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Siegfried Kracauer 1925
public domain


Kracauer, on the road again

Siegfried Kracauers »Straßentexte« in Wiederauflage zum Lesen und Nachgehen

Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

»Straßen in Berlin und anderswo« versammelt Arbeiten, die Siegfried Kracauer (1889-1966) Mitte der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre für die Frankfurter Zeitung (FZ) geschrieben, als eigenständiges Buch aber erst 1964 veröffentlicht hat.

Die Zeitung war damals ein altes Frankfurter Familienunternehmen, das sich seit den 1930er Jahren einer Vielzahl an Konkurrenz, insbesondere durch Radio und Kino gegenübersah. Hitler erblickte in der Zeitung die Speerspitze der »Judenpresse«. Dort arbeitete Kracauer seit 1920, ab 1921 als fester Mitarbeiter, der 1924 das Filmressort unter sich hatte und im Frühjahr 1930 nach Berlin wechselte, wo er fortan die Stelle als Leiter des Berliner Feuilletonbüros innehatte und sich zunehmend auf Literaturkritik verlagerte. Laut Arbeitsvertrag war Kracauer für die gesamte Berichterstattung des Feuilletons zuständig und sollte der Frankfurter Redaktion zuarbeiten.

Zu dieser Zeit plagten ihn neben seinem ausgeprägten Stottern auch Rückenschmerzen, Übermüdung und ein nervöses Gallenleiden. Er sei ein etwas unnahbarer Außenseiter gewesen, glaubten die Kollegen, und Joseph Roth ergänzt, er selbst habe Kracauer als einen klugen, ironischen »Kopf ohne Phantasie« kennengelernt.
Kracauer schrieb für die FZ eine Reihe von Berichten über Städte, Menschen, Dinge; über bürgerliche Accessoires, Symbole und Reliquien einer untergegangenen Epoche, um, wie Jörg Später in seiner Kracauer-Biografie herausstellt, »in einer eigentümlichen Weise eine Zeitenwende anzuzeigen.«

Die Dinge, die Kracauers Interesse fanden, waren u.a. Klaviere, Schreibmaschinen, Regenschirme, Scheren, Puderdosen, Zigarettenanzünder, Oberhemden, Seifenblasen, Jagdflinten, Krimskram aller Art, Buden und Karusselle.
Kracauer fiel aber auch ganz nebenbei die Nacktheit rosiger Frauenkörper auf, oder auch das Grauen beim Durchqueren einer Unterführung. Er begegnete Pierrots, Akrobaten, Blumenhändlern, Zeitungsjungen, und zahlreichen Mädchen: »Blonde, goldgelb Gefärbte, Dicke mit Fettwülsten und ausgemergelte Strünke: wie traurige Tulpen ragen sie im Pflasterbeet hoch und warten, ob einer sie ausrupfen will.«

Seine Themen waren die Labyrinthe der Stadt, der Asphalt, die »Vegetation der kleinen Leute«, das Dickicht der Schornsteine, die Passagen, die Ornamente, die eine Brücke zum Gestern bilden. »Text-Straßen« hat Gerwin Zohlen diese Arbeiten vor rund 40 Jahren einmal treffend genannt.
Kracauers Blick ist nüchtern, beinahe distanziert:
»Ein kalter Wind fegt durch die Straßen, die ohne Sanftmut sind. Auf dem Bülowplatz leuchten Transparente mit den Namen von Lenin und Stalin. Und gestern ist wieder einmal eine deutsche Schönheitskönigin gekürt worden.« Die Beobachtungen richteten sich nicht weniger auf das Gewebe und die Fangnetze der Städte, vor allem auf Berlin: den Kudamm, die Friedrichstraße, den Ufapalast, das Capitol, die Lichtsäulen und Cafés, den Bahnhof Zoo, die Warenhäuser, und natürlich Charlottenburg, wo er gewohnt hat.

Aber auch über die Pariser Faubourgs, Montmartre, die Bai in Marseille und über Nizza weiß er zu berichten. Hallen, Heime, Hinterzimmer, Mietshäuser, Kinos, Restaurants, Schaufenster, Lichtsignale (Ampeln), Theater, Opern, Kneipen tauchen in seinen Miniaturen auf, ein Eckladen wird zum Heiligtum, zum Tempel und Altar. Jedes Ding besitzt seine eigene Geschichte.

Im Herbst 1930 dann lauscht er Heinrich Manns Lesung in einem Berliner Warenhaus. Mann stellt dort seinen neuen Gesellschafts- und Künstlerroman, »Die große Sache«, vor – eine Zeitdiagnose der Weimarer Republik. In dem Roman geht es um die (fiktive) Erfindung des berühmten Birk, einen Konzern-Angestellten und Vater von fünf Kindern. Dieser Birk wird bei der Arbeit verletzt und gibt vor, etwas Ungewöhnliches erfunden zu haben, eine »große Sache«. Es handele sich hierbei um einen Sprengstoff von »äußerster Brisanz«.
Kracauer kommentiert: »Der Vortrag ist aus … In der Uhrwarenabteilung ticken die Uhren, in der Spielwarenabteilung rasseln die Autos. Immerfort rollen die Treppen, gleiten die Aufzüge hinauf und herab. Sie werden bis zum jüngsten Tag rollen und gleiten. Draußen ist der Abend angebrochen, und Straßen, in denen viel Elend wohnt, laufen aufs Warenhaus zu.«

Artikel online seit 06.03.20
 

Siegfried Kracauer
Straßen in Berlin und anderswo
Mit einem Nachwort von
Reimar Klein
Bibliothek Suhrkamp
268 Seiten
15,00 €
978-3-518-24243-8

 


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