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La Bohème im Silicon Valley

Anna Wiener geht durch ein tiefes Tal

Von Peter Kern

Jede Generation hat wohl ihren eigenen Kalifornien-Mythos. Für die auf dem Sprung in den Beruf stehende, sofern von kritischem Geist unbeleckt, bietet sich der des Silicon Valley an, für die Althippies bleibt’s bei Flower & Power. Eine in der New Yorker Kulturindustrie engagierte, soziologisch ausgebildete junge Frau will einmal ordentlich Geld verdienen, wechselt in die richtige Industrie an der Westküste, scheitert im Milieu des App-Avantgardismus, und unterhält ihre Leser sehr mit dem Report ihrer Desillusionierung. Auch das Berufsleben schreibt mitunter gute Geschichten. Das Beste an dieser: Die Bettgeschichten und Selbstfindungslyrik einer Tochter aus gutem Haus bleiben erspart.

Anna Wiener zieht der auf dem Halbleiter Silizium basierenden Chip-Industrie den technologischen Schleier weg. Dieser Schleier verbirgt zunächst einmal, dass es sich um wirkliche Industrie handelt, auch wenn keine Schlote rauchen und Dateningenieure hier tätig sind. Die uns Kunden erfreuenden Apps und Gags, erfreuen uns erst, nachdem wir ein Tablet oder ein Smartphone unser Eigen nennen. Mit dem Kauf der schönen Dinge realisiert sich der in ihnen materialisierte Wert. Damit realisiert sich auch der in ihnen enthaltene Mehrwert, und der kommt unter durchaus unschönen Bedingungen zustande. Die Arbeitsbedingungen im Silicon Valley, einem nahe San Franzisco gelegenem Technologie-Distrikt, schildert die Autorin.  

Mehrwert – das Wort hat eine merkwürdige Karriere gemacht. Es war einmal die eingängigste Kategorie der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, bezeichnend das Verhältnis der unbezahlten zur bezahlten Arbeitszeit. Heutzutage, da es schon geriffelte Kartoffelchips, Nuss-Fruchtmischungen, Schokolädchen und Lavazza Espresso in manchen Büros umsonst gibt, bezeichnet das Wort keinen Skandal mehr. Es ist in die Sprache der Vorstände eingewandert, in ihre ewige Rede vom Mehrwert, den man für die Kunden schaffe. Keine Betriebsversammlung, keine Bilanzpressekonferenz, auf der diese Rede nicht erschallt.
Im Silicon Valley gibt’s keine Betriebsversammlungen. Dort fällt all das Gewese weg, das es – glaubt man dem Bundesverband der deutschen Arbeitgeber – so schwer macht, hierzulande Unternehmer zu sein. Die Großkonzerne simulieren daher Silicon Valley, Berlin ist voll davon. ABB, BASF, Continental, Daimler, wie sie alle heißen, haben alle Startups an der Leine, und dort, in den Lofts ehemaliger Fabriketagen, gilt nicht, was im Stammhaus gilt: Tarifvertrag, geregelte Arbeitszeit. Dafür gibt’s das California-Feeling. Das große Verdienst des Buchs: Will man wissen, wie die nahe Zukunft der Beschäftigungsverhältnisse hierzulande aussehen kann, bekommt man eine Ahnung. Diese Ahnung könnte sich in Kürze weiter verdichten; kalifornischer Geist wird bald in der Mark Brandenburg wehen. Der Herr über Tesla hat schon deutlich gemacht, was er von deutscher Unternehmensmitbestimmung hält, nämlich nichts. Für seine Aktiengesellschaft hat er die Gesellschaftsform der Societe´ Européenne gewählt. Mitbestimmungsrechte sind hier, im Vergleich zum deutschen Recht, nochmal abgespeckt. Dem Tarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie wird er wohl noch weniger abgewinnen können als dem deutschen Aktienrecht. Aber es soll „super Spaß machen“ für ihn zu arbeiten, hat Herr Musk getwittert.

Die Startups hierzulande sind ‚Lehnsgüter‘ der Konzerne mit den genannten Namen. Die Konzerne finanzieren die Newcomer von Anfang an oder kaufen sie später, sobald sie am Markt erfolgreich sind. Das Wort von den Lehnsgütern ist diesem sehr lesenswerten Buch entlehnt. Anna Wiener hat in Code kaputt eine Arbeitswelt beschrieben, die den genannten Firmen als vorbildlich erscheint. Dort gibt es 25-jährige Vorstände, die eine zweimilliardenschwere, nichts als Programme schreibende, gerade mal 200 Leute umfassende Firma leiten. Anna Wiener hat unter diesen Spätpubertären besonders gelitten. Im Assessment Center hat der junge Chairman die Autorin selbst examiniert („Welche Musik läuft, wenn Sie den Ring betreten“?) und seine selbstgestrickte Psychologie dabei aufblitzen lassen. Übergriffig war er nicht selbst, aber das ganze Milieu dieser Firmen, die eingezogene Differenz zwischen Berufs- und Privatleben, die absichtsvoll geschaffene Wohngemeinschaftsatmosphäre ist es. Dass da einer seine Hände nicht bei sich lassen kann, nach der Networking-Party und dem Absacker an der Bar auf Firmenkosten, verwundert nicht.

