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Prunk, Mode und Singularisierung

»Individualismus ist heutzutage in.« (HR 3-Moderator)

Von Peter Kern

Wer dem Freilichtmuseum namens Autostadt einmal einen Besuch abgestattet hat, versteht, um was es in Reckwitz‘ Buch geht: Jede der zum VW-Konzern gehörigen Marken bekommt in einem für sie passenden Ambiente ihren Auftritt. Bugatti, Lamborghini, Porsche, Ducati stehen in an Guggenheim-Museen erinnernden Showrooms, jeder anders, jeder besonders. Der Besucher wandert durch einen Park von einem Pavillon zum nächsten. Man durchwandelt einen im Halbrund nach unten führenden, matt beleuchteten Gang, dessen Wänden mit vergilbten Fotografien eine Geschichte erzählen, dann steht man plötzlich vor dem auf einem Podest stehenden, ausgeleuchteten Original: Eine Wandlung, eine Transsubstantiation, hat stattgefunden; was eben noch Foto war, ist wirklich geworden. Der Bugatti lässt an das Batmobil denken.

Den Besuch bei Guggenheims in Wolfsburg kann buchen, wer seinen neuen Golf direkt vor Ort abholen will. Der neue Wagen lässt sich zunächst aus der Ferne bewundern; noch ist er in einem hohen, gläsernen Turmpalast geparkt, sticht mit seiner Farbe aus den andersfarbigen heraus. Später wird man ihn im Basement des Turms in Empfang nehmen; es findet ein Enrollment statt, dann eine Einweisung in all die schönen, in dem Automobil verborgenen Dinge. Den Erwerb des Golfs einen Kauf zu nennen, wäre schnöde. Der Kunde bekommt ein Event geboten; für 360,- Euro ist das Erlebnis zu haben; Kaufen kostet Geld; die Eintrittskarte für die Autostadt ist inklusive. Auch eine Erlebnisabholung de Luxe ist möglich; dann verwöhnt das Ritz Charlton Wolfsburg in der Superior Class.

Gehören die in den hinter der Autostadt gelegenen aus den 30er Jahren stammenden Backstein-Gebäuden Werkelnden zur Superior Class? Sie können sich die Zugehörigkeit für anderthalb Tage kaufen, inklusive Sektfrühstück, oder den Golf de Luxe, oder gar den Tuareg, und dann schauen sie von einem Thron auf die anderen herab. 

Reckwitz nennt seinen Gegenstand Singularisierung. Was einmal Massenprodukt war, erscheint nun mit der Anmutung des Besonderen. Der Kunde kann wählen, kann sich sein Automobil gleichsam kombinieren. Will er zusätzlich Schalensitze, die neue Trendfarbe, das ganze oder nur das halbe Entertainement-Paket? Der Kunde kauft und ist dabei kreativ. Er will kein Fortbewegungsmittel haben, sondern ein Statement setzen. Er drückt sich aus, er drückt seine Individualität aus. Reckwitz spricht nicht von Individualisierung, sondern von Singularisierung, weil er beides im Blick hat, die Individuen und ihre Dingwelt.

Singularisierung kennzeichnet die zu konsumierenden Dinge wie auch die Produzenten dieser Dinge. Letztere erleiden ihre Singularisierung. Wieso erleiden, tut da was weh? Ständig performen zu müssen, ist anstrengend, sich diese Anstrengung nicht ansehen zu lassen, ist noch anstrengender. Man muss kerngesund sein, um sich in den Projektteams zu behaupten und fürs nächste Projekt zu empfehlen. Man schrubbt als Teammitglied keine acht Stunden runter, beschäftigt mit identischen Handgriffen, sondern ist gehetzt von Meeting zu Meeting, und muss ständig neue Powerpoint-Charts den Emissären des Vorstands präsentieren, der Fortschritt bei der neuen Produktreihe sehen will. Aber zum Entwickeln kommt das Team nicht, weil es ja ständig reporten muss.  

Reckwitz beschreibt diese verkehrte Ding- und Menschenwelt; er findet schillernde Ausdrücke dafür: creative economy, Kulturkapitalismus. Er klopft seinen Gegenstand nicht über einen Leisten. Im Hintergrund der singularisierten Güter sei die klassische Moderne noch am Werk, die Industrieproduktion. Der Autor vermeidet es, von Kapitalismus zu reden. Was einmal Spätkapitalismus hieß, heißt bei ihm Spätmoderne.

Nun will auch der Kapitalismus der Spätmoderne sein Skalengeschäft realisieren, will möglichst viele Stückzahlen mit möglichst vielen identischen Bauteilen verkaufen. Wenn jede Ware wirklich einzigartig wäre, gäbe es keine Warenproduktion mehr, wir wären wieder beim Handwerk angelangt. Der Kunde darf seine Features aus vorgefertigten Legobausteinen auswählen. VW produziert seine verschiedenen Marken auf identischen Plattformen. Die Bodengruppe, also Motor und Antriebsstrang, ist identisch, darauf kommen zur Differenzierung die Karosserie-Gehäuse von VW, von SEAT, oder von Skoda. Für das Sahnehäubchen an Besonderung sorgt dann der Konsument selbst.

Die Gesellschaft der Singularitäten, gefällt sie dem Autor, oder gefällt sie ihm nicht? Was für eine Frage an einen heutigen Soziologen. Reckwitz macht schon im Vorwort seines Buchs klar, worum es ihm nicht geht: Über seinen Gegenstand zu urteilen. Er ist Sozialwissenschaftler, er beschreibt, was er sieht. Was er sieht, zu beurteilen, gar zu verurteilen, liegt ihm fern. Er nennt das „Entlarven“ und glaubt, die im Grand-Hotel Abgrund Versammelten hätten ein solch unwissenschaftliches Geschäft betrieben. Reckwitz verwendet die dumme Lukács-Sottise, um seine traditionelle Theorie von einer kritischen abzusetzen. Sein Buch spricht auf jeder Seite aus, wovon es nicht sprechen will: von Warenästhetik und von den um ihre Subjektivität betrogenen Individuen.

Dennoch ist das Buch lesenswert. Man kann es lesen, wie die Kritische Theorie einmal Autoren rezipierten, die die Betriebsgeheimnisse der bürgerlichen Gesellschaft ausplauderten, der sie gleichwohl die Folgebereitschaft nicht aufkündigten.

Um das Buch mit Gewinn zu lesen, muss man es entschlacken. Reckwitz holt das ganz große Besteck raus. Seine Spätmoderne unterscheide sich von der klassischen Modernen wie das in den Kantschen Kritiken gefasste Besondere vom Allgemeinen. Mit der Moderne sei das Übergreifende zur Herrschaft gelangt, das nun, im Zeitalter der Singularität, von der Herrschaft des Besonderen abgelöst würde. Philosophie, Ontologie sollen der Soziologie Prunkstücke liefern. Aber es ist Talmi, falscher Prunk, den der Autor anbietet. Mit dem ausgehenden Mittelalter kam der Nominalismus in die Welt, und die Universalien der scholastischen Philosophie hatten ausgedient. In der Philosophiegeschichte hat bekanntlich der Positivismus über die Transzendental- und die Hegelsche Philosophie triumphiert, nicht umgekehrt.

Das Buch weist viele solcher ärgerlichen Stellen auf. Sie gehen auf Imponiergehabe zurück und auf die unkritische Stellung des Gedankens zur Wirklichkeit. Auf den Gedanken, dass es in der heutigen, von Naturwissenschaftlern geleisteten Projektarbeit – der subjektiven Seite der Singularisierung - nicht auf messbare Leistung ankäme, auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Das Leid der dort arbeitenden Angestellten rührt von den engen zeitlichen Vorgaben her. Eine Software zu schreiben, einen Versuch durchzuführen, die Empirie des Versuchs auszuwerten, den nächsten Projektfortschritt zu präsentieren, all dies ist mit engen Vorgaben versehen. Die Datentechniker, die Ingenieure leiden nicht an zu viel, sondern an zu wenig Arbeitsteilung. Jeder soll alles können; noch eine Marketingstrategie für die neu entwickelte Werkzeugmaschine soll der Maschinenbauer präsentieren. Die arbeitssoziologische Empirie, die diese Realität erfasst, gibt es, aber sie schafft es nicht in den Suhrkamp-Verlag, der ja mit der jeweils neuesten Gesellschaft-der aufwarten muss. Der Fluch des ewig Neuen ereilt alles und jeden.

Die Gesellschaft der Singularitäten ist eine postindustrielle Gesellschaft, schreibt der Autor. Eine Theorie erweist sich nicht als wahr, weil sie immer wieder neu präsentiert wird. Was als Dienstleistungsgesellschaft - der ewige Verkaufsschlager - ausgegeben wird, ist die avancierte Form einer auf Naturwissenschaft basierenden Industrie, deren Produktionsprozesse in ganz großem Maß präformiert sind von den Forschungslabors und den Entwicklungsabteilungen der Konzerne. Was unten, in den Werkshallen zusammengefügt wird, ist oben bis ins Detail ausgedacht worden. Was in den Büros erforscht, entwickelt, konstruiert und mit Steuerungs-Software versehen wird, ist dem industriellen Fertigungsprozess zugehörig; stattdessen von Dienstleistung zu reden, die postindustrielle Gesellschaft zu propagieren, ist (soviel Entlarvung sei erlaubt) Ideologie.

Ein Autor, der es mit seiner Soziologie nicht bis zu Suhrkamps geschafft hat, Lothar Hack, hat dies, gestützt auf empirische Studien über die Siemens AG, den größten deutschen DAX-Konzern, überzeugend dargelegt.

Reckwitz, der wie der Teufel das Weihwasser Begriffe fürchtet, die ihn nur in die Nähe Kritischer Theorie führen könnten, übernimmt völlig unkritisch das Labeling des Postindustrialismus: Wertewandel, Postmaterialismus. Wie es mit den postmaterialistischen Werten in der von dem Virus verursachten Rezession bestellt ist, kann man den aktuellen Ratschlägen auf den Beruf & Chance-Seiten der Tageszeitungen ablesen. Wer nach der Uni einen Job haben will, sollte tunlichst nicht nach Sabbatical und garantierter Work-Life-Balance fragen. Eine neue Bescheidenheit habe sich breitgemacht. Die vom Fachkräftemangel verursachte Unwucht zugunsten der Arbeit Suchenden, ist wieder ausgewuchtet.

Das Buch ist vor vier Jahren geschrieben. Eine Beobachtung kann ihre Wahrheit nicht verlieren, indem sie aufgeschrieben wird; Hegel hat der Sinnlichen Gewissheit, die sich auf den Augenschein verlässt, ihre partielle Unwahrheit vorgeführt. Der Autor, um seine Theorie der creative economy zu beweisen, führt den Beweis mit folgenden Geschäftsbereichen: Mode, Sport, Tourismus, Architektur, Werbung, Kunsthandwerk, Musik-, Film- Video-Industrie, Gastronomie und Computerspiele. Die meisten dieser Branchen liegen gegenwärtig brach. Wären sie tatsächlich das Rückgrat der deutschen Ökonomie, wie vom Autor behauptet, die bundesdeutsche Gesellschaft hätte das abgelaufene Jahr nicht überstanden. Dass es Klopapier einmal als limited editon gab, dafür konnte sie sich nichts kaufen, als der Artikel ausverkauft war. 

Das Rückgrat der deutschen Industrie lässt sich mit drei konzentrischen Kreisen beschreiben: Exportorientierung, Industrieorientierung, dominierende Autoindustrie. Diese Welt ist das profane Gegenstück zur Sakraltheorie von der Singularisierung. Bei Reckwitz agiert diese Welt bloß im Hintergrund, und sie hat keine Formbestimmung, ist nicht vom prozessierenden Wert geprägt. Auf der Vorderbühne tummeln sich die nach Aura buhlenden Waren. Reckwitz erwähnt Benjamin, aber natürlich nur en passant, als Vorläufer einer von ihm vollendeten Theorie der Gesellschaft.

Von Benjamin stammt das Zitat: „Die Herrschenden wollen ihre Position festhalten mit Blut (Polizei), mit List (Mode), mit Zauber (Prunk).“ Ein solches Zitat der Entlarvung, ein solches dem 20. Jahrhundert entstammendes Zitat, hat in einer dernière cri-Soziologie natürlich keinen Platz. Wenn die von Covid 19 eingefrorene Ökonomie wieder auftaut, wird es wieder Mode und Prunk im Übermaß geben. Die Polizei wird Blut nur in wenigen, unpolitischen Ausnahmefällen vergießen. Die Herrschenden bleiben weiterhin unsichtbar.

Artikel online seit 14.01.21
 

Andreas Reckwitz
Die Gesellschaft der Singularitäten
Suhrkamp
480 Seiten
20,- Euro
978-3-518-58742-3

Leseprobe

 

 


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