Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 









Von Gefühlsmaschinen und Kinderengeln

Oder: Die theologischen Grenzen der optischen Metaphern
zu Peter Høegs Roman
»Durch deine Augen«

von Wolfgang Bock
 

Von Schutzengeln
Eine Rose, ein Extrablatt, ein Einstellungsbogen und eine Notiz in einem Terminkalender – das sind die Beweisstücke in dem neuen Roman des dänischen Erfolgsautors Peter Høeg. Er macht daraus eine als Science-Fiction Geschichte getarnte Elegie über Kinder und Schutzengel, in der praktischerweise diese Kinder zu ihren eigenen Hütern werden.

Ein Geheimlabor
Die beiden Stränge des Romans handeln vom Dänemark der Sechzigerjahre und von der heutigen Zeit; am Ende des Romans werden sie eindrucksvoll zusammengeführt. Die Rahmenerzählung spielt sich vor dem Hintergrund einer Science-Fiction Geschichte ab, die in der Welt der Apparate-Phantasmagorien der Neuropsychologie angesiedelt ist: In einem geheimen Labor arbeitet die dänische Regierung am Projekt eines Neuronen-Scanners, der Gehirn und Körperdaten von Menschen sammelt, zusammenfasst und in ein begeh- und manipulierbares Modell umsetzt. Die Neurowissenschaftlerin Lisa entwickelt ein entsprechendes Setting, mit dem sich diese Hologramme einzelner Personen vergrößern lassen, sodass sie begehbar werden. Auf diese Weise entsteht eine digitale Version des bekannten gläsernen Menschen aus dem Hygienemuseum in Dresden, einschließlich aller neuerer Tricks der digitalisierten Infografik. Von den Gehirn- und Körperscans dargestellt, sollen sich die psychischen Probleme und Traumata der Menschen als Engramme in der Holoprojektion optisch und haptisch darstellen lassen. Denn praktischerweise können die neuen Gehirningenieure diese Areale betreten und durch geschickte Manipulationen die Menschen von ihren Traumata wohl nicht befreien, so doch ihre Not lindern. Wie mit einem kleinen Bolzenschneider, so die dennoch weitgehend in einem mechanischen Horizont der Technik verbleibenden Phantasmagorien, werden dort Verbindungen gelöst und andere neu zusammengefügt, sodass aus der alten traumatisierenden Erzählung eine neue freiere entstehen kann. Auf diese Weise werden die so behandelten Patienten zwar nicht gerettet, aber ihre Not wird gelindert – und es werden nebenbei viele Daten gesammelt.

Technik und Narration
Das Setting ist zunächst einmal nichts Neues, denn diese Art von technischen Ermächtigungsphantasien der doch schon bei Descartes per Definition ungreifbaren Seele durchzieht die Science-Fiction Literatur und die entsprechenden Filme von ihren Anfängen bis heute. Unvergessen sind die Szenen aus der klassischen Serie Flash Gordon aus den neunzehnhundertdreißiger Jahren, in denen die Bösewichter vom Saturn den Menschen Helme verpassen, die diese zu passiven Schläfern und Träumern machen; das bildet gleichsam die negative Form dieser neuen als Erweiterung des individuellen Bewusstseins gedachten Technologie bei Høeg. Das Spannende an Høegs technischer Phantasie – die auch auf Aldous Huxleys Fühlkino aus Schöne neue Welt zurückgreifen kann, ein Roman, der zur selben Zeit wie Flash Gordon erscheint, oder auch Filme wie Lucy (2014)  von Luc Besson, wo ebenfalls ein ungenutztes Gehirnpotential bis zur Gottähnlichkeit freigesetzt werden soll – das Spannende bei Høeg also ist, dass er zunächst vor einem literaturwissenschaftlichen Hintergrund arbeitet. Denn es ist im Rahmen der Möglichkeiten dieser Technik an entscheidender Stelle von den einen Erzählungen die Rede, die durch die neuen ersetzt werden. Weniger dagegen wird von einer harten Realität gesprochen; es geht vielmehr darum, eine durchlässige Wirklichkeit der Träume vorsichtig fiktional gegenüber derjenigen der Außenwelt zu positionieren.[1]

