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Siegfried Unseld, der Handlungsreisende

Zum 70-jährigen Verlagsjubiläum lüftet Suhrkamp ein Betriebsgeheimnis und veröffentlicht 35 von über 1.500 Reiseberichte
n, die Siegfried Unseld in den 43 Jahren als Verleger verfaßte. Eine ebenso spannende wie aufschlußreiche Lektüre.
 
Von Lothar Struck
 

Titel, Rechte & Autoren

Der Zeitsprung ist nur minimal – aber es ist alles ganz anders. Der erste Bericht von Siegfried Unseld, der im Band "Reiseberichte" abgedruckt ist, datiert vom 14. April 1959, zwei Wochen nach dem Tod von Peter Suhrkamp. Unseld hatte die Nachfolge Peter Suhrkamps angetreten. Er berichtet von einer Zusammenkunft in Berlin; Hauptgegenstand ist das Erbe von Bertolt Brecht. Auf mehr als 370 Seiten finden sich im Band nun chronologisch 35 Reiseberichte Unselds zwischen 1959 und 1998.

Diese Reiseberichte sind längst legendär. In Unselds edierten Briefwechseln, beispielsweise mit Thomas Bernhard, Peter Handke, Wolfgang Koeppen und Uwe Johnson tauchen sie in den Fußnoten als Referenzen auf. Auch in den beiden "Chronik"-Büchern über die Jahre 1970 und 1971 sind einzelne abgedruckt. Daher kennt man einige Texte vielleicht schon, bisweilen aber, wie man überrascht feststellt, bislang nur ausschnitthaft. Raimund Fellinger konzediert in seinem knappen, dreiseitigen Nachwort, die Subjektivität seiner Auswahl. Er weist darauf hin, dass die Reiseberichte im Laufe der Zeit immer mehr auch einen "semi-autonomen Charakter" entwickelten: Sie wurden von Unseld als eine Art Autobiographie angedacht. Freilich blieben sie immer interne Unterlagen, zirkulierten im Unternehmen. Die Weitergabe nach Draußen war, wie Fellinger schreibt, "streng verpönt". Der eigentliche Zweck solcher Berichte –Informationen und Anweisungen an die Mitarbeiter zu formulieren – wurde zunehmend sekundär. Insbesondere zu den Reisen nach Japan, Israel, Mexiko und in das Moskau Ende der 1990er Jahre finden sich sehr viele touristisch-kulturgeschichtliche Bemerkungen, die heute, Jahrzehnte nach ihrem Entstehen, ihrerseits zeitgeschichtlichen Status beanspruchen können.

Unselds Reisen waren aber keine Vergnügungen. Die Berichte zeigen das immense Arbeitspensum des Verlegers. Immer geht es um "Pläne, Rechte, Autoren, Titel", Übersetzungen, Sammel- und/oder Gesamtausgaben, Neuentdeckungen bzw. Vervollständigung von Werken. Unseld ruht sich nie auf seine Erfolge aus. Er ist von Anfang an auf Expansion gerichtet. Aber das Bewahren ist manchmal auch schwierig. Die Rechte-Situation bei Brecht ist fragil, voller Ausnahmen, und wird gleich zu Beginn zur Nagelprobe für den neuen Verlagsleiter. Einmal konstatiert er, dass im Raum "mehr Rechtsanwälte als andere Leute" sitzen. Der Brecht-Dschungel. Als dann in den 1970er Jahren anlässlich des Todes von Helene Weigel der Staat DDR die Brecht-Erben droht zu enteignen, befürchtet Unseld Schlimmes auch für den Verlag.

