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Amüsante Pirouetten

Jakob Noltes
»Kurzes Buch über Tobias«

Von Lothar Struck

So kurz ist das "Kurze Buch über Tobias" gar nicht. Es sind mehr als 230 Seiten, die Jakob Nolte da aus personaler Perspektive über einen Tobias Becker aus Niedersachsen erzählt. Man erinnert sich noch an die Dekalog-Serie des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski aus den 1980er Jahren, deren einzelne Episoden ebenfalls als "Kurzer Film…" betitelt wurden. Und tatsächlich finden sich in diesem Tobias-Buch nicht nur unterschwellig religiöse Bezüge.

Aber diese gibt es erst nach und nach. Tobias lebt jetzt in Berlin, macht ein Freiwilliges Soziales Jahr in Potsdam, spielt gerne Tischtennis, hat zu Beginn 48 Fenster auf seinem Handy offen (für jedes Kapitel dieses Buches eines!) und will Schriftsteller werden. Er belegt einen Literaturstudiengang in Hildesheim was ihm nicht leicht fällt, da er seinen Freundeskreis aufgeben muss und vor allem seine Freundin Alida Shah, die irgendwann vermisst wird. Kurz wähnt man sich in einer Kriminalgeschichte, aber es geht heiter weiter mit Tobias' Studentenzeit als angehender Literat nebst den üblichen studentischen Verwicklungen, den Positionierungen irgendwo zwischen Butler, Bourdieu und Prosaminiaturen "irgendeines Uwe, Jens oder Holger".

Dabei gelingen komische Szenen einer sich schnell unter den Protagonisten einstellenden Mischung zwischen Betriebsopportunismus und -zynismus. Drei "Lager" entstehen: "Die, die fest davon überzeugt waren, dass es die Aufgabe der Literatur sei, der Welt durch ihre realistische Darstellung die Wirklichkeit vor Augen zu halten; die, die davon überzeugt waren, dass die Welt per se unrealistisch und es deshalb Aufgabe der Literatur sei, die Wirklichkeit qua Sprache in Welt umzuwandeln; und zuletzt jene, die daran verzweifelten, diesen Konflikt auch nur im Ansatz zu verstehen."

Es wird noch lustiger, etwa als der Romanautor Tobias (beachtliches Debut, aber Schreibhemmung für den zweiten Roman) in einer Veranstaltung über Thomas Pynchon den ungeschriebenen Konsens durchbricht und "Die Versteigerung von No. 49" mit großer Emphase unflätig ablehnt: "Und darum hasse ich dieses gottverfluchte Buch, die Vereinigten Staaten, das 21. Jahrhundert und alle Männer, die jemals ihren Schwanz in die eigene Hand nahmen, und sollte hier auch nur einer meiner Meinung widersprechen, können wir uns gerne vor den Toren der geschlossenen Detroiter Fordwerke mit gezogenen Colt 45 treffen, wobei ausdrücklich gesagt sei, dass ich das Bier meine und nicht den Revolver."

Erwartungsgemäß schlägt ihm sofort Abneigung und Häme der meist weiblichen Teilnehmerinnen – unter anderem einer Büchner-Preisträgerin und einer Trägerin der "Ernst-Jünger-Medaille" - inklusive Publikum entgegen. Er weiß, dass dies das Aus in der Szene bedeutet. Und ist dann fertig mit dem Betrieb. Selbst ein Angebot für 60.000 Euro um seine Geschichte als einziger Überlebender eines Flugzeugabsturzes aufzuschreiben (die wagemutig erzählt wird), schlägt er aus, weil er sich an "der Lärmverschmutzung, die der Literaturbetrieb war" nicht beteiligen möchte. Und auch die briefliche Initiative einer ehemaligen Kelag-Preis-Gewinnerin die Stadt Klagenfurt für posttraumatische Störungen von Schriftstellern nach dem Bachmannpreis-Wettbewerb zu verklagen (egal ob Preisgewinner oder nicht), wird von Tobias amüsant gekontert (diese Passage ist wirklich sehr gelungen).

Nach etlichen heterosexuellen Versuchen folgt eine kurzzeitig idyllisch verlaufende schwule Partnerschaft mit einem Tobias (witzig?), der unbedingt ein Kind möchte, aber das will Tobias nicht (oder ist es umgekehrt?). Die Beziehung zerbricht und Tobias startet eine Karriere als Televangelist, analysiert in Videoclips auf Youtube und Twitch Bibelstellen. Er, der nicht an Gott glaubt, erklärt sich "antiklerial und mystiszistisch" bekehrt. Er ist glücklich, verdient viel Geld, hat sechsstellige Followerzahlen. "Über das Gleichnis, in dem Jesus einen Feigenbaum dafür verflucht, dass er keine Früchte trägt, redete er innerhalb eines Monats 232 Stunden." Macht 8 Stunden am Tag.

Das erregt Aufsehen und er darf eine Predigt halten, aber die versemmelt er, denn zum Attentat in Christchurch macht er einige lästerliche und bösartige Bemerkungen über die Opfer. Die Folge ist nicht nur die (erneute) transzendentale, sondern auch die physische Obdachlosigkeit. Tobias zeltet jetzt, auch im Winter. Als letzten Ausweg aus der finanziellen Misere fordert er von den Zuschauern Geld für die Unterhaltung als Zeltender.

Zwischendurch gibt es einige Binnenerzählungen oder -gedichte, mehr oder weniger gelungene Fingerübungen von Tobias. Man ahnt Sarkasmus, aber der ist gut versteckt. Der Kriminalfall wird auch aufgelöst. Alina wurde nämlich, als sie Tobias ihre ausweglose Praktikanten-Situation mit 40 gestand, von diesem in einen Hasen verwandelt. Bedauerlich nur, dass Tobias die Rückführungsformel nicht mehr gelingt. Von Ferne grüßt Freund Harvey.

Später ist Tobias für drei Tage tot und erwacht dann wieder. Er ist unsterblich, aber seine Seele "verwüstet". Ja, hier weht ein frischer Wind, ein Konglomerat aus Satire und Nonsens in Zeitsprüngen und Absurditäten. Eine Karikatur des linken Identitätskults mag man da herauslesen, denn die Hauptfigur wechselt diese so schnell wie manche Fußballvereine ihre Übungsleiter. Eindeutig ein mehr als beachtliches Talent für Dialoge.

Aber so ganz rebellisch ist es dann doch nicht, wie sich am makellosen Gendersprech zeigt. Da gibt es Flugbegleitende, Studierende und Schreibende. Selbst in einer Binnenerzählung, in der Tobias ins 15. Jahrhundert versetzt eine Glocke baut, gibt es, obwohl nur Männer erwähnt werden, "Zusehende". Spätestens hier fragt man ein wenig desillusioniert nach dem Ausgang aus diesem Sprachfolterkeller, aber es ist dann nicht mehr weit.  

"In der Welt ist ein Paradies verborgen", konstatiert Tobias einmal und niemand aus seiner Umgebung glaubt ihm. Die Chance, dass der Leser es entdecken könnte, wird nicht genutzt. In diesem Buch wird es sehr gut verborgen. Es wäre Literatur, es zu entbergen. Nolte dreht lieber Originalitätspirouetten, schlägt Purzelbäume und gibt den Clown. Schade.

Artikel online seit 15.02.21
 

Jakob Nolte
Kurzes Buch über Tobias
Roman
Suhrkamp
231 Seiten
22,00 €
978-3-518-42979-2

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