Eine wirkliche Wirklichkeit
Dazu greift Høeg in einer schönen Stelle auf das alte Bild von den Sternen zurück, die im Hintergrund auch dann weiterscheinen und ihre Wirkungen spinnen, wenn am Tage ihr schwaches Licht von dem starken der Sonne übertönt wird. So wird hier das Verhältnis von Traum und äußerer Möglichkeit geschildert: die „wirkliche Wirklichkeit“ ist hier die des Traumes, die der äußeren Realität nur eine mögliche Variante derselben. Wer durch die Träume zugehen vermag, hebt gleichsam die Gesetze der äußeren Wirklichkeit auf. Dadurch wird aber auch noch etwas Weiteres deutlich: diese Konstruktion des Narrativs verdankt sich damit weniger einer Technik oder dem Paradigma des Imaginärs aus der Literaturwissenschaft – als vielmehr einem theologischen Horizont der Erzählung.

Träumende Kinderengel im Carlsberger Bierfass
Das wird im zweiten Erzählstrang der Geschichte deutlicher. In diesem geht es um die Erinnerungen einer kleinen Gruppe von schlaflosen Kindern im Betriebskindergarten der Kopenhagener Brauerei Carlsberg. Sie dürfen die ansonsten obligatorische Mittagsruhe wach verbringen und suchen sich dafür den abgekapselten Innenraum eines alten Bierfasses, das zusammen mit einem in der Phantasie begehbaren Wandgemälde als Traumhöhlen für die Jungen Peter und Simon und das Mädchen Lisa dienen. Aufgrund ihrer besonderen Fähigkeit zu Wachträumen entwickeln diese Siebenjährigen, zu denen sich später noch eine 18-jährige Kindergärtnerin gesellt, die ihr Geheimnis teilt, die Fähigkeit, in die Träume anderer Menschen einzudringen. Der Roman berichtet in diesem Erzählstrang so stetig über die entsprechenden Erfolge wie in dem anderen über die Erfolge mit den Hologrammen. Das langsame Aufdecken und Zusammenführen dieser Zusammenhänge und die stete Reflexion über das Verhältnis von wissenden Kindern und unwissenden, sich hinter einer emotionalen Firewall verbergenden Erwachsenen, machen das Buch und seinen Plot aus.

Motivüberlagerungen
Es ist für den Leser nicht leicht zu bestimmen, welcher dieser verschiedenen Entwicklungslinien und Motivgruppen die wichtigste Rolle zukommt. Das Verhältnis von Wunschwelt und äußerer Wirklichkeit, die aus dieser heraus korrigiert werden kann, schließen ernsthafte Verbindungen zur Psychoanalyse aus; denn dort zerfällt der Traum in Angst und Wunsch als Reaktion auf diese äußere Welt; die prophetische Seite von Träumen bleibt für Freud mythologischer Natur. Schon eher besteht bei Høeg ein Anklang an Carl Gustav Jungs Analytische Psychologie und tatsächlich ist des Öfteren auch von einem kollektiven Unbewussten die Rede. Aber auch das bleiben – so wie der apparatetechnische Aspekt der Bewusstsein simulierenden Neuropsychologie mit den entsprechenden Hintergründen oder das Narrativ der Erzählung– nur oberflächliche Motive. Im wirkenden Hintergrund muss man sich vermutlich eher das Bild von Erwachsenen vorstellen, die ein schlechtes Gewissen ihren Kindern gegenüber besitzen, denn um Schuld und Leid der verständigen Kinder und der unverständigen Eltern geht es die ganze Zeit in dem Buch. Auf diese Weise wird im Roman das Motiv des Schutzengels entwickelt: praktischerweise im Rahmen einer Naivität der Kinder für sich selbst.

