Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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»Über das Verhalten in Gefahr«

Mit einer üppigen Textsammlung von Essays, Aufsätzen,
Rezensionen, und Tagebucheinträge
n würdigt der Verlag
die Lebensleistung des Verlagsgründers Peter Suhrkamp.
 
Von Lothar Struck
 

Neulich hatte ich sie noch einmal in der Hand. Fünf Taschenbuch-Bände: "Suhrkamp 1950-1990". 1990, das war Aufbruch. Mauerfall. Neue Weltordnung. Optimismus. Ein Band Verlagsgeschichte und dann je einer über die 50er, 60er, 70er und 80er Jahre. Damals unschlagbar günstig. Kost- und Leseproben der Suhrkamp-Autoren las ich zuerst. Das ein oder andere Buch, der ein oder andere Autor, lockte. Dann die Verlagsgeschichte. (Selig diese Zeit, als man noch nicht so viel wusste.)

2002 starb Siegfried Unseld und eine ganze Branche war kurzzeitig im Schock. Später wurde die Zukunft des Verlags immer wieder Gegenstand medialen Interesses – mehr als man das wollte. 2014 der opulente Bildband zu Siegfried Unseld, Biographie und Verlagsgeschichte in Texten und Fotos. Und nun wird der Verlag am 1. Juli 70 Jahre alt. Es ist tragisch, dass kurz zuvor der Cheflektor und Unselds jahrzehntelanger Weggefährte Raimund Fellinger verstorben ist. Er schaffte noch zwei editorische Mammutprojekte: Zum einen eine Auswahl von 35 aus mehr als 1500 sogenannter Reiseberichte Siegfried Unselds. Und zum anderen die Neu- bzw. teilweise Erstherausgabe von insgesamt 43 Texten unterschiedlichster Art von Peter Suhrkamp zwischen 1919 und 1957; ebenfalls eine Auswahl.

Von Suhrkamp kannte ich nur die literarischen Dinge. Ein schmales Bändchen, fünf Erzählungen, benannt nach "Munderloh", einem Romanfragment, und 1957 erstmals publiziert wurden. Das Buch war Hermann Hesse gewidmet. Die Prosa ist naturdurstig, stifterisch-leicht. Die Ausgabe seiner essayistischen Texte, 1960 von Hermann Kasack unter dem schönen Titel "Der Leser" erstmals herausgebracht, war auch 2018, als sie neu aufgelegt wurde, an mir vorbeigegangen. Jetzt liegt ein neuer Band mit Suhrkamp-Aufsätzen mit dem programmatischen Titel "Über das Verhalten in der Gefahr" (der Titel eines der Texte) vor. Einige Texte aus dem Kasack-Buch wurden nicht übernommen, dafür gibt es andere, die aus dem Suhrkamp-Archiv in Marbach "geborgen" wurden.

Die Absicht der Herausgeber, Suhrkamps intellektuelle Entwicklung zu dokumentieren, ist gelungen. Aber es gibt auch rote Fäden, Kontinuitäten. So sind die kulturkritischen Texte 1919 (dem Theater gegenüber) ähnlich wie die von 1947 (den oberflächlichen Konsum von Büchern thematisierend). Die Texte erschienen in Zeitungen oder Monatszeitschriften, als Rezensionen, Aufsätze oder auch Feuilletons. Wobei Suhrkamp strenggenommen nie feuilletonistisch schrieb. Seine Ansichten sind schwierig auf kurze Nenner zu bringen, was er auch gar nicht versucht. Sie zeugen bisweilen vom inneren Ringen mit sich selber. Grob gesprochen würde Suhrkamp heute eines Ästhetizismus gescholten, der einen reinen, nahe an der Antike orientierten Kunstbegriffs verfechtet.

