Von Schutzengeln
Eine Rose, ein
Extrablatt, ein Einstellungsbogen und eine Notiz in einem Terminkalender – das
sind die Beweisstücke in dem neuen Roman des dänischen Erfolgsautors Peter Høeg.
Er macht daraus eine als Science-Fiction Geschichte getarnte Elegie über Kinder
und Schutzengel, in der praktischerweise diese Kinder zu ihren eigenen Hütern
werden.
Ein Geheimlabor
Die beiden
Stränge des Romans handeln vom Dänemark der Sechzigerjahre und von der heutigen
Zeit; am Ende des Romans werden sie eindrucksvoll zusammengeführt. Die
Rahmenerzählung spielt sich vor dem Hintergrund einer Science-Fiction Geschichte
ab, die in der Welt der Apparate-Phantasmagorien der Neuropsychologie
angesiedelt ist: In einem geheimen Labor arbeitet die dänische Regierung am
Projekt eines Neuronen-Scanners, der Gehirn und Körperdaten von Menschen
sammelt, zusammenfasst und in ein begeh- und manipulierbares Modell umsetzt. Die
Neurowissenschaftlerin Lisa entwickelt ein entsprechendes Setting, mit dem sich
diese Hologramme einzelner Personen vergrößern lassen, sodass sie begehbar
werden. Auf diese Weise entsteht eine digitale Version des bekannten
gläsernen Menschen aus dem Hygienemuseum in Dresden, einschließlich aller
neuerer Tricks der digitalisierten Infografik. Von den Gehirn- und Körperscans
dargestellt, sollen sich die psychischen Probleme und Traumata der Menschen als
Engramme in der Holoprojektion optisch und haptisch darstellen lassen. Denn
praktischerweise können die neuen Gehirningenieure diese Areale betreten und
durch geschickte Manipulationen die Menschen von ihren Traumata wohl nicht
befreien, so doch ihre Not lindern. Wie mit einem kleinen Bolzenschneider, so
die dennoch weitgehend in einem mechanischen Horizont der Technik verbleibenden
Phantasmagorien, werden dort Verbindungen gelöst und andere neu zusammengefügt,
sodass aus der alten traumatisierenden Erzählung eine neue freiere entstehen
kann. Auf diese Weise werden die so behandelten Patienten zwar nicht gerettet,
aber ihre Not wird gelindert – und es werden nebenbei viele Daten gesammelt.
Technik und Narration
Das Setting ist
zunächst einmal nichts Neues, denn diese Art von technischen
Ermächtigungsphantasien der doch schon bei Descartes per Definition ungreifbaren
Seele durchzieht die Science-Fiction Literatur und die entsprechenden Filme von
ihren Anfängen bis heute. Unvergessen sind die Szenen aus der klassischen Serie
Flash Gordon aus den
neunzehnhundertdreißiger Jahren, in denen die Bösewichter vom Saturn den
Menschen Helme verpassen, die diese zu passiven Schläfern und Träumern machen;
das bildet gleichsam die negative Form dieser neuen als Erweiterung des
individuellen Bewusstseins gedachten Technologie bei Høeg.
Das Spannende an Høegs technischer Phantasie – die auch auf Aldous Huxleys
Fühlkino aus Schöne neue Welt
zurückgreifen kann, ein Roman, der zur selben Zeit wie Flash Gordon
erscheint, oder auch Filme wie Lucy (2014)
von Luc Besson, wo ebenfalls ein ungenutztes Gehirnpotential bis zur
Gottähnlichkeit freigesetzt werden soll – das Spannende bei Høeg also ist, dass
er zunächst vor einem literaturwissenschaftlichen Hintergrund arbeitet. Denn es
ist im Rahmen der Möglichkeiten dieser Technik an entscheidender Stelle von den
einen Erzählungen die Rede, die durch die neuen ersetzt werden.
Weniger dagegen wird von einer harten Realität gesprochen; es geht vielmehr
darum, eine durchlässige Wirklichkeit der Träume vorsichtig fiktional gegenüber
derjenigen der Außenwelt zu positionieren.
Eine wirkliche Wirklichkeit
Dazu greift Høeg
in einer schönen Stelle auf das alte Bild von den Sternen zurück, die im
Hintergrund auch dann weiterscheinen und ihre Wirkungen spinnen, wenn am Tage
ihr schwaches Licht von dem starken der Sonne übertönt wird. So wird hier das
Verhältnis von Traum und äußerer Möglichkeit geschildert: die „wirkliche
Wirklichkeit“ ist hier die des Traumes, die der äußeren Realität nur eine
mögliche Variante derselben. Wer durch die Träume zugehen vermag, hebt gleichsam
die Gesetze der äußeren Wirklichkeit auf. Dadurch wird aber auch noch etwas
Weiteres deutlich: diese Konstruktion des Narrativs verdankt sich damit weniger
einer Technik oder dem Paradigma des Imaginärs aus der Literaturwissenschaft –
als vielmehr einem theologischen Horizont der Erzählung.
