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Ein opulentes Epos

Martin Mosebachs neuer Roman »Krass« bietet überraschende
Einsichten und überzeugende Perspektivwechsel

Von Lothar Struck
 

Der neue Roman von Martin Mosebach trägt den Titel "Krass". Ist der behutsame Sprachartist jetzt in den Jugendjargon abgedriftet? Nein, man braucht sich keine Sorgen zu machen: "Krass" ist der Name seines Protagonisten, der Hauptfigur des Romans (erst später fragt man sich, ob er wirklich die Hauptfigur ist, aber gemach). Wieder so eine Mosebach'sche Namensschöpfung, die womöglich viel, vielleicht aber auch gar nichts bedeutet (man kann es nicht lassen, Nachforschungen anzustellen). Ralph (ph !) Krass, wie man später erfährt Jahrgang 1935, wird als "furchterregender", massiger, eigenschaftsloser, eher wortkarger Mann beschrieben, der mit einem schier unendlich großen (Bar-)Vermögen und damit entsprechender Aura ausgestattet zu sein scheint. Weitere Protagonisten des Romans: Dr. Matthias Jüngel, Jahrgang 1955, zu Beginn des Romans – man schreibt Oktober 1988 und ist in Neapel – Faktotum von Krass. Sodann das Ärzteehepaar Monsieur und Madame Lecœur-Jouët. Der privat gerne splitternackt herumlaufende stämmige, behaarte Herr Levcius nebst Gefährtin Frau Roslovski. Und der "Cavaliere" Dottore Rizzi mit seiner molligen, Düsseldorfer Akzent sprechenden Begleitung, die der Einfachheit einfach "Frau Rizzi" genannt wird. Jüngel ist nicht nur Arbeitsbiene, Wunscherfüller und Geldkofferträger, sondern auch Übersetzer, der zwischen deutsch, italienisch und französisch umschalten muss. Zu allem Überfluss soll er eine Villa für Krass und seine Frau besorgen. 

Eine fidele Gesellschaft, wie es auf den ersten Blick scheint. Man fühlt sich erinnert an Dieter Glanz, jener (fiktive) Investmentbetrüger, der einst Dieter Wedel zu "Gier" inspirierte – verwirft den Vergleich jedoch sofort wieder. Diese Runde hier ist ganz anders. Und sie wird bald verändert, ergänzt werden. Durch eine gewisse Lidewine Schoonemaker, Tochter eines früh verstorbenen und spät entdeckten Duchamp-Epigonen, des Künstlers Martial Schoonemaker. Sie arbeitet zu Beginn als verdeckte Helferin des Zauberers Harry Renó, der sie für ein spezielles Kunststück scheinbar zufällig aus dem Publikum holt. Als sie das Hotelzimmer, welches sie mit Renó teilt, für einen Spaziergang verlässt, stößt sie eher beiläufig auf die Gruppe. Ralph Krass ist (im Gegensatz zum Erzähler!) entzückt von Lidewines Anblick, die Und da er das, was er mag, kauft, so möchte er auch Lidewine kaufen, als Begleitung, nicht als Liebhaberin. Bedingung ist, dass sie auch nicht Gespielin anderer wird. Es winkt die "grausamste aller Strafen", die Wunscherfüllung in Form kostbarer Kleidungs- und Schmuckstücke und natürlich: Unterhaltung. Die Dame willigt ein und Jüngel geht mir ihr einkaufen, damit sie sich adäquat präsentieren kann. Lidewine "fühlte sich wohl neben diesem schweigsamen Mann [Krass] mit seinem Anziehung und Abstoßung wundersam gemischten Betragen." Manchmal flirtet sie mit Jüngel ein wenig in dem sie ihm für ein, zwei Züge die Zigarette wegnimmt. Über Faxe, die Jüngel an seine Frau Hella schickt, erfährt der Leser mehr über die Ereignisse als der allwissende, aber bisweilen diskrete Erzähler (er muss es sein, um nicht alles sofort zu verraten) bereit ist, zu enthüllen.

Jüngel ist angezogen und zugleich überfordert, ständig in Sorge, den Anforderungen seines Herren (die dieser nie in dezidierten Befehlen äußert), zu genügen. Krass' Formel ist das "Ich habe keine Zeit", mit dem er nicht nur seinen Assistenten mehr als einmal im Unklaren lässt. Die Krass-Gesellschaft raucht, trinkt, "schmaust" (die Essenzeiten gehen praktisch ineinander über), macht Ausflüge (nach Capri) und pflegt dabei (eher mäßig intelligente) Konversation (z. B. über Hermès-Taschen). Man entspannt sich, gibt Krass' Geld aus, ja: man verschwendet es. Nur einmal stören drei ägyptische Herren, denen sich Krass geschäftlich bezüglich eines Panzergeschäftes widmen muss und die – Gerüchte? – drohen, eine Lieferung warum auch immer nicht zu bezahlen.

Die heitere Idylle hält aus einem anderen Grund nicht lange. An einem Abend entdeckt Jüngel, wie Lidewine einen Kellner in ihrem Hotelzimmer empfängt und dieser es erst ein paar Stunden später wieder verlässt. Pflichtschuldigst meldet er diesen Kontraktverstoß (Lidewine leugnet nichts) und der honorige Geschäftsmann reagiert erwartungsgemäß – die Strafe erfolgt als "Naturgewalt": die Dame wird verstoßen. Die Kleider kann sie behalten, das unlängst erworbene Perlencollier nicht. (Damals trug man noch Perlencolliers?)

Der erste Teil ("Allegro imbarazzante") endet, der zweite ("Andante pensieroso") beginnt. Man ist elf Monate weiter und jetzt erzählt Jüngel in sein Tagebuch hinein. Er sieht sich als "schiffbrüchiger Passagier, der aus dem Strudel des Untergangs eine kleine, verlassene Insel schwimmend erreicht hat". Die Stellung bei Krass hat er (warum bleibt unklar) verloren und seine Frau hat ihn verlassen. Letzteres will er nicht so recht wahrhaben. Er ist in der Nähe von Châteauroux untergekommen, in einem heruntergekommenen Landhaus eines Bekannten, fern von jeder Zivilisation, ohne Geld, auf sich alleine gestellt. Selbst die CD-Anlage funktioniert nicht. Er rekapituliert seine Anstellung, den Rauswurf, die Versuche, Krass zu kontaktieren, erinnert sich an amüsante wie surreale Treffen mit Krass' Frau. An den Daten der Eintragungen erkennt man: gerade wird Weltgeschichte geschrieben, die Mauer fällt, der Kommunismus bricht zusammen aber Dr. Jüngel bekommt davon nichts mit. Er geht zum Klosterschuster Desfosses, lässt sich seine Schuhe aufbereiten (welch eine Lobpreisung des Schusterhandwerks!) und versucht entgegen jeder Vernunft, seine Frau noch einmal telephonisch zu erreichen.

Endlich kommt er zur Ruhe, widmet sich der Gegenwart, wagt mit Desfosses, einem "Heiligen der Verborgenheit", einen Sonntagsausflug, unter anderem nach Yzeures-sur-Creuse. Dort erzählt er Jüngel bei einem exzellenten Hasenbraten aus seinem Leben und offenbart ihm seine reaktionäre Gesinnung (er verehrt Pétain). Beide besuchen mit Desfosses' klapprigen Automobil weitere Dörfer und deren verborgene Cafés. Schließlich endet die malerisch erzählte Reise im Straßengraben, weil es doch einige Schnäpse zuviel gab und Desfosses im Dunkel der eingebrochenen Nacht noch weniger sieht als sonst.

Jüngel scheint am Ende gefestigt, aber dann gibt es den nächsten Zeitsprung ("Marcia funebre"), 20 Jahre weiter und der allwissende Erzähler übernimmt wieder das Regiment. Der Leser, der sich die Spannung an den Fortgang der Ereignisse erhalten möchte, sollte die nächsten beiden Kapitel überspringen, da einiges verraten werden muss.