Ästhetik und Kulturkritik

Die Kulturkritiken sind durchdrungen von diesem Denken. Etwa das Diktum, das Theater dürfe nie "moralische Anstalt oder gar Bildungsanstalt sein." Schauspieler sollen auf "Ausdeutung des Wort- und Satzinhaltes" in ihrem Spiel ausdrücklich verzichten. Der Zuschauer soll nicht "versinken". Als bloße Unterhaltung will er das Theater nicht sehen – aber genau dies reklamiert er bei den Zeitgenossen. Als Ideal des dramatischen Autors nennt Suhrkamp dann Büchner (das war 1919) – und die ersten dramatischen Stücke eines gewissen Hanns Johst. Sein Text zu Johst, der mit dem seltsamen Bekenntnis "Nicht Urteil, nicht Kritik will ich geben…" beginnt, erscheint 1921, ein Jahr vor dessen Attacke auf Thomas Mann. Johst wurde dann später Präsident der Reichsschrifttumskammer der Nazis. Doch dazu später.

Ja, es verstört zunächst, wenn Remarques "Im Westen nichts Neues" ein "gefährliches, verführerisches Buch" genannt wird. Man muss genau lesen, warum Suhrkamp dieses Urteil fällt. Sein Kriterium, das der Krieg in der Literatur als "technische Sinnlosigkeit" darzustellen sei, wird hier eben nicht erfüllt. Es schafft, um sich modern auszudrücken, Identifikationspotential. "Das deutsche Denkmal für den unbekannten Soldaten wird ein literarisches sein", so Suhrkamps Wunsch. Aber es gibt zum Zeitpunkt des Aufsatzes kein Werk, das dies in seinem Sinn einfängt.

"Dekorateure" statt Künstler

Überhaupt ist Suhrkamps Blick auf Kunst und Künstler der 1920er und 1930er Jahre kritisch. Man würde, so die Vermutung Suhrkamps, aus Verzweiflung oder Überfluß zum Künstler. Er plädiert für eine "Entromantisierung des Künstlers". Aber ein Avantgardist ist er auch nicht – im Gegenteil: Die von ihm wahrgenommene Tendenz, die Kunst mit der Kunst zu verneinen, lehnt er ab; für Dada kann er sich nicht erwärmen und freut sich, dass die Bewegung "nur einen Tag" währte. Ambivalent auch seine Sicht auf Technik, die sogenannten "Apparate", die beispielsweise im Theater hinter den Kulissen eingesetzt werden. Aber auch der Rundfunk als Übermittlungsmedium ist ihm fremd und unheimlich. Das "reine Kunstwerk" müsse ein "fremder Kosmos" sein und der "rein geistige" Zugang sei der einzig richtige. Ob das über Radiowellen geht?

Nein, Suhrkamp war kein Apologet der Moderne. Entsprechend fällt sein Urteil über Virginia Woolf aus, deren Joyce-Nähe ihm zu gewollt und zu abgehoben ist; solche Literatur würde sich nicht dem Leser erschließen. Victoria Sackville-West hingegen ist ihm zu wenig literarisch. Den Literaturbetrieb sieht er insgesamt distanziert, zu stark auf Kommerz ausgerichtet, wie man heute sagen würde. So konstatiert er einen "Verbrauch von jungen Talenten", die mit ihren Erstlingen reüssieren, deren Originalität jedoch bereits im zweiten Buch verbraucht sei.

Werkstätten oder Kunstschulen lehnt er ab. Fast despektierlich der Befund, solche Schulen produzierten Scharen von den "Dekorateuren", die sich der "Konvention des Geschmacks und der dekorativen Forderung einer Gesellschaft" unterworfen hätten und längst über die richtigen Künstler dominierten. Bisweilen wähnt man sich in zeitgenössischen kulturkritischen Überlegungen, dabei steht auf der Seite als Veröffentlichungsdatum 1930.