Träumende Kinderengel im Carlsberger Bierfass
Das wird im
zweiten Erzählstrang der Geschichte deutlicher. In diesem geht es um die
Erinnerungen einer kleinen Gruppe von schlaflosen Kindern im
Betriebskindergarten der Kopenhagener Brauerei Carlsberg. Sie dürfen die
ansonsten obligatorische Mittagsruhe wach verbringen und suchen sich dafür den
abgekapselten Innenraum eines alten Bierfasses, das zusammen mit einem in der
Phantasie begehbaren Wandgemälde als Traumhöhlen für die Jungen Peter und Simon
und das Mädchen Lisa dienen. Aufgrund ihrer besonderen Fähigkeit zu Wachträumen
entwickeln diese Siebenjährigen, zu denen sich später noch eine 18-jährige
Kindergärtnerin gesellt, die ihr Geheimnis teilt, die Fähigkeit, in die Träume
anderer Menschen einzudringen. Der Roman berichtet in diesem Erzählstrang so
stetig über die entsprechenden Erfolge wie in dem anderen über die Erfolge mit
den Hologrammen. Das langsame Aufdecken und Zusammenführen dieser Zusammenhänge
und die stete Reflexion über das Verhältnis von wissenden Kindern und
unwissenden, sich hinter einer emotionalen Firewall verbergenden
Erwachsenen, machen das Buch und seinen Plot aus.
Motivüberlagerungen
Es ist für den
Leser nicht leicht zu bestimmen, welcher dieser verschiedenen Entwicklungslinien
und Motivgruppen die wichtigste Rolle zukommt. Das Verhältnis von Wunschwelt und
äußerer Wirklichkeit, die aus dieser heraus korrigiert werden kann, schließen
ernsthafte Verbindungen zur Psychoanalyse aus; denn dort zerfällt der
Traum in Angst und Wunsch als Reaktion auf diese äußere Welt; die prophetische
Seite von Träumen bleibt für Freud mythologischer Natur. Schon eher besteht bei
Høeg ein Anklang an Carl Gustav Jungs Analytische Psychologie und
tatsächlich ist des Öfteren auch von einem kollektiven Unbewussten die
Rede. Aber auch das bleiben – so wie der apparatetechnische Aspekt der
Bewusstsein simulierenden Neuropsychologie mit den entsprechenden Hintergründen
oder das Narrativ der Erzählung– nur oberflächliche Motive. Im wirkenden
Hintergrund muss man sich vermutlich eher das Bild von Erwachsenen vorstellen,
die ein schlechtes Gewissen ihren Kindern gegenüber besitzen, denn um Schuld und
Leid der verständigen Kinder und der unverständigen Eltern geht es die ganze
Zeit in dem Buch. Auf diese Weise wird im Roman das Motiv des Schutzengels
entwickelt: praktischerweise im Rahmen einer Naivität der Kinder für sich
selbst.
Zeitreisen gegen das Schicksal
Denn den
fassbewohnenden und bierduftgeschwängerten Kindern in den 1960er Jahren gelingt
es zunächst, kollektiv zu träumen, dann in die Träume von anderen Kindern und
Erwachsenen einzudringen, um sie schließlich aktiv vor Unglücken, die diese
selbst zu verantworten haben, zu schützen. Schließlich gelingt es ihnen sogar,
bis in die Zukunft vorzugreifen. Hinter diesem Science-Fiction Motiv der
Zeitreise, in dem die erste Realität durch den Eingriff in die Vergangenheit
korrigiert und rückgängig gemacht wird – ein altes Zeitparadoxon der
Science-Fiction Literatur, dass beispielsweise auch von der neuen Serie
Discovery aus dem Star Trek
Universum bedient wird – verbirgt sich so das theologische Motiv eines
Schicksals und der dessen Härten zu brechen versuchenden Engel. Denn wenn man in
diesem Feld weiter einen Protestantismus voraussetzt, der in Dänemark von Sören
Kierkegaard beackert wurde, so gibt es für normale Menschen keine Möglichkeit,
die schicksalsverändernde Kraft Gottes aus eigener Anstrengung heraus zu
erreichen. Davor steht die auf Luther und Augustinus zurückgehende
Irrationalität der Gnadenwahl. Wenn aber den Kindern im Roman, wenn auch nur
eingeschränkt, eben diese Fähigkeit zugesprochen wird, dann müssen sie gerade
wegen ihrer Naivität den Engeln näher sein als den Menschen.