Zeitreisen gegen das Schicksal
Denn den fassbewohnenden und bierduftgeschwängerten Kindern in den 1960er Jahren gelingt es zunächst, kollektiv zu träumen, dann in die Träume von anderen Kindern und Erwachsenen einzudringen, um sie schließlich aktiv vor Unglücken, die diese selbst zu verantworten haben, zu schützen. Schließlich gelingt es ihnen sogar, bis in die Zukunft vorzugreifen. Hinter diesem Science-Fiction Motiv der Zeitreise, in dem die erste Realität durch den Eingriff in die Vergangenheit korrigiert und rückgängig gemacht wird – ein altes Zeitparadoxon der Science-Fiction Literatur, dass beispielsweise auch von der neuen Serie Discovery aus dem Star Trek Universum bedient wird – verbirgt sich so das theologische Motiv eines Schicksals und der dessen Härten zu brechen versuchenden Engel. Denn wenn man in diesem Feld weiter einen Protestantismus voraussetzt, der in Dänemark von Sören Kierkegaard beackert wurde, so gibt es für normale Menschen keine Möglichkeit, die schicksalsverändernde Kraft Gottes aus eigener Anstrengung heraus zu erreichen. Davor steht die auf Luther und Augustinus zurückgehende Irrationalität der Gnadenwahl. Wenn aber den Kindern im Roman, wenn auch nur eingeschränkt, eben diese Fähigkeit zugesprochen wird, dann müssen sie gerade wegen ihrer Naivität den Engeln näher sein als den Menschen.

Schutzengel für sich selbst mit Grenzen
Tatsächlich werden diese hochbegabten Kinder auch entsprechend engelhaft geschildert. Das gilt insbesondere für die Hauptperson Lisa, die neben dem Erzähler Peter die beiden Erzählstränge verbindet: Lisa gehört in der Kinderwelt zu den aktivsten Träumern, sie greift dort ein; sie begegnet nicht zuletzt in ihrem Garten dem dänischen Quantenphysiker Niels Bohr, aus dessen Inventar viele der beschriebenen Räume stammen. Die träumende Kindergruppe ist aber zugleich auch selbst von Unglück geschlagen und zeugt damit auch von den Grenzen ihrer Möglichkeiten als Engel. Von den ursprünglich fünf Kindern der frühen Erzählung schaffen es zunächst nur drei, schließlich zwei bis in die Erzählwelt dreißig Jahre später. Lisa verliert zudem bei einem Unfall als Kind ihr Gedächtnis und so muss Peter ihr im zweiten Teil auf die Sprünge helfen. Was er allerdings in den therapeutischen Sitzungen des neuropsychologischen Instituts zu suchen hat, die er so durchläuft wie der rätselhafte Camel- Mann aus der Zigarettenreklame der Sechzigerjahre den lateinamerikanischen Urwald, in dem dieser eigentlich nichts zu tun hat, bleibt rätselhaft; das hängt wohl mit logischen Brüchen innerhalb der dänischen Geschichte zusammen, die einen Erzähler braucht.

