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Intellektuelle und Symbolfigur

Benjamin Mosers fulminante Susan-Sontag-Biographie

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Ein Schlüsselereignis im Leben von Susan Sontag ist der Tod des Vaters. Er stirbt, als sie noch ein kleines Kind ist, an Tuberkulose. Die Mutter tabuisiert den Tod ihres Mannes, verfällt dem Alkohol und den Tabletten. Fortan prägt Susan die Angst, verlassen zu werden. Es ist diese Angst, die sie ihr Leben lang in all ihrem Tun und Denken antreibt.

Die Beziehung zur Mutter, mit der sie während ihrer Kindheit und Jugend ein unstetes Leben führt, ist ambivalent. Einerseits ist Susan geradezu verliebt in sie, andererseits ist da die alkoholkranke Frau, die sich nicht immer angemessen um ihre Tochter kümmern kann. Susan kämpft zeitlebens um diese fehlende Anerkennung für jenes Kind, das sie einst war. Sie strebt nach Perfektion, wird vom Gefühl der Unzulänglichkeit getrieben, liebt Männer wie Frauen – und wird das Gefühl nicht los, zu versagen.

Auf diesem Psychogramm fußt Benjamin Mosers preisgekrönte Biografie der Schriftstellerin, die schon mit drei Jahren das Lesen erlernt. Bücher sind ihr ein Rückzugsort, ein Ort der Sicherheit, denn das Lesen bietet der kleinen, asthmakranken Susan die Möglichkeit, die Realität zu anästhesieren und umzudichten. Prägend ist, kaum überraschend, vor allem Djuna Barnes Roman „Nightwood“ (1936) mit seinen Themen Homosexualität und Alkoholsucht. Barnes beschreibt darin die junge Protagonistin Robin – jenes Nachtgewächs, dessen Leben einem „Zufall in Permanenz“ gleicht. Verwandlungen, Kostümierungen und Betrug retten sie aus einer Welt, die ihr falsch erscheint.

Die 16-jährige Susan prägt nicht zuletzt die Begegnung mit Thomas Mann, den sie 1949 interviewt. Vor dem Gespräch fürchtet sie noch, ihre Dummheit könnte den Nobelpreisträger verletzen. Doch es ist vielmehr umgekehrt: Nach dem Interview ist sie enttäuscht vom profanen Auftritt des Literaturheiligen. Noch ist sie zwar nicht jene Schriftstellerin „von der unnachgiebigen Strenge der New Yorker Intellektuellen“ und „Symbol der kosmopolitischen Kultur“, als die Moser sie charakterisiert, aber vielleicht ist die Begegnung mit dem Literaten eine Art Initialzündung für diese Entwicklung gewesen.

Wenige Jahre später, als junge Studentin, setzt sie sich kritisch mit Freud auseinander, heiratet sodann ihren Dozenten, den Soziologen und Kulturkritiker Philip Rieff, und wird früh Mutter eines Sohnes (David). Die Ehe ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Die Loslösung von Rieff, so beschreibt es Moser, ist für die nach Autonomie und Freiheit strebende Susan im Grunde unvermeidbar. Moser portraitiert sie in ihrer ambivalenten Persönlichkeit als gebildet und tyrannisch, als arrogant und ehrgeizig, als leidenschaftliche und sachliche Kritikerin, als nervöse und impulsive Freundin von Annie Leibovitz, Jacob Taubes, Andy Warhol, Jasper Johns, Joseph Brodsky und vielen anderen – Speed und Tabak hat sie stets griffbereit.

Ihre Bücher und Essays sind heute Teil einer guten Allgemeinbildung; zum Kanon eines jeden Kunstkurses gehört vor allem ihre Interpretation der Happenings (1962) als eine Art radikale Juxtaposition, durch deren Interaktion sich eine Einheit von Künstler und Publikum herausbildet. Die damaligen Diskussionen über Pornografie wirken heute zwar antiquiert, genauso wie die Reflexionen zur Fotografie, als zeithistorische Dokumente sind sie dennoch hochspannend.

Moser bettet Sontags Lebensgeschichte ein in zeithistorische und politische Debatten wie Vietnam und Aids, und führt zahlreiche Exkurse über ihre Freunde, Bekannten, Kollegen und Widersacher.
Mehrfach erkrankt sie an Krebs, der Ende 2004 zum Tod führt.

Mosers bilanziert, Susan Sontag zeige, „wie man den Errungenschaften der Vergangenheit verbunden sein kann, während man das eigene Jahrhundert freudig begrüßt. Sie legt Zeugnis ab für eine grenzenlose Bewunderung von Kunst und Schönheit – und eine grenzenlose Verachtung von intellektueller und spiritueller Vulgarität. Generationen von Frauen beeindruckte sie als eine Denkerin, die keine Furcht vor Männern kannte. Sie stand für Selbstoptimierung – für die Kunst, mehr aus sich zu machen, als von jemandem erwartet wurde. Sie symbolisierte die Autorin, die sich auf einem weiten Feld betätigte, ohne in Überspezialisierung oder Dilettantismus zu verfallen. Sie repräsentierte die Hoffnung auf ein Amerika der Toleranz und Diversität, dessen Teilnahme an anderen Nationen frei von Chauvinismus war. Sie stand für die soziale Rolle der Künstler und zeigte, wie Künstler politischer Tyrannei widerstehen können. Und sie hielt die Hoffnung auf Fortdauer der Kultur in einer Welt am Leben, die von Gleichgültigkeit und Grausamkeit bedroht ist.“

Fazit: Ein facettenreiches, opulentes, fast schon monströses Bildnis einer äußerst genialen Frau.

Artikel online seit 30.10.20
 

Benjamin Moser
Sontag
Die Biographie
Übersetzt von Hainer Kober
Penguin
928 Seiten
978-3-328-60159-3

 

 


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