Schutzengel für sich selbst mit Grenzen
Tatsächlich
werden diese hochbegabten Kinder auch entsprechend engelhaft geschildert. Das
gilt insbesondere für die Hauptperson Lisa, die neben dem Erzähler Peter die
beiden Erzählstränge verbindet: Lisa gehört in der Kinderwelt zu den aktivsten
Träumern, sie greift dort ein; sie begegnet nicht zuletzt in ihrem Garten dem
dänischen Quantenphysiker Niels Bohr, aus dessen Inventar viele der
beschriebenen Räume stammen. Die träumende Kindergruppe ist aber zugleich auch
selbst von Unglück geschlagen und zeugt damit auch von den Grenzen ihrer
Möglichkeiten als Engel. Von den ursprünglich fünf Kindern der frühen Erzählung
schaffen es zunächst nur drei, schließlich zwei bis in die Erzählwelt dreißig
Jahre später. Lisa verliert zudem bei einem Unfall als Kind ihr Gedächtnis und
so muss Peter ihr im zweiten Teil auf die Sprünge helfen. Was er allerdings in
den therapeutischen Sitzungen des neuropsychologischen Instituts zu suchen hat,
die er so durchläuft wie der rätselhafte Camel- Mann aus der Zigarettenreklame
der Sechzigerjahre den lateinamerikanischen Urwald, in dem dieser eigentlich
nichts zu tun hat, bleibt rätselhaft; das hängt wohl mit logischen Brüchen
innerhalb der dänischen Geschichte zusammen, die einen Erzähler braucht.
Dunkeldänemark
Die
Engelsgeschichte ist folglich auch nicht ungetrübt; der lange Schatten
Kierkegaards und seiner Phantasie zur nicht zu entkommenden Erbschuld und
Erbsünde der Menschen spielt auch hier eine Rolle; bei ihm und Augustinus ist
die Quote der Geretteten zu den Verdammten etwa eins zu mehrere Millionen; bei
Høeg immerhin drei zu zwei.
Auch bei Høeg gibt es in beiden Welten der Erzählung also genügend Leid: in der
Kinderwelt ist die Mutter von Peters Pflegebruder Simon Alkoholikerin und sie
stirbt bald ebenso wie seine kleine Schwester; Lisas reiche Eltern, die sie
adoptiert hatten, kommen bei einem Autounfall ums Leben; Lisa selbst verliert
ihr Gedächtnis und dabei helfen ihr auch ihre außersinnlichen Fähigkeiten nicht.
Schicksalsschläge dominieren auch die zweite Welt: Es kommt zu Selbstmorden der
Patienten und die eindrucksvollsten Scanner-Sitzungen behandeln hautnah Fälle
von sexuellem Missbrauch in jeglicher Form. Høeg findet dafür den treffenden
Ausdruck eines Dunkeldänemarks – die Hölle muss eine Welt sein,
ähnlich Dänemark – könnte man angesichts solcher starken Motive ausrufen.
Diese besitzen nicht von ungefähr Anklänge an Dantes Höllenvisionen oder
erinnern an Nietzsches Einblicke in die Produktion von Tugenden in der
Genealogie der Moral.
Möbelrücken im Himmel
Trotzdem
unterliegt dem ganzen Buch eine Atmosphäre der gefühlsmäßigen Verschmelzung, dem
Wunsch nach Vergebung und Verzeihung und das starke Anliegen, zumindest träumend
das harte Schicksal der Außenwelt abzumildern und erzählend rückgängig zu
machen. Vermutlich geht das auf das schlechte Gewissen der Generation von Høeg,
die langsam das Großelternalter erreichen, als Eltern ihren eigenen
Scheidungskindern gegenüber zurück; es sind das Gefühle, die auch dem
Rezensenten nicht unbekannt sind. Die Technik soll es richten. Das Buch ist aber
trotz der Science-Fiction mäßigen Aufmachung der Versuch einer Liebeserklärung
an die Kinder und an ihre utopische Kraft. Wenn die Erwachsenen schon die Welt
nicht retten, dann müssen es die Kinder tun, die dafür freilich in diesem Roman
zu poetisierten Engeln entrückt werden. Dieser Gedanke hat trotz der
offensichtlichen Ausweichbewegung vor den Härten der Welt und der Bevorzugung
eines Wunschtraumes dennoch etwas Tröstendes. In einer zweiten schönen Stelle
berichtet Lisa davon, wie ihre Eltern ihr einmal auf einer Wanderreise in
Lappland die Angst vor einem Gewitter nahmen, indem sie das Gepoltert des
Donners ein „Möbelrücken der Engel im Himmel“ nannten. Mit diesem Satz im Ohr
konnte sie gut im Zelt einschlafen. Er hatte die Kraft, sie zu beschützen. Das
scheint auch das Ansinnen von Høegs Roman zu sein.
Umwege durch Träume in die Welt
Die Geschichte
eines solchen englischen Möbelrückens erzählt Peter Høeg. Walter Benjamin
berichtet von einem Spiel der Barockzeit, in dem es darum ging, zwischen
gegebenen Worten eine möglichst kurze elegante Verbindung herzustellen. Peter
Høegs Roman kann als ein Versuch gesehen werden, diese Verbindung zu verlängern,
um so notwendige Umwege zwischen der Rose, dem Extrablatt, dem
Einstellungsbogen und der Notiz herzustellen. Es ist ein zu Herzen
gehendes Buch daraus geworden, dass trotz des technischen Schnickschnacks, der
sich dort auch findet, solche Logik des Herzens aus jener Welt in dieser
darzustellen versucht.
Artikel online seit 26.04.20
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Peter Høeg
Durch deine Augen
Roman
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
Hanser Verlag
336 Seiten
24,00 €
978-3-446-26168-6
Leseprobe
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