Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 












Eine Art Vermächtnis

Peter Handkes Dämonengeschichte
»Mein Tag im anderen Land«

Von Lothar Struck

Im letzten Kapitel seiner im Sommer 2020 neu überarbeiteten Handke-Biographie "Meister der Dämmerung" hatte Malte Herwig vielleicht etwas indiskret aus dem Werkstattkästchen des Schriftstellers geplaudert. Peter Handke wolle "noch" eine "Dämonengeschichte" schreiben, so schreibt Herwig. Womöglich in Anlehnung an Geschichte des Besessenen von Gerasa aus dem Markus-Evangelium (5,1-20), der von Jesus von seinen Dämonen befreit wurde. Da war von Plänen die Rede, nach Israel zu fahren, sich auf die "Spuren des geheilten Besessenen" zu begeben. Eine Pilger- oder Bußfahrt, die eine "Erlösung" des Dichters von seinen bösen Geistern bringen soll?

Mit "Mein Tag im anderen Land" liegt nun diese "Dämonengeschichte" (so der Untertitel) vor. Erzählt wird sie von einem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, einem Obstgärtner, der einst ein Buch über den Obstbau verfasst hatte und jetzt am Schreibtisch sitzend, von seiner Besessenheit nebst "Heilung" nachsinnt. Vielleicht ist es jener Gärtner, der in Wim Wenders' Film "Die schönen Tage von Aranjuez" im Hintergrund ein, zweimal erscheint?

Zwar habe er, so der Erzähler, die Zeit seiner Besessenheit erlebt, aber dennoch keine oder nur unzureichende Erinnerung daran. Er ist auf das "Hörensagen" anderer angewiesen, insbesondere seiner Schwester, die sich um ihn fast mütterlich kümmert (die Eltern bleiben seltsam Verschollene). Eine "Schlafwandlerexistenz" habe er geführt, in einem Zelt auf einem alten Friedhof lebend, "Beschimpfungen und Schmähreden" auf seiner "Ortsdurchquerungssuada" ausstoßend, dann "kreuz und quer durch das Land" ziehend. Zunächst eher harmlos, etwa "Lebewesen, Tiere, einzeln, zu Paaren, zu mehreren" anredend oder einfach nur eine singende Amsel mit "Maul halten!" anherrschend.

Später wurden die Phasen der Sanftmut weniger, die Wechsel "vom gefährlichen Narren zum harmlosen Idioten" schlugen mehr und mehr in Richtung Gefahr aus. Ein Tosender, ein Schimpfender, Orakelsprüche mit "einem Pfeilsatz oder Satzpfeil" ausstoßend (wer kennt sie nicht?), dann wieder, in den wenigen klaren Momenten, weinend und herumschreiend. Die Phasen der Sanftmut wurden weniger, die Wechsel "vom gefährlichen Narren zum harmlosen Idioten" schlugen mehr und mehr in Richtung Gefahr aus, in ein drohendes "Umspringen ins Tatsachen-Grauen, in ein Gemetzel, einen Amoklauf, wie ihn die Gegend, das Land, ja, die ganze Welt noch nicht erlebt hätte."

"Das Schreckliche", so rekapituliert der Erzähler, "ist ja nicht die Finsternis, vielmehr das viele Licht drinnen in mir, und um mich herum. Wie böse ist es, dieses Licht. Eingekerkert bin ich in es."

Aber es kommt zur Heilung. "Am Ufer eines Sees" zogen ein paar Männer "ein Fischerboot aus dem Wasser und blieben noch eine Zeitlang, einen Halbkreis bildend, stehen." Es sind die Augen eines Mannes, "welcher in der Mitte des Halbkreises stand." Ein Blick, "wie ich noch keinmal von einem Menschen angeblickt worden war." Der Blick dieses einen "Guten Zuschauers" genügt, und "'im Nu', war ich ihn los, den Dämon; fuhren sie aus aus mir, die Dämonen."

Aber es gibt, wie schon beim Gerasener, kein Verbleiben in der Gemeinschaft. Der "Gute Zuschauer", der rasch zum Partner der Schwester des Erzählers wird, schickt ihn weg, hinaus in die Welt, in ein anderes Land, nach Dekapolis, ins ehemalige Zehn-Städte-Land.