Die frühen Paradepferde heißen Brecht, Hesse, Johnson, Frisch, Benjamin, Adorno. Sie sind die "entscheidenden deutschen Autoren", auch im Ausland. Er will sie übersetzt haben, mit ihnen die großen Märkte erobern; englischsprachig vor allem. Aber von Beginn an erweiterte Unseld den verlegerischen Horizont über die deutschsprachige Literatur hinaus. Mal sind es die USA (bzw. New York), dann Südamerika, Osteuropa (Polen, Tschechoslowakei) oder Japan. Er trifft Schriftsteller, Agenten, Übersetzer, Rechteinhaber (und welche, die sich dafür halten). Merkwürdig für ihn, warum bestimmte Autoren beispielsweise in den USA nicht gefragt sind. So sind die Stücke von Frisch in den Staaten Ladenhüter. Auch Verkäufe der Bücher von Martin Walser und Ingeborg Bachmann sind in Amerika "schwierig". Groß hingegen das Interesse zu Hesse, Brecht und später Habermas (letzterer sogar in Japan). Unseld ist stets sehr gut vorbereitet – die Flug- und Reisezeiten nutzt er zur Lektüre. Weniges überlässt er dem Zufall und doch behält er eine gewisse Spontanität.  So mancher Name fällt, der als Hoffnung ausgegeben wurde – und nie mehr gehört wurde. Oder es reichte nur zu einem Buch. Und manchmal klappt es einfach nicht wie etwa bei Murakami, der ihn "sehr überzeugt" hatte.    

Immer auf der Höhe

Begräbnisse spielen eine wichtige Rolle. Die Schilderungen der Beerdigungen von Hermann Hesse (er ist ganz aufgeregt, als er im Schreibtisch Hesses mit der Witwe noch Manuskripte entdeckt), Helene Weigel, Bohumil Hrabal und Hermann Lenz zeigen einen genauen Beobachter. Und sofort kümmert sich Unseld um die Nachlässe; das Geschäft muss weitergehen oder, wenn möglich, expandieren. Was hat sich mit dem Tod des Protagonisten geändert? Die Verhandlungen mit den Erben (meist Witwen) balancieren zwischen Pietät, Ökonomie und den Interessen des Verlags. Besonders hier wird eine der zentralen Eigenschaften Unselds deutlich: Trotz seiner unbändigen Tatkraft und Zielorientiertheit wird er nie ungeduldig oder gar fordernd. Aber er ist stets hartnäckig.

Und er war immer auf der Höhe der Zeit. Sechs Wochen nach dem Fall der Mauer reist er nach Ost-Berlin, um neue Möglichkeiten und Kooperationen zu eruieren. Als Wisława Szymborska 1996 den Nobelpreis erhält, besucht er Krakau und versucht die "scheue, schüchterne, zurückhaltende" Frau für Lesungen im nächsten Jahr in Deutschland zu gewinnen. Interessant, wie der Nobelpreis damals die Verkaufszahlen angekurbelt hatte.

Auf das Wort von Georges Steiner von der "Suhrkamp-Kultur" war Unseld stolz. Vermutlich interpretierte er es als Beschreibung seines spezifischen Umgangsstils mit Autoren, Übersetzern und Rechteinhabern. Die Berichte zeigen mehr als nur einen Verleger. Er ist auch Lektor, feilt mit Uwe Johnson um jede einzelne Änderung und streitet mit Marianne Fritz stundenlang über Interpunktionen und Großschreibungen. Aber auch Beichtvater, Seelentröster, Mäzen und gelegentlich auch Prügelknabe. Aber manchmal wird es selbst für den eloquenten und alerten Unseld zu viel. Das ist im Mai 1971, nach den Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag von Max Frisch in New York. Die ganzen Tage bemerkte Unseld bei Frisch ein "gereiztes Schweigen", bis es dann plötzlich aus ihm herausbrach: Er war grandios verärgert, fühlte sich "schäbig" behandelt und nicht ausreichend vom Verlag gefeiert. Frisch ließ seinem Zorn freien Lauf, kündigte Unseld die Freundschaft; er werde sich in Zukunft nur noch um Verlagsdinge mit ihm unterhalten. Unseld ist fassungslos und versuchte, seine "Verteidigungsposition" aufzubauen. Alles wird jetzt aufgerechnet, jedes Geschenk, jeder Brief, jede noch so indirekte Zuwendung. Frisch ist nicht zu besänftigen, auch nicht durch seine damalige Frau. Unseld spricht in sein Grundig-Diktaphon: "Was mußte in diesen Mann gefahren sein? Gut, er hat ein Geschenk und eine Ehrung erwartet, aber kann man einem nicht-geschenkten Gaul ins Maul sehen? Und kann man sich wegen einer solchen Sache so erregen? Mir wurde wegen solcher Kleinlichkeit schlecht." Kurz zuvor hatte Frisch ihn gemaßregelt, dass Wörter, die auf "-keit" enden, "falsch" seien. Am Ende ist selbst Unseld für einen kurzen Moment resigniert, dachte sogar daran, aufzugeben: "Auch ich habe ein Recht, nicht gedemütigt werden zu wollen."

