Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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»Wirres Herumdenken«

Monika Marons zeitgeistkritischer Roman
»Artur Lanz«

Von Gregor Keuschnig

"Er war vielleicht fünfzig Jahre alt, von schmaler Gestalt, mit blondem, leicht ergrautem Haar, das in kurzen Locken wirr um seinen Kopf stand, als würde er es ständig mit den Händen durchfahren." So beschreibt die Ich-Erzählerin Charlotte Winter in Monika Marons neuestem Roman die Titelfigur Artur Lanz. Sie sieht ihn vor dem Supermarkt, dort, wo auch Obdachlose zusammenkommen. Winter sucht ein Gespräch mit einem verzagten Mann, der die Streuner fast bewundert: "Die haben es doch gut, die haben es hinter sich…Die stellen keine Fragen mehr, die brauchen keine Antworten mehr. Alle Fragen heißen nur noch Schnaps und Bier und alle Antworten auch, bis es endgültig vorbei ist."

Es dauert Monate, bis sie ihn wiedertrifft und vom "Drama" erfährt, dass "in der Männerseele von Artur Lanz tobte".  Sein Einsatz zur Rettung seines Hundes aus einem Rapsfeld beglückte und veränderte Artur Lanz' Sicht auf das Dasein derart, dass er alles hinter sich ließ, was sein Leben bisher strukturierte. "Ein tiefes Glück" stellte sich ein, und sein Körper empfand einen "süßen Schmerz." Es ist einer der Schwachpunkte des Romans: Die Euphorie Arturs teilt sich dem Leser nicht mit. Man denkt unwillkürlich an den großartigen Dag Solstad und eine seiner Hauptfiguren, die ihr Leben ändert, weil sie einen Regenschirm nicht öffnen kann. 

Hier bleibt das Ereignis Behauptung und die Folgen scheinen eher absurd: Artur Lanz ließ sich scheiden, mietete sich eine neue Wohnung, wurde herzkrank, und stürzte sich in ein "wirres Herumdenken". Seine Arbeit als Physiker verrichtet er ohne Enthusiasmus als Broterwerb. Und er erzählt Winter von seinem Vater, den Eltern, der ehrgeizigen Mutter, seiner Kindheit, von der Hypothek, die er durch den Namen bekam, den ihm die Mutter gab: Artur – der Held der Artussage. Welche Verpflichtung. Aber, auch hier ernsthaft gefragt, sind zum Beispiel alle Felixe derart prädisponiert, wenn sie herausgefunden haben, nicht permanent glücklich sein zu können?

Man liest weiter. Beide, die Ich-Erzählerin und auch Artur, konzentrieren sich auf je verschiedenen Wegen um und über die Artussaga. Charlotte Winter, die man mit den üblichen Vorbehalten als das Alter Ego Monika Marons sehen könnte, glaubt, eine ertragreiche Figur für eine Erzählung kennengelernt zu haben. Artur glaubt, menschliches Verständnis zu finden. Aber er hat nichts Heldisches an sich. Und auch nichts Außergewöhnliches. Wie nebenbei rekapituliert Winter nach dem ersten Kennenlernen, das "das Geheimnis, das ich dem verlorenen Mann auf der Parkbank angedichtet hatte" verloren war. "Artur Lanz war ein gewöhnlicher, liebenswürdiger, zaghafter, an sich selbst leidender, widerstandsloser Mann geworden."  Und nun?

Arturs Vorname dient als Folie für die herausfordernde Frage, warum so etwas wie Heldentum und mit ihm der Held (oder die Heldin) eigentlich derart aus der Mode gekommen ist. Erster Anlaufpunkt für die Erörterung der Problematik ist eine Art Salon, zu dem die Erzählerin bei Adam, einem emeritierten Professor, ab und an eingeladen wird. Adam ist sich des Glückes seiner gerade noch "richtigen" Generation bewusst: "Ich gehöre zum Feindbild. Professor, eine zwanzig Jahre jüngere Frau, Gegner der Gendersprache, nicht schwul, bi, queer oder sonstiges, also stockkonservativ. Ich bin gerade noch so durchgekommen." Die Vorstellung der Gesellschaft erzeugt dennoch ein leises Gruseln: "Das Ehepaar Müller-Hermsdorf, er ein ehemaliger, inzwischen auch emeritierter Kollege von Adam, seine Frau Psychologin, Wolf und Ulrike Zeisig, beide Künstler, Penelope Niemann, ehemalige Hamburger Kultursenatorin, und Eva, Adams zweite Frau, die zwanzig Jahre jünger war als er und eigentlich Gudrun hieß."