Was dann folgt ist eine durchaus auch heitere Mischung aus Märchen, Mission und Expedition, eine Welt-Aneignung. Und was für eine. War vorher nichts recht, so ertastet der Erzähler jetzt die Schönheiten der Welt, was von Ferne an Damiel, den Mensch gewordenen Engel aus dem "Himmel über Berlin" (wieder eine Wenders-Reminiszenz) oder an den Parzival aus dem "Spiel vom Fragen" denken lässt. Nur ist es hier eine Wiederkehr, ein "[z]urück im Leben; der Welt, dem lieben Planeten…", erlebte "Daseinsfreude". Wie er den Entgegenkommenden begegnet, wie er grüßt, gegrüßt oder nicht gegrüßt wird, wie er versucht, die Schönheit der Welt durch Namenlosigkeit noch zu vergrößern.

Am Ende dieses (vielleicht endlich "geglückten") Tages wie so oft ein Festmahl, eine "kleine Gesellschaft" aus "zufällige[n] Begegnungen […] bei meinem Durchstreifen der Stadt." Und wie wäre es nun mit den Geschichten dieser Zufalls- oder auch Nichtzufallsbekannten? Hierauf gibt es eine verblüffende Antwort: "Ihre Geschichten stehen in einem anderen Buch, sind zu lesen, verwandelt, in anderen Büchern – ja, richtig geraten, den meinigen, nicht mehr dem Spalierobstbau gewidmeten der folgenden Jahre."

Das epiphanische Erlebnis und der Tag, der Dauer ermöglicht, enden. Plötzlich wird deutlich, dass dieser sanfte Exorzismus lange Zeit zurückliegen muss, denn es folgen "Jahre der Harmonie", eine Zeit als "ein gesellschaftliches Wesen wie nur je eins, wirksam im Tun wie im Lassen, im Sein-und-gelten-Lassen". Bevor dann im kleinen Schlusskapitel ein Lob auf das "Widerständische" wenn nicht gesungen, so doch mindestens angestimmt wird, welches dann – wieder autoironisch – zur Selbstumarmung des Erzählers im Spiegel führt. Mit dem koketten "Seid ihr alle da?" endet diese Erzählung.

Eine Zäsur im Werk? Die Motive des Handke'schen Erzählens sind alle da: die Verwandlung, das Leben in der Peripherie, die Sehnsucht nach Gemeinschaft, ohne den Eigensinn aufgeben zu müssen, der Wunsch nach Welt-Haltigkeit und Dauer. Aber es ist das erste Buch, welches nach dem Tod von Raimund Fellinger erschienen ist. Doris Plöschberger hat das Lektorat jetzt übernommen. Wie immer ist das Erzähl-Ich nicht mit dem Autor zu verwechseln (zumal auch hier wieder Elemente aus Handkes "Ahnenkult" hervorschimmern), aber die drei Kapitel des Buches können dann doch als allegorische Spiegelung der Lebens- und vor allem Werkphasen gedeutet werden.

Inständig hofft man, dass das "noch" in Herwigs Kapitel nicht wörtlich zu verstehen ist. Aber es ist sicher nicht gewagt, dass diese Erzählung auch als eine Art Vermächtnis gesehen werden kann. Handke spannt einen Bogen über sein Werk, die Phasen, die in der "Dämonengeschichte" erzählt werden, schweben nun auch über die Bücher des jungen, sprachkritischen Autors, der zum sanften Erzähler wurde, für einige Jahre trotzig-robust an sein Arkadien festhielt und beinahe daran verzweifelt wäre, bevor er seinen Status als "Idiot" wieder einnahm. "Mein Tag im andern Land", obwohl noch nicht einmal 100 Seiten, knüpft an die epischen, fast autobiographischen Erzählungen "Mein Jahr in der Niemandsbucht" und "Die morawische Nacht" an.

Die Erzählung entwickelt einen Sog, das scheinbar Verschrobene dieses Geheilten wird fast physisch und man kann sich gar nicht genug sattlesen daran. Selbst wenn von der sterbenden Frau erzählt wird oder für einen Moment sogar der eigene Tod gespürt zu werden scheint (der letzte Dämon?) – all dies geschieht mit einem Welt-Vertrauen, das den im Aktualitätenwahn versinkenden Leser geradezu beschämt. Und der Leser fragt sich, wo der Gute Zuschauer ist, der dabei hilft, den eigenen Dämon entfahren zu lassen.

Artikel online seit 28.03.21
 

Peter Handke
Mein Tag im anderen Land
Eine Dämonengeschichte
Bibliothek Suhrkamp 1524
Gebunden, 93 Seiten
18.00 €
978-3-518-22524-0


Leseprobe

 

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten