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»Lettre international«

Die europäische Plattform für intellektuelle Selbstverständigung.  
Zum Tod des enthusiastischen Journal-Erfinders Antonin Liehm

Von Wolfram Schütte
 

Hierzulande dürfte selbst regelmäßigen Lesern der Viermonatszeitschrift »Lettre international« der Name Antonin Liehm nichts sagen. Dabei verdanken sie es ihm (& natürlich dem deutschen Chefredakteur Frank Berberich & seinen Copains seit 1988), dass es diese einzigartige Zeitschrift überhaupt gibt.

Ihr redaktionelles Konzept war Liehms Idee. Er hat »Lettre international« 1984 in Paris gegründet: im Exil, in das er nach der sowjetischen Niederschlagung (1968) des tschechoslowakischen  »Sozialismus mit menschlichem Gesicht« geflohen war. Er hatte nämlich mit der kulturpolitischen Zeitschrift »Literarny noviny«, deren Chefredakteur der Literatur-& Filmkritiker Liehm war, sich an diesem politischen Versuch einer Demokratisierung des »real existierenden Sozialismus« entschieden beteiligt – wie zahlreiche Schriftsteller & Filmemacher der CSSR, z.B. Milan Kundera oder Milos Forman. Mit ihnen allen war der mehrsprachige Übersetzer Antonin Jaroslav Liehm gut bekannt, wenn nicht gar befreundet.

Der Gründung von »Lettre international« waren andere Zeitschriften-Pläne Liehms vorausgegangen & gescheitert. Jedoch die Idee, eine literarische Plattform einzurichten, auf der die Intellektuellen aller Länder sich zur gegenseitigen Information & einer fortlaufenden Debatte vereinigen könnten, hatte – lange bevor von (ökonomischer) Globalisierung gesprochen wurde – internationalen Erfolg. Nach dem Zerfall der Sowjetunion & der bipolaren Weltordnung erschien »Lettre« wahrhaft international sogar kurzzeitig in 12 europäischen Sprachen.

Nach der frühen Einstellung der französischen Gründungsausgabe 1993, sind heute nur noch das deutsche, italienische & spanische Format übrig geblieben. Sie praktizieren das Liehmsche Konzept eines Austauschs ihrer gemeinsam akquirierten Beiträge, ergänzt durch jeweils eigene Akzentsetzungen. Der Witz der Geschichte will es (mehr noch als deren hegelianische »List«), dass Antonin Liehms journalistische Utopie nur einen konzeptionellen Vorläufer hatte: in der CIA finanzierten multinationalen Zeitschrift der Fünfziger/Sechziger Jahre, die auf Deutsch »Monat«, englisch »Encounter« oder Französisch »Preuves« hieß.

Das Spezifische von »Lettre international« besteht in mehrerlei, was die viermal im Jahr umfangreich wie eine Taschenbibliothek erscheinende Zeitschrift auszeichnet: 1.die Redaktion tritt, wie ein guter Buch-Verleger, vollständig & kommentarlos hinter die von ihr ausgewählten Beiträge & Beiträger zurück. .2. Abweichend von entfernt verwandten heutigen Intellektuellen-Zeitschriften wie z.B. dem »New York Review of  Books« oder »MicroMega« bietet Lettre alle journalistischen Genres auf. Es bringt nicht nur große anspruchsvolle Essays, Abhandlungen, Gespräche & Glossen, sondern auch außergewöhnliche, umfangreiche Reportagen – ein literarisches Genre, das es im heutigen Journalismus schwer hat, noch einen Erscheinungsort zu finden 3. Jeder Ausgabe der im ungewöhnlichen DIN A2-Format erscheinenden Lettre wird von einem oder mehreren bildenden Künstler mitgestaltet.

Obwohl »Lettre international« die einzige länderübergreifende, wahrhaft europäische Zeitschrift ist, hat die EU sie nicht gefördert. Bestimmt hat der Enthusiast des unabhängigen, »herrschaftsfreien Dialogs« & der gegenseitigen Aufklärung durch Information, Bericht oder argumentativer kultur-politischer, gesellschaftlicher Debatten davon geträumt, dass sein hochherzig-vorausschauendes Projekt einer permanenten intellektuellen europäischen Selbstverständigung in Brüssel & Straßburg auf  Interesse stößt & ökonomisch gefördert wird - zumindest damit auch kleinere europäische Sprach-& Kulturkreise (vor allem Osteuropas) souverän am Austausch der Gedanken & Emotionen für eine gemeinsame europäische Zukunft in ihren Landessprachen teilnehmen können. Vergeblich.

Nun ist Antonin Liehm im hohen Alter von 96 (!) Jahren in seiner Geburtsstadt Prag gestorben.  

Artikel online seit 13.012.20
 



Antonin Liehm 2017
Foto:
Jindřich Nosek (NoJin)
Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International

 


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