Winter versucht die Vor- oder Nachteile des "postheroischen" Zeitalters zu erörtern und erntet das erwartete Kopfschütteln nebst "defätistischer Bemerkungen" vor allem der Frauen, auf die zu antworten sinnlos war. "Die Männer", so Charlotte Winter, "fragten wenigstens". Immerhin, so stellt man irgendwann fest, nennt sich ein Pizzaservice heutzutage noch "Lieferheld". Für sich selber bilanziert Winter, dass "postheroisch nur ein Synonym für feige war, wie das Wort Mut in dem Wort Zivilcourage untergegangen war" und ein Indiz für den unterschwelligen Wunsch nach Untergang sein könnte.

Eigentlich war es ein Rätsel, warum Charlotte Winter immer wieder eingeladen wird, denn mit einem  Bekennertum à la "Wir sind die Antikriegs-, Antiatom-, Antikolonial-, die antifaschistische Generation…" hat sie rein gar nichts zu schaffen. Unergiebige Streits sind vorprogrammiert: "Fast immer, wenn er mich einlud, fand ich mich in einer Gesellschaft, der ich lieber ferngeblieben wäre." Immerhin sind die Beschreibungen dieser Zusammenkünfte nebst dem leidvollen Umgang der sich progressiv gebenden Teilnehmer (vor allem der Teilnehmerinnen) kleine Perlen dieses Romans (und damit auch irgendwie Perlen im sozialen Leben der Erzählerin).

Als Pendant zu dieser Gesellschaft trifft sie sich einmal im Monat in einer der letzten Bars, in denen man noch rauchen darf, mit ihrer ältesten Freundin "Lady", wie Winter sozialisiert in der DDR, ausgestattet mit einer gehörigen Portion deftig-realitätsgesättigten Urteilvermögens. Da lebt die Erzählerin richtig auf.

Der Roman bleibt arg bemüht wenn es um die Konstruktion des Heldentums aus der Artussaga und deren Transformation, oder, besser: Unmöglichkeit einer Transformation in die Gegenwart geht. Die Schilderungen der weiteren Treffen mit Artur Lanz (übrigens ohne jegliche erotische Konnotationen) tragen nicht dazu bei, die Faszination für diese Person zu steigern. Selbst die Schilderung einer außerehelichen Affäre Lanz' und den hieraus resultierenden stillen Demütigungen seiner damaligen Ehefrau macht es nur kurz besser. Winter scheint zwischenzeitlich das Schreibprojekt aufgrund der Blässe der Figur aufgegeben zu haben (am Ende dann doch nicht – das Produkt hält man, so wird mindestens suggeriert, gerade in Händen).

Erst als Artur von seinem Arbeitskollegen Gerald erzählt, kommt der Roman wieder in Fahrt. Beide arbeiten an einem Institut, welches sich unter anderem mit Beschichtungen für Windkraftanlagen beschäftigt, die Tiere von den für sie meist tödlichen Rotorblättern fernhalten soll. Dieser Gerald, der vorsorglich keine Institutsmitglieder auf Facebook zu seinen Freunden genommen hat, schreibt dort von einem "Grünen Reich", das aufgrund von für ihn übertriebenen Szenarien bezüglich der Folgen des Klimawandels drohe. Eine Mitarbeiterin, die sich anonym als Freundin Zugang zu den nur Freunden zugängigen Postings Geralds verschafft hat, thematisiert dies als unvereinbar mit den Werten des Instituts. Es gibt eine Anhörung, bei der Gerald auf das Recht der freien Meinungsäußerung als Privatperson pocht. Die Institutsleitung sieht die Werte des Unternehmens konterkariert. Gerald ist jedoch nicht domestizierbar; im Gegenteil. Seine Formulierung postet er nun öffentlich – in deutsch und englisch. Danach bricht er zu einem Urlaub nach Thüringen auf.

Als der "Vizechef der Rechten Partei" (der Name "AfD" fällt nicht), die Formulierung vom "Grünen Reich" aufnimmt, bekommt die Empörung im Institut eine neue Dimension. Subtil versucht Winter abermals, Artur zur Verteidigung seines Kollegen zu animieren. Dies obwohl er Geralds Zweifel und Befürchtungen nicht teilt. Aber "[K]ann man jemanden nur verteidigen, wenn er recht hat? Ist es nicht auch ein Recht, unrecht zu haben?" Artur versteht die Anspielungen nicht. Währenddessen erinnert sich Winter an eine Situation in der DDR, als das Spielen einer Schallplatte von Wolf Biermann auf einem Studentenfest zu einem Tribunal geführt hatte, bis "Lady" gegen die drohende Exmatrikulation für die Biermann-Auflegerin "das Schwert gezogen und gegen das Denunziantentum" erfolgreich "geschwungen" hatte. Es wurde nur eine Verwarnung ausgesprochen.

Die Schilderung des Scherbengerichts der Institutssitzung ist der Höhepunkt des Buches. Die bisweilen komischen Abläufe und das Resultat sollen hier nicht vorweg genommen werden. Nur so viel: Maron gelingt es, die politkorrekten Anklageellipsen, die inzwischen leidlich aus sogenannten "Feuilletondebatten" bekannt sind, präzise und unterhaltsam zu schildern und auf das Umfeld der Protagonisten zu projizieren. Und die vorherigen Überlegungen zum Heroismus in einer Wohlstandsgesellschaft bekommen eine weitere Dimension. Kleiner Wermutstropfen: Leider mutiert "Lady" am Ende zur Spengler-Jüngerin.

Ja, es schimmert eine Menge von Monika Marons Zeitgeistkritik in diesem Roman durch, die bisweilen fast essayistisch daherkommt. Die Empörungspalette reicht vom Gendersternchen über das sich stetig ausweitende Rauchverbot, die Rücksichtslosigkeit von Joggern bis zu "junge[n] Männer[n], die sich ihr Brusthaar […] mit heißen Wachsstreifen" epilieren und "denen man ihre Wildheit schon in der Kindheit mit Ritalin ausgetrieben oder in liebevollen Gesprächen verleidet hatte, die vielleicht selbst schon glaubten, für das Böse in der Welt seien nur die Männer verantwortlich gewesen". Auch die Begeisterung  erwachsener Menschen für Fantasy-Filme gefällt ihr nicht. Für sie sind dies Symptome eines "degenerierten Bewusstseinszustand[s]". Wie so oft beklagt sie die mangelnde Freiheitsliebe der Deutschen und geisselt die Degeneriertheit und Unbildung der einstigen DDR-Regierenden. Das alles liest man durchaus gerne, weil es nicht verbissen vorgebracht und listig in die Handlung integriert wird. Und für eine Stehparty mit provokativem Smalltalk durchaus fürs erste genügend Material liefern dürfte.   

Obwohl konventionell erzählt und die Titelfigur nicht besonders charismatisch daherkommt, gelingt es Maron, den Leser neugierig zu halten. Die vielleicht schönste Stelle ist allerdings die Erzählung eines Herbststurm-Wochenendes im November, als sich Charlotte Winter ausschließlich mit Fontanes "Stechlin" einlässt; losgelöst von allen tagesaktuellen Nachrichten und Ablenkungen. Eine Reise in das schier unendliche Land der Literatur. Jeder denkende Mensch weiß, wie nötig so etwas bisweilen ist. Aber ob sich wohl in einhundert Jahren irgendjemand mit Monika Marons "Artur Lanz" derart intensiv beschäftigen und auf die dann ferne Zeit des Postheroismus mit jener Mischung aus Wehmut und Trotz zurückblicken wird wie weiland die Erzählerin auf Fontane?

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Artikel online seit 27.08.20
 

Monika Maron
Artur Lanz
S. Fischer
224 Seiten
24,00 €
978-3-10-397405-8

 

 


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