Die auf familiäre und auf Freundschaftsbeziehungen getrimmte Sozialstruktur dieser Unternehmen ist die Crux der neuen Angestelltenkultur. In der Per-Du-Atmosphäre scheint aber gar kein Kreuz zu lasten. Oder doch? Krisen, Entlassungen sind ja nicht aus der Welt, nur weil alle zur großen Familie gehören. Als Anna Wieners Chef einem Pionier der Firma kündigt, weil der mehr Gehalt und mehr Belegschaftsaktien will, stehen dem 25-jährigen Boss die Tränen in den Augen. Wer das Buch mit europäischen Augen liest, fragt sich spontan: Wieso geht der Beschäftigte nicht zum Betriebsrat? Betriebsrat, what’s that?  Im Silicon Valley gibt’s sowas nicht.

Im Filstal bei Stuttgart gibt es welche. Dort stehen gerade jede Menge Entlassungen an. Die dem Tarifvertrag Unterliegenden können auf Verträge pochen. Der Daimler-Betriebsrat hat ihnen einen Kündigungsschutz für die nächsten paar Jahre ausgehandelt. Für die Außertariflichen, die höheren Angestellten, gilt dieser per definitionem nicht. Mit ihnen führt man, wie unter Ehepartnern, ‚Trennungsgespräche.‘ Der Soundtrack der Bay Area hat es längst ins Ländle geschafft.

Die Autorin, in New Yorks Literaturszene sozialisiert, formuliert eine Bohèmekritik der kalifornischen Arbeitsverhältnisse. Den glücklichen Ausdruck haben Luc Boltanski und Ève Chiapello aus der Bourdieuschule geprägt. Die Bohèmekritik reibt sich an sinnentleerter, fremdbestimmter, in unnützem Zeug vergegenständlichter Arbeit. Sie ist das Erbe der Revolte der 60er und 70er Jahre, auch wenn die Heutigen von dieser Erbschaft nichts wissen. Nicht die Erfahrung wirklicher Armut prägt die Jungen wie Anna Wiener, sie leiden unter der Armut im Geiste der kapitalistischen Arbeit. Auch wissenschaftliche Arbeit, auch Software wird wie am Fließband gemacht, auch wenn das Fließband ein Desktop ist, und die vom Chef spendierte Pizza angeknabbert neben dem PC liegt. Codieren resultiert oft genug in völlig aberwitzigen Gadgets. (Das hässliche Wort vom Coden ist unter Programmierern gebräuchlich). Was braucht die Menschheit die 100. App, um das sinnlos erworbene T-Shirt Nr. 101 als Second Hand-Ware wieder unter die Menschheit zu bringen?

Weite Strecken des Buchs sind dem missratenen Versuch der Autorin gewidmet, sich davon zu überzeugen, dass all das ihr Widerfahrene gar nicht so schlimm sei. Ihre Wut habe sie vor sich selbst versteckt, schreibt sie, und die Sache humorvoll genommen. Das Schweißband mit Firmenlogo, mit dem alle rumjoggen; der Rat der Kollegin, der Belästigung am Arbeitsplatz die sexuelle Macht der Frau entgegenzusetzen; die Entwicklung von Apps, deren einziger Sinn darin liegt, möglichst lange an ihnen zu kleben; das Pflichtvergnügen des jährlichen Events mit gemeinsamer Skihüttenübernachtung; das von den Chefs verordnete zusätzliche Teambuilding, mit eng anliegenden Leggings und Shorts auf Kinderspielplätzen absolviert; die Selfies mit dem CEO, dem man mit Faust auf Faust, mit Fist Bump, begrüßen darf;  die raffgierige Datenerfassung und ihre Verschleierung durch comicartiges Webdesign; das Misstrauen gegenüber den Beschäftigten, die Bargeld den Unternehmensanteilen vorziehen – sind sie auf dem Absprung und vom Erfolg der Firma nicht überzeugt? Das Buch ist eine gesalzene Abrechnung.

Der ganz junge Boss sieht, dass die junge Frau jeden Abend als Letzte das Büro verlässt, dennoch will er von ihr wissen, ob sie, gemäß Firmenmotto, Down for the Cause ist, ob sie also wirklich ‚brennt.‘ Seine Macht und ihre Ohnmacht erlebt sie als Jing und Jang. Sie findet für ihre Verdinglichung solche Sätze: „An manchen Tagen kam ich mir selbst vor wie eine Software oder ein Bot…“ Und auch für die Verdinglichung ihrer mit Small Talk beschäftigten Chefs: „Es war, als würde man zusehen, wie sich zwei Geldautomaten unterhielten.“

Das Geschäft mit Big Data läuft wie geschmiert. Angeschmiert wird die von all den Apps begeisterte Kundschaft. Alter, Geschlecht, Haarfarbe, Hautfarbe ,Schuhgröße, Kleidergröße, Sehschwächen, Gewichtsprobleme, Ernährungseinschränkungen, politische, sexuelle, literarische, cineastische, touristische, kulinarische Vorlieben - die Datenwissenschaftler verraten den Entwicklern, was man alles mit den Cookies tracken kann, und die Produktmanager verkaufen das Tracking den Firmen; Business to Business, B2B. Am Anfang ihrer verhinderten Karriere ist die Autorin begeistert: „Es dauerte nicht lange, bis ich den Fetisch für Big Data nachvollziehen konnte. Datensätze waren faszinierend: digitale Ströme menschlichen Verhaltens“.

Wer in der alten Bundesrepublik an die Macht wollte, war gut beraten, gut Freund mit Axel Springer und seiner Presse zu sein. Wer in den USA sein Präsidentenamt behalten will, sollte mit Mark Zuckerberg keinen Zwist haben. Die Brisanz von Big Data ist spätestens seit dem Cambridge Analytica-Skandal bekannt. Was die Spatzen von den Dächern pfeifen, ist aber längst ein Gassenhauer, den keiner mehr wirklich hören will. Dem Buch von Anna Wiener wäre zu wünschen, dass viele es lesen.

Störend die Sprache des Buches. Es ist in der Ich-Form geschrieben, und die soll Authentizität verbürgen. Wenn ein Ich etwas erlebt und darüber schreibt, muss das nicht heißen, hier gebe jemand eine Erfahrung wieder. Die Autorin hat wirklich eine gemacht; sie hätte es gar nicht nötig, die Sache mit New Journalism aufzumotzen: „Eines Nachmittags, als ich leicht verkatert in der Agentur saß und auf einem schlappen Salat herumkaute…“ Es soll authentisch klingen, und man hat’s schon tausendmal gehört. Der New Journalism hatte Sternstunden (Norman Mailer über den rumble in the jungle, Ali gegen Foreman, war eine), aber im Kern war es Selbstreklame; der Autor wollte sich als Marke setzen. An Reklame lässt auch das knallbunte, psychodelische Outfit des Buches denken. Es schmeißt sich förmlich an den Leser ran, bittet um Entschuldigung, dass es kein Video ist. Man muss das in Kauf nehmen.

Das Pendant der Bohèmekritik, die Sozialkritik, ist in dem Buch auch zu vernehmen. Die Autorin flüchtet von den prekären Jobs in New Yorks Buchhandel, weil sie mehr als 20 Dollar pro Stunde und eine Krankenversicherung braucht; die Versicherung gibt es, menschenwürdig, nur in Verbindung mit einem Job. Das Drama der US-Ökonomie, und in der Coronazeit besonders bitter: Wer keine Arbeit hat, hat auch keine AOK. Das Land leidet nicht besonders hart, weil ihm zu viel, sondern weil ihm zu wenig Sozialstaat eigen ist. Der rudimentäre Welfare State ist ein Standortnachteil, kein -vorteil. General Motors kann auf den internationalen Märkten keinen Blumentopf gewinnen, weil es von jedem verkauften Auto 2000 Dollar für die Verpflichtungen aus der betrieblichen Rentenkasse abzwacken muss. Eine solche Firma würden nicht einmal mehr die Chinesen kaufen. Auch Herrn Friedrich Merz, der die staatliche Kasse gerne abreißen und als Investmentfonds wiederaufbauen möchte, sei das Buch zur Lektüre empfohlen.

Die Erfinder des Wortes von der Bohèmekritik - das hier besprochene Buch ist ein schönes Beispiel dieser Kritik - belassen es, als gute französische Soziologen, nicht bei einer wissenschaftlich-wertfreien Analytik. Um gegen jeglichen Silicon Valley-Geist vorzugehen, plädieren sie für eine Kooperation von Sozial- und Künstlerkritik. Bisher kam sie noch nie zustande. Der digitalen Bohème gelten Betriebsrat, Gewerkschaft und Tarifvertrag als Zeug, das kein Mensch braucht, und die Gewerkschaften haben lange gebraucht, um ihr Bild von den Studierten als verwöhnten Bürgersöhnchen und -töchter zu revidieren.

Artikel online seit 25.10.20
 

Anna Wiener
Code kaputt
Macht und Dekadenz im Silicon Valley
Verlag Droemer München, 2020

Broschiert, 320 Seiten
18 Euro

978-3-426-27773-7

 


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