre Fähigkeiten nicht mehr der Welt zur Verfügung stehen. Was wäre möglich gewesen? Man ist erinnert an Handkes »Ahnenkult« (Selbstbeschreibung P. H.) mit den Onkeln Gregor und Hans, die gezwungenermaßen für ein Verbrecherregime Soldatendienst absolvieren mussten und als Kanonenfutter missbraucht wurden. Immer wieder tauchen sie in seinem Werk auf und 2010 errichtete er ihnen in Immer noch Sturm ein Denkmal, verwandelte sie in Widerstandskämpfer, die nach der Barbarei ein neues Land aufbauten. Und so errichtet Peter Handke jetzt für diesen Zdeněk Adamec ein von welchem Mob auch immer für alle Zeiten unzerstörbares literarisches, dramatisches Monument. Ohne Verklärung oder Pathos.

Handke macht keinen Hehl daraus, dass er Adamec' Konsequenz respektiert, aber nicht teilt. Denn es gibt »das Schälen des Apfels«, welches das Weltgefühl wieder herstellen kann: »Ich bin auf dem besten aller denkbaren Planeten.« Das ist kein Trost (»Verschont mich…mit meiner Freude«), eher ein Ansporn. Und so legt man diese »bitterwahre« Weltverdrusspolka in einer seltsam beschwingten Stimmung zur Seite. Man wird diesen Zdeněk nie mehr vergessen. Als Lehre, die ephemere Schönheit der Welt zu sehen, zu entdecken. Ein Vermächtnis? Ja, ein besonderes.

Artikel online seit 20.07.20
 

Peter Handke
Zdeněk Adamec
Eine Szene
Suhrkamp
Klappenbroschur, 71 Seiten
20,00 €
978-3-518-42920-4

Leseprobe

 

 


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