Es ist Herbst 2008 und Ralph Krass ist in Kairo, residiert wie gehabt in einem luxuriösen Hotel. Der Unterschied zu 1988: Er hat weder seine Entourage dabei noch Geld; Letzteres ist ein besonderes Übel. Ein Geschäft mit einem ägyptischen General scheint sich endgültig zerschlagen zu haben. Krass torkelt immer noch leidlich selbstbewusst aber verschwitzt und mittellos durch die Straßen von Kairo, sucht Zuflucht in einer Moschee, lernt dort Mohammed kennen, einen jungen Anwalt, der ihn flugs als "Vater" adoptiert und bei sich zu Hause aufnimmt, da das Hotel auf sofortiger Bezahlung der ausstehenden Rechnung besteht. Krass zeigt sich, was den finanziellen Absturz angeht, überraschend flexibel und genügsam; der Duft aus seinem Koffer, den ihm der Anwalt beschafft, genügt ihm als Referenz zur ruhmreichen Vergangenheit – und zur womöglich noch ruhmreicheren Zukunft. Zur gleichen Zeit kommt Dr. Jüngel nach Kairo, in universitärem Auftrag als Professor. Die Szenerie, die Mosebach in Kairo inszeniert, wird noch durch das Auftauchen der inzwischen zur Galeristin gewordenen Lidewine ausgeweitet. Beide wissen nicht, dass Krass in Kairo ist und selbst als Lidewine mit Mohammed eine Liaison eingeht (nachdem sie es vorher mit Jüngel versucht hatte), bleibt für sie lange unklar, wer Mohammeds "Vater" ist, den er inzwischen in einem Krankenhaus nach einem Herzinfarkt versorgen muss.

Es hilft nichts mehr. Als Jüngel und Lidewine von Krass' Anwesenheit erfahren und ihn im Krankenhaus besuchen wollen, ist er gestorben. Die Sterbeszene von Krass, sein Hineindämmern in "kosmische Bildwelten" und Kaskaden von Wasser und Licht, ist Mosebachs Meisterstück. Nahezu jedem anderen Autor würde dies in Kitsch (oder, fast noch schlimmer, in Pathos) abgleiten. Aber Mosebach nicht. Die Szene ist brillant, weil sie für den Leser doppelten Trost beinhaltet. Zum einen ist der sicherlich üble Geschäftsmann nicht mehr in der Lage, weiter sein Unwesen zu betreiben (und die Pläne, an das bisher verschollene Vermögen der Familie Marcos zu kommen sich zerschlagen werden). Und zum anderen drohen ihm trotz seiner Taten scheinbar keine Höllenqualen. Es gibt wohl wenige Schriftsteller, die den Tod derart als eine Form von Verheißung arrangieren können.

Krass, nach außen ein "wohlhabender, international agierender Geschäftsmann", verkörpert den klassischen Selfmademan, der in den Wirtschaftswunderjahren nach dem Krieg reüssieren konnte. Je skrupelloser, desto erfolgreicher; womöglich laborierten einige noch an den Spätfolgen der Nazi-Indoktrination, die hier nicht abschreckend wirkte. Es sei egal, mit was man Geschäfte betreibe, so lautet eines der Leitmotive. Entscheidend sei das Ergebnis, nicht der Weg. Damals war dies auch politisch mehrheitsfähig. Das Herausstechende bei ihm – neben seiner "splendiden Einsamkeit": Die Unnachgiebigkeit, die Kälte, sein "unerbittlicher Ton", seine Verschwendungssucht, die von einem Assistenten ausgeführt wird, weil er selber kein Geld anfassen möchte. "Ich kaufe…"– das ist Krass' Maxime, ob es sich um Gegenstände oder Menschen, wie Spezialisten oder Frauen handelt. Es ist das Credo neureicher Aufsteiger, die mit ihren immensen Vermögen einst bewundert, später respektiert aber im Laufe der Jahrzehnte immer weniger geachtet wurden. Ende der 1980er waren Opulenzen wie Krass fast schon aus der Zeit gefallen. Mosebach setzt den im Hintergrund scheinbar statischen, aber stets präsenten Vesuv als Allegorie für Fragilität und Drohung eines jederzeit möglichen Untergangs.

Nur einmal wird die intellektuell bescheidene, aber ökonomisch leverkühnhafte Figur Ralph Krass vorgeführt. Als der junge ägyptische Anwalt den Propheten Mohammed, Karl Marx und Adolf Hitler als die "drei größten Männer der Geschichte" bezeichnet, protestiert Krass. Bei Hitler könne er nicht zustimmen, er habe ihn enttäuscht, so Krass, als der Termin seiner Vereidigung zum Hitlerjungen am 12. April (1945 dürfte gemeint sein) ausfiel, weil aufgrund der vorrückenden russischen Truppen und der flüchtenden Bevölkerung niemand mehr da war. Eine Stelle, die einem kalte Schauer über den Rücken jagen.

Jüngels Emanzipation gelingt nur im vollkommenen (System-)Bruch, der freilich von außen erzwungen wird. Als es ihm nach seiner Entlassung noch einmal gelingt mit Krass zu sprechen, gibt dieser ihm in den vier Minuten, die er ihm zugesteht, etwas Wertvolleres als Geld, nämlich einen kostbaren Rat: "Versuchen Sie, alleine durchzukommen – ohne Kredit, ganz allein. […] Vertrauen Sie sich selbst! Sie müssen Selbstvertrauen erwerben […] Mein ganz großer Erfolg beruht auf meinem Selbstvertrauen." Ein zunächst zynisch anmutender Vorschlag. Aber etwas, was Krass bis zum Exzess selber praktizierte. Und etwas, was heute noch gilt. Beispielsweise für die gesamte Influencer-Schickeria.

Mosebach erzählt changierend zwischen Märchenton und Thomas Mann. Zwischenzeitlich möchte man nicht, dass es aufhört. Die Krass'sche Entourage ist zwar alles andere als eine Ansammlung harmloser Geschäftsleute, aber es geht um die Darstellung der Exotik solcher Figuren, die mit feinem Spott in ihrer "feierlichen Servilität" gezeigt werden. Seziert Mosebach hier in einem Mikrokosmos die Differenzen von Ober- und Mittelschicht? Macht er sich darüber lustig? Wie auch immer: Das Krass-Gefolge bleibt eher schablonenhaft. Mit Ausnahme von Lidewine, die im letzten Kapitel noch einmal prominent wird. Sie behält ihre dezente Geheimnishaftigkeit, ist eine Frau, die sich "die letzte Hingabe verboten" hatte. 

Aber mit dem Zeitsprung in das Jahr 2008 zerfasert der Roman, wird plotgetrieben, driftet (mit Ausnahme der Sterbeszene) in eine Boulevardkomödie ab. Man bleibt dabei, weil man wissen möchte, wie es weitergeht, aber die Konstruktion des Romans mit den Protagonisten in Kairo funktioniert nicht mehr. Mosebach will etwas beweisen, ein Finale furioso inszenieren. Aber warum eigentlich?

So legt man das Buch aus der Hand und hat rasch Ralph Krass' Großmannssucht vergessen. Was bleibt sind die Momente der Zusammenkunft mit dem alten Schuster und die Gedanken beim Betreten der Abteikirche: "Das Alte kann nicht mehr altmodisch werden, das Alte hat das Warten gelernt. Unablässig sinkt das Modische vor ihm dahin – obwohl es doch Ausdruck des Lebens ist. Als ob die wirkliche Probe der Dauer nur bestehen könnte, was vorher gründlich stirbt."

Artikel online seit 03.03.21
 

Martin Mosebach
Krass
Roman
Rowohlt
528 Seiten
25,00 €
978-3-498-04541-8

Leseprobe

 

 


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