Dunkeldänemark
Die Engelsgeschichte ist folglich auch nicht ungetrübt; der lange Schatten Kierkegaards und seiner Phantasie zur nicht zu entkommenden Erbschuld und Erbsünde der Menschen spielt auch hier eine Rolle; bei ihm und Augustinus ist die Quote der Geretteten zu den Verdammten etwa eins zu mehrere Millionen; bei Høeg immerhin drei zu zwei.[2] Auch bei Høeg gibt es in beiden Welten der Erzählung also genügend Leid: in der Kinderwelt ist die Mutter von Peters Pflegebruder Simon Alkoholikerin und sie stirbt bald ebenso wie seine kleine Schwester; Lisas reiche Eltern, die sie adoptiert hatten, kommen bei einem Autounfall ums Leben; Lisa selbst verliert ihr Gedächtnis und dabei helfen ihr auch ihre außersinnlichen Fähigkeiten nicht. Schicksalsschläge dominieren auch die zweite Welt: Es kommt zu Selbstmorden der Patienten und die eindrucksvollsten Scanner-Sitzungen behandeln hautnah Fälle von sexuellem Missbrauch in jeglicher Form. Høeg findet dafür den treffenden Ausdruck eines Dunkeldänemarksdie Hölle muss eine Welt sein, ähnlich Dänemark – könnte man angesichts solcher starken Motive ausrufen. Diese besitzen nicht von ungefähr Anklänge an Dantes Höllenvisionen oder erinnern an Nietzsches Einblicke in die Produktion von Tugenden in der Genealogie der Moral.

Möbelrücken im Himmel
Trotzdem unterliegt dem ganzen Buch eine Atmosphäre der gefühlsmäßigen Verschmelzung, dem Wunsch nach Vergebung und Verzeihung und das starke Anliegen, zumindest träumend das harte Schicksal der Außenwelt abzumildern und erzählend rückgängig zu machen. Vermutlich geht das auf das schlechte Gewissen der Generation von Høeg, die langsam das Großelternalter erreichen, als Eltern ihren eigenen Scheidungskindern gegenüber zurück; es sind das Gefühle, die auch dem Rezensenten nicht unbekannt sind. Die Technik soll es richten. Das Buch ist aber trotz der Science-Fiction mäßigen Aufmachung der Versuch einer Liebeserklärung an die Kinder und an ihre utopische Kraft. Wenn die Erwachsenen schon die Welt nicht retten, dann müssen es die Kinder tun, die dafür freilich in diesem Roman zu poetisierten Engeln entrückt werden. Dieser Gedanke hat trotz der offensichtlichen Ausweichbewegung vor den Härten der Welt und der Bevorzugung eines Wunschtraumes dennoch etwas Tröstendes. In einer zweiten schönen Stelle berichtet Lisa davon, wie ihre Eltern ihr einmal auf einer Wanderreise in Lappland die Angst vor einem Gewitter nahmen, indem sie das Gepoltert des Donners ein „Möbelrücken der Engel im Himmel“ nannten. Mit diesem Satz im Ohr konnte sie gut im Zelt einschlafen. Er hatte die Kraft, sie zu beschützen. Das scheint auch das Ansinnen von Høegs Roman zu sein.

Umwege durch Träume in die Welt
Die Geschichte eines solchen englischen Möbelrückens erzählt Peter Høeg. Walter Benjamin berichtet von einem Spiel der Barockzeit, in dem es darum ging, zwischen gegebenen Worten eine möglichst kurze elegante Verbindung herzustellen. Peter Høegs Roman kann als ein Versuch gesehen werden, diese Verbindung zu verlängern, um so notwendige Umwege zwischen der Rose, dem Extrablatt, dem Einstellungsbogen und der Notiz herzustellen. Es ist ein zu Herzen gehendes Buch daraus geworden, dass trotz des technischen Schnickschnacks, der sich dort auch findet, solche Logik des Herzens aus jener Welt in dieser darzustellen versucht.

[1] „‘Du hast gesagt, ich würde darüber schreiben‘, sagte ich. ‚Das habe ich nie gesagt. Das ist unmöglich. Keiner hat Lust, diese Geschichte zu hören. Sie kann von der Sprache gar nicht erfasst werden.‘ ‚Aber vielleicht als – sagt man nicht – Fiktion? Als Erzählung?‘“ (S. 334).

Artikel online seit 26.04.20
 

Peter Høeg
Durch deine Augen
Roman
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
Hanser Verlag
336 Seiten
24,00 €
978-3-446-26168-6

Leseprobe

 

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten