Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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»Wer liest, macht sich auf den Weg ins Irgendwo«

Ein unterhaltsames und lehrreiches Gespräch zweier Grenzgänger
zur Beziehung von Literatur und Philosophie


Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

Als 16-Jähriger las ich Jean-Paul Sartres „Das Sein und das Nichts“, das ich mir damals von meinem Taschengeld gekauft hatte. Im Haus meiner Eltern gab es nicht viele Bücher, so dass ich gezwungen war, mir meine Literatur selbst zu besorgen. „Versuch einer phänomenologischen Ontologie“, wie es im Untertitel hieß, klang mysteriös genug, um mein Interesse zu wecken. Leider verstand ich kein einziges Wort, las dennoch weiter bis zum Schluss und überließ mich während der Lektüre gänzlich dem Schwindelgefühl, in das Sartre mich nicht zuletzt durch die berühmt gewordene Kellner-Szene versetzte. Als ich das schwarz-rote Rowohlt-Buch mit den knapp 1200 Seiten ausgelesen hatte, flirrten die Buchstaben nur noch so um mich herum und ich verspürte einen kaum definierbaren Schmerz – ganz so als wäre ich gerade von einer geliebten Person verlassen worden. Verstehen wollte ich, begriff jedoch überhaupt nicht, um was es eigentlich ging. Es scheint mir im Nachhinein kaum übertrieben zu sagen, dass diese Leseerfahrung traumatisch war: Es existierte eine Welt des Geistes, die mir völlig verschlossen schien.

In „Humor und Gnade“ berichtet Marcus Steinweg nun von einer ähnlichen Leseerfahrung: Im Alter von 12, 13 Jahren las er aus einer Langeweile heraus die Klassiker der Philosophie, unter anderem Heideggers „Sein und Zeit“, das für ihn eine „destabilisierende Erfahrung“ gewesen sei, denn auch er verstand nur wenig. Was er aber verstand war, dass es hier etwas zu verstehen gibt. Das war die gleiche Erfahrung, die ich mit dem Sartre-Text gemacht hatte: Man musste sich nur auf das Abenteuer des Nichtverstehens einlassen, bereit sein, verstehen zu wollen, und lesen, immer weiterlesen.

Das Text-Verstehen ist eines der zentralen Themen des Dialogs zwischen dem Philosophen Steinweg und dem Schriftsteller Witzel. Der Text verführe „den Lesenden, ihn misszuverstehen … Wer liest, macht sich auf den Weg ins Irgendwo.“ Dies sei ein „erotischer Akt“, den Witzel wiederum früh mit Handke und Camus durchlebt. Immer geht es darum, neu und anders lesen zu lernen, bis sich am Ende der Text unter den Blicken auflöst und etwas Eigenes entsteht: Ein guter Text macht aus dem Lesenden einen anderen, neuen Menschen.
Für beide Denker steht fest, dass Philosophie und Literatur nicht in Opposition zueinander stehen: Es gibt keine Philosophie ohne existenzielle Brisanz (und umgekehrt). Beim
Schreiben wirft man ein Netz aus und hofft, dass sich darin etwas verfängt, im Zweifel man selbst, denn: „Schreiben heißt, mit sich selbst zu kämpfen.“

Gegen sich selbst denken, gegen sich selbst schreiben. Nur dann gelingt ein Neuanfang. So wie der Schriftsteller einen neuen Begriff von Literatur hervorbringt, so entwickle der Philosoph einen neuen Begriff von Philosophie, und dies gehe „nicht ohne Formsprengung, nicht ohne Experiment.“ Erfolg und Anerkennung sind nicht garantiert, Rückschläge nicht ausgeschlossen. Philosophie sei vielmehr, so der vielleicht schönste Aphorismus des Buches, die Bereitschaft, „am hellichten Tage durchzudrehen.“ Wer grundsätzlich nicht beleidigt werden wolle, solle weder Philosophie (noch Psychoanalyse) studieren. Mit Kafka gesprochen: „Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.“ Deshalb sei jeder Begriffspazifismus gleichbedeutend mit dem Ende der Philosophie und der Kritik. Es gelte stattdessen, sich auf die Nacktheit der Sprache einzulassen. Am Ende kann dies auch zur Schreibscham führen, in einen Zustand, in dem sich der Schreibende geniert angesichts dessen, was er geschrieben hat.

Steinweg und Witzel deklinieren diesen Zustand durch und packen hierzu ihre Bibliothek aus (die erschreckend viele Schnittstellen mit meiner eigenen hat): Kierkegaard und Kafka, Hegel und Heiner Müller, Deleuze, Derrida und Duras, Blanchot, Foucault, Wittgenstein, Benjamin und Adorno, Goethe und Gertrude Stein, Platon und Aristoteles, Eva Illouz, Robert Walser, Tucholsky und Artaud, der Sprache in Schreien explodieren lässt … „Wogegen du angehst, da steckst du noch drin“, diagnostiziert Steinweg an einer Stelle und stellt mit Erving Goffman fest: Wir alle spielen Theater.

Neben der Sprache ist der Glaube ein weiteres zentrales Thema des Dialogs. Nach Gottes Tod sei die Welt ein Flickenteppich, der in Auflösung begriffen ist. Paradigmatisch zeige sich dies in Robert Walsers Figuren. Sie irrten in einer Welt umher, in der es keinen Gott mehr gibt. Es handle sich um „Immanenzstreuner im Raum gottloser Rätselhaftigkeit“, um planlose Vagabunden, sorglos gleitend durch eine Welt ohne Fixpunkt, durch den traumlos kalten Kosmos, geheilt vom Wunsch nach Heilung.

Woran überhaupt noch glauben in solch einer Welt? Wir glauben zunächst einmal nur deshalb, weil es keinen Grund zu glauben gibt: „Gibt es einen, gäbe es keinen, es zu tun.“ Das heißt, wäre Gott erkennbar, müssten wir nicht glauben – wir könnten uns auf unser Wissen verlassen. Nach dem Tode Gottes aber ist die Suche nach Substituten für das verloren gegangene Absolute scheinbar grenzenlos: „Mein Haustier kann mein Gott sein … Der eine sieht in allem Gott, der andere sieht in allem das Fehlen Gottes.“ Eine scheinbar paradoxe Situation, die sich nicht zuletzt in Steinwegs Aussagen, niemand sei Atheist (S. 68), er jedoch sei Atheist (S. 178) widerspiegelt. Witzel wiederum hält den Glauben für so lange vertretbar, solange niemand eine Theorie des Glaubens aufstellt.
Das Gespräch durchziehen ferner Reflexionen über die Liebe, das Begehren, den Humor, die Verzweiflung und die Würde, über Identität und Körper (beim Sex, Tanz und Sport, in der Mode, der Politik, im Porno), über Hermeneutik und Psychoanalyse, das Panoptikum, die Melancholie und unser Verhältnis zu unseren Exkrementen.

Film und Werbung finden ebenso Berücksichtigung wie die „Selbstverkatzung“ des Menschen, der genau dann ein Idiot ist, wenn er nur das eigene kennt. Es geht um den Menschen als ein weltbildendes und insofern „katastrophales“ Subjekt, schließlich um den Penis als „Organ des Pissens“ und das tiefe Innere, das doch nichts als romantischer Kitsch sei.
Wer dann immer noch kein Schwindelgefühl verspürt, sollte sich eindringlich mit der Definition des Komischen auseinandersetzen: Das Komische tauche immer dann auf, wenn sich das Unendliche „in den Fangstricken des Endlichen“ verheddere. Die Gnade wiederum sei eine Art „Durchlöcherung des Gesetzes“, der Humor zeige sich im Bekenntnis zur Bedeutungslosigkeit. Ein Flirren und Beben, ein Schweben der Wörter …
Gegen Adorno hält Witzel am Ende fest: Es gebe nur im falschen ein wirklich richtiges Leben.

Philosophisch betrachtet ein außergewöhnliches, seltenes Lesevergnügen, als auch eine durchaus „destabilisierende Erfahrung“ auf meinem eigenen Weg ins Irgendwo.

Artikel online seit 30.12.19
 

Frank Witzel,
Marcus Steinweg
Humor und Gnade
Matthes & Seitz Berlin
Fröhliche Wissenschaft Bd. 149
277 Seiten, Klappenbroschur
978-3-95757-724-5
15,00 €

Leseprobe

 

 


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