"Keine andere Wahl"

Irgendwie renkte es sich mit Frisch wieder ein, wie auch mit anderen Verlagsbeschimpfern. Zu wichtig war der Verlag für die Autoren geworden. Der Erfolg ist Unseld bisweilen selber unheimlich. In New York wird er Anfang der 1970er Jahre von Verlegern befragt, "wie es möglich sei, eine solche anspruchsvolle Liste, wie sie der Suhrkamp Verlag habe, auch ökonomisch durchzusetzen." Unseld kann das nicht beantworten. "Die vielen Fragen, die ich gerade in dieser Richtung erhielt, konnten fast dazu angetan sein, Zweifel in mir aufkommen zu lassen, ob uns unser Weg auf die Dauer möglich ist. Doch ich glaube, daß wir gar keine andere Wahl haben."

Es ist fast unvermeidbar, dass sich diese Frage heute stellt: Wie war es möglich, dass Texte von Hermann Hesse, Bert Brecht, Max Frisch, Theodor W. Adorno, Peter Handke, Thomas Bernhard oder anderen Autoren Zigtausende Auflage erreichten? Und: Warum gibt es so etwas in dieser Form heute nicht mehr? Wer die Reiseberichte liest, kann mindestens eine Teilantwort finden: Bücher, sei es Prosa oder auch Sachbücher (Benjamin, Habermas), hatten seinerzeit einen anderen Stellenwert. Sie besaßen Priorität: Auch wenn man nicht übereinstimmte – es wurde gelesen, rezipiert, diskutiert. Es war ein Muss – wie heute (scheinbar) ein Netflix- oder Amazon-Prime-Abo, um über den neuen Serienhype informiert zu sein. Intellektualität galt nicht als elitär, sondern als Lebensstil.

Einige Texte Unselds bergen kleine Überraschungen. Etwa wenn von einem Treffen des Bundeskanzlers Ludwig Erhard und Journalisten und Intellektuellen (u. a. Ernst Jünger und eben auch Unseld) vom 23. Juli 1964 berichtet wird. Erhard, der durch seine Aussage gegen Hochhuth im Wahlkampf 1965 bis heute als Feind der Intellektuellen gilt, erscheint da in anderem Licht. Er blüht damals geradezu auf. Nachhaltige Wirkung hatte das wohl nicht. Überhaupt hat Unseld nie die Nähe zur Macht gescheut. Mit Henry Kissinger ist er seit frühester Zeit befreundet und er nimmt dessen Vermittlungen gerne in Anspruch. Auch nimmt er an einem Staatsbesuch mit Bundespräsident Herzog in Moskau teil.

Hintergründiges zu Jurek Becker und der Vermarktung der Serie "Liebling Kreuzberg" erfährt Unseld 1993 beim Besuch von Ulrich Plenzdorf, den man am liebsten, wie es ihm scheint, aus der Produktion entfernen möchte. In einem Text von 1995 schildert Unseld seine Begegnung mit dem damaligen Schachweltmeister Anatoli Karpov in Baden-Baden (dass die Schachverbände damals gespalten waren und Garri Kasparow sich auch als Weltmeister betrachtete, lässt Unseld außen vor). Karpov spielte simultan mit 24 Personen, eine davon war Unseld. Der Text ist dahingehend interessant, weil er hier in einem Feld antritt, in dem er definitiv unterlegen ist. Die Schilderungen, wie er dies wahrnimmt und voller Stolz vermeldet 28 Züge durchgehalten zu haben, sind sehr erhellend.

Am interessantesten sind allerdings seine Begegnungen mit Schriftstellern. Mehrmals sind Besuche bei Thomas Bernhard und Peter Handke abgedruckt; die Berichte zu Handke sind teilweise ausführlicher wiedergegeben als im Briefwechsel, aber es gibt auch jetzt noch Auslassungen. Beide, Bernhard und Handke, geben einen Teil ihres Werkes an den Residenz-Verlag, was Unseld kränkt. Er will das Gesamtwerk und nicht mit Kollegen teilen. Imponierend die Texte zu Djuna Barnes (man möchte sofort etwas von ihr lesen) und Amos Oz. Früh werden Hans Magnus Enzensberger und Alexander Kluge zu halboffiziellen Beratern (aber Unseld behält immer die Kontrolle). Der großartigste Bericht ist die letzte Begegnung mit Samuel Beckett im Mai 1989 in Paris. Beckett ist gesundheitlich schwer angeschlagen und war umgezogen. Sein neues Domizil erinnert an ein Beckett-Bühnenbild und Unselds Beschreibung ist anrührend und erschütternd.

Verlagsgeschichte ist Teil der Kulturgeschichte der Bundesrepublik

Unseld entwickelte und erweiterte sukzessive ein Verlagsimperium. Aber auch dieser Noah auf der Verlagsarche Suhrkamp/Insel muss bisweilen eine Auswahl treffen. Beim Besuch bei Thomas Brasch 1993 beklagte Unseld, dass die Backlist ausgedünnt werden müsse. Sie bestand damals aus 67 lebenden, jüngeren deutschsprachigen Autoren. Wo fängt man an? Geht es nur um Autoren oder auch um Bücher? Als er Friederike Mayröcker besucht, beschwert sie sich, dass etliche ihrer älteren Bücher nicht mehr lieferbar seien. Unseld weist darauf hin, dass die neuen aber immer weiter erscheinen werden (das gilt glücklicherweise bis heute).

Im Gegensatz zu den beiden "Chronik"-Bänden und den Briefwechseln Unselds mit seinen Autoren wurde hier auf Erläuterungen in Form von Fuß- oder Endnoten vollständig verzichtet. Das macht es bisweilen etwas schwierig. Wenn in einem Bericht über einen Thomas-Bernhard-Besuch von einem Prozess und einem potentiellen Vergleich die Rede ist, fehlt für den unkundigen Leser jegliche Information, dass es sich um das Skandalon des Buchs "Holzfällen" handelt. Auch über die mögliche "Enteignung" der Brecht-Erben in den 1970er-Jahren in der DDR gibt es keine Aufklärung. Natürlich kann man das alles im Internet nachschlagen, aber warum eigentlich?

Die beiden neuen Veröffentlichungen – die Essays von Suhrkamp und Unselds Reiseberichte – sind nicht nur Dokumente einer Verlags-, sondern auch Teil der Kulturgeschichte der Bundesrepublik. Der Blick in die Vergangenheit zeitigt den Wandel, den diese Branche (und damit natürlich auch der Literaturbetrieb) in den letzten zwanzig Jahren durchgemacht hat. Einen Typus wie Unseld, der alles an sich zieht, gibt es heute nicht mehr, kann es nicht mehr geben, mindestens nicht mehr in dieser Dimension. Er würde zerrieben zwischen Meetings, überschüttet mit Handyanrufen und mürbe gemailt mit Manuskripten.

Beim trauten Schwelgen im Vergangenen sollte man sich am Ende eine Passage aus einem Text von Peter Suhrkamp aus dem Jahr 1943 zu Herzen nehmen: "Der schwache Punkt in unserer Haltung ist das Übergewicht der Vergangenheit. Eine Geistigkeit, die nur aus der Vergangenheit lebt, ist immer gefährdet; jede Geistigkeit muß in der Zukunft Anker werfen. Der konservative Geist in die Zukunft, das ist eine richtige Haltung." Und so wünscht man dem Suhrkamp-Verlag, nicht ganz uneigennützig weil man ja auch Leser ist, dass man auch weiterhin viele Anker in die Zukunft werfen möge.

Artikel online seit 24.06.20
 

Siegfried Unseld
Reiseberichte Herausgegeben von Raimund Fellinger
Bibliothek Suhrkamp 1451
Gebunden, 378 Seiten
26,00 €
978-3-518-22451-9

Leseprobe

 

 


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