Ähnlich verblüfft ist man, wenn Suhrkamp von den "Söhnen ohne Väter und Lehrer", der "Situation der bürgerlichen Jugend" und deren Jugendorganisationen erzählt. Er verknüpft eigene Erlebnisse mit den Entwicklungen der 1930er Jahre. Die Jugend sei durch den Krieg 1914/18 als "Söldnertruppe" verbraucht worden. Bei der Nachkriegsjugend hingegen erkennt er "alle Zeichen von Dekadenz". Dabei lobt er ausdrücklich den "Ausbruch des Jugendwahnsinns", den er jedoch schwinden sieht, indem man sich in Organisationen begebe. Ein hartes Urteil hat er für die 30jährigen: "Sie sind die Unruhigsten, die Unklarsten und die Abenteuerlichsten." Sie seien das, was man "moderne Menschen" nennen könnte. Und dann: "Das Bezeichnendste an ihnen ist ihr Mangel an Humanität, ihre Achtlosigkeit gegen das Menschliche."

Es ist 1932 und die bisweilen bürgerkriegsähnlichen Zustände in Berlin ängstigen Suhrkamp. Dass er, der konservative, die Achtlosen als "moderne Menschen" beschreibt, wirft auf den Leser heute einen ganz anderen Blick auf ein Deutschland, dass ein Jahr vor dem Beginn der größten Katastrophe steht. Angedeutet wird dies in einer Kritik zu Friedrich Sieburg 1933. Er geißelt die "Theologisierung des Nationalismus" und die Irrtümer der Intellektuellen. Letzteren stellt er die "Geistigen" gegenüber; eine Art Elite.

Von nun an bedient sich Suhrkamp einer Technik, die die beiden Herausgeber im Nachwort als "concedo-negro" bezeichnen: Gemeint ist das "Konzedieren der Behauptung im Hauptsatz, bei gleichzeitiger Negation im Nebensatz." Nicht nur aus wegen dieser Erklärung hätte man das Nachwort besser an den Anfang gestellt. So manches holperige und bisweilen Widersprüchliche in Suhrkamps Texten erschließt sich besser.

Die Betrachtung einer Blattrosette

Denn er schreibt weiter. 1934 destilliert er die Differenz zwischen dem Erzähler und dem Dichter (letzterem gehe es nicht mehr nur um Schicksale, sondern um Wahrheit), plädiert für die Vermittlung der "Daseinsinnigkeit" und lobt Hans Carossa. Kryptisch sein Text "Über das Verhalten in der Gefahr", der mit einer Art Widmung für Ernst Jüngers "Marmorklippen" beginnt, dann gegen die "Tyrannei des Willens" anschreibt und schließlich findet: "Die Versenkung in die Betrachtung einer Blattrosette kann ein Licht entzünden." Sein Gleichmut und sein Beharren scheint trotz Haft ungebrochen. Im Gefängnis hatte er Goethes "Wahlverwandtschaften" gelesen und gibt nun auf 25 Seiten eine radikale Deutung zu Ottilie.

Schwer erkrankt verlässt er im Februar 1945 eine mehr als zehnmonatige Odyssee aus Gefängnis und Lageraufenthalt. Er war denunziert worden. Wer bei der Befreiung interveniert hat, ist, wie man dem Nachwort entnimmt, bis heute ungewiss. War es Arno Breker? Oder gar Hanns Johst, jener Dramatiker, den Suhrkamp einst gelobt hatte und jetzt ein NS-Funktionär war?

Seine Rhetoriktechnik braucht er ab Sommer 1945 nicht mehr anzuwenden. Das ästhetische Denken bleibt. Kein Wort der Rache oder des Triumphes vom Geschundenen. Eher Besorgnis um den "Geist als tätige Existenz", die von dem "Leben zwischen Trümmern" herabgezogen würde. Manche hätten den Krieg nicht überlebt, sondern "überstorben". Im "Brief an den Heimkehrer" berichtet Suhrkamp ohne Klage von seinen Erfahrungen als Häftling und Lagerinsasse, von den "Bränden der Schmerzen" unter der Folter. Im KZ habe er gelernt, was Geist sei: dass das darin "Göttliche im Menschen erschein[e]". Das Verhältnis der Menschen untereinander habe sich verändert. Es herrsche die "Zeitkrankheit des intellektuellen Europäers": die Hoffnungslosigkeit. Dagegen steht sein Appell für den Neubeginn, auch dem moralischen.

Visionär das Aufblitzen der Idee eines politischen irgendwie vereinten Europa. Er gibt selber zu, dass dies im Deutschland der Zonen schwer vorstellbar sei, orientiert sich aber an Thomas Mann und dessen Verwandlung vom Nationalisten (dieses Wort verwendet er nicht) zum Europäer. Aber stets denkt Suhrkamp auch die Schwierigkeiten mit, warnt vor dem Hochmut des Intellekts und appelliert an die "tätige Existenz".

Die letzten Texte im Band stehen im Kontext des Verlegers Peter Suhrkamp. Er berichtet 1947 über das Verhältnis von "Verleger und Leserschaft". Beschwörend, wenn er bewusst übertreibend konstatiert: "Die literarischen Sensationen der Gebildeten in den vergangenen Jahren waren beispielsweise Friedrich Georg Jüngers Mohngedicht, ein Gedicht von Gottfried Keller, Ernst Jüngers Marmorklippen." Die Nazi-Barbarei hat ein Jahrzehnt der Leere hinterlassen. Aber: "Ohne eine lebendige Dichtung in der Gegenwart stirbt auch die Literatur der Vergangenheit ab." Die Dichtung der Gegenwart zu finden - das sieht er als seine Aufgabe.

Er feiert Hermann Hesses 70. Geburtstag. Rührend und erhellend zugleich, als er den jungen Max Frisch 1950 bei einem Leseabend vorstellt. Frisch habe sich immer "vorurteilslos" zu Deutschland verhalten; er sei "unbedingt ein Dichter". Und dann macht sich Suhrkamp Frischs "Berufsansicht" des Dichters zu eigen: "Daß die bloße Aussage über die Realität, der einfache Realismus nicht den Eindruck wiedergeben kann, den er von unserer Wirklichkeit erlebt hat, aber ebenso wenig die gewohnte dichterische Metapher mit der Vergangenheit der Poe sie, sondern daß dazu Erfindung gehört. Die Realität, unsere Realität, soll also wohl wenigstens das sein, aber in einer Entsprechung im Medium der Dichtung." Das erklärt teilweise, warum bei Peter Suhrkamp die Autoren der Gruppe 47 zunächst keine Rolle spielen.

Überrascht ist man, dass er dem mit den Jahren wachsenden Drang einer Öffentlichkeit dem Lesen gegenüber in den 1950ern auch skeptisch gegenübersteht. Es sind die "Pocket-Ausgaben", die einige Verlage anbieten würden, die das Lesen gewöhnlich machen würden.  Und dennoch schwärmt er von Samuel Becketts Roman "Molloy". Und kauft die Rechte für Deutschland zu Marcel Proust. Sein Text von 1954 über Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist Werkgeschichte und Euphorie zugleich. Wenn man dies liest, möchte man sofort mit der Lektüre beginnen. Der letzte Text im Band ist ein Offener Brief aus dem Jahr 1957 an den damaligen Außenminister Heinrich von Brentano, der Brechts Lyrik mit dem Nazi-Dichter Horst Wessel verglichen hatte. 

Der Band ist eine adäquate Würdigung des Verlagsgründers, der 1959 an den Spätfolgen von KZ-Haft und Folter verstarb. Dem Leser wird geraten, das Nachwort zuerst zu lesen. Man kann auch darüber streiten, ob man die Drucknachweise nicht besser nach jedem Text gesetzt hätte. Denn plötzlich bekommt man auf Seite 395 noch eine weitere Version des "Briefes an den Heimkehrer" präsentiert. Am Ende ist eine Bibliographie des gesamten überlieferten Werkes von Peter Suhrkamp aufgeführt.

Artikel online seit 25.06.20
 

Peter Suhrkamp
Über das Verhalten in der Gefahr
Essays
Herausgegeben von Raimund Fellinger und Jonathan Landgrebe
Suhrkamp
Gebunden, 420 Seiten
30,00 €
978-3-518-42939-6

Leseprobe

 

 

 


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