Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Die Entsorgung der Aura

Wie Moritz Baßler & Heinz Drügh versuchen,
eine Ästhetik auf der Höhe der Zeit zu formulieren und scheitern müssen.

Von Lothar Struck
 

Die Literaturwissenschaftler Moritz Baßler und Heinz Drügh suchen in ihrem kürzlich erschienenen Buch nach Kriterien für die Ästhetik der Gegenwart. Zu Beginn wird noch brav auf Immanuel Kant rekurriert und zitiert. Man holt Schillers Hymne auf das Spiel hervor, auch Susan Sontag und Jean-François Lyotard kommen vor. Aber das war es weitgehend auch schon mit den "Basics". Nun stürzt man sich auf die "Bildtypen" des Medienwissenschaftlers Jochen Venus. Da gibt es "zum einen das referenzielle, realistische Bild, das Gegenstände der Welt abbildet […] zum anderen das abstrakte Bild, dessen Sinn nicht in der Referenz auf etwas, sondern im Schaffen einer absoluten Form liegt". Exemplarisch werden hier Courbets "Steinklopfer"respektive Mondrians Komposition mit Rot, Blau und Gelb genannt. Aber diese Ästhetiken "an der Schwelle zwischen bildungsbürgerlichem Schönheitspathos und der Moderne mit ihrem Faible fürs Unvollständige, Halbe und Kranke" genügen nicht mehr für die Gegenwart. Mit Venus wird ein dritter Typus eingeführt, exemplifiziert durch ein Bild von Donald Duck in seinem roten Cabrio mit der Nummer 313.

Mit dem Ästhetik-"Typ 3" werden die gegenwärtigen ästhetische Phänomene in Kunst und Literatur dekliniert. Es handelt sich um "Phänomene, die (kultur-)industriell hergestellt, …und populär sind." Weitere Kennzeichen sind "Serialität, gebunden an marktförmige Rückkopplung und eine treue Stilgemeinschaft". Hinzu kommen "Faszinosum und Spektakularität", "Selbstreferenz und Weltförmigkeit".

Die gegenwartsästhetischen Objekte (oder sollte man besser gleich 'Produkte' sagen?) werden "nicht mehr von einem gottgleichen Autor, dem Garanten ihrer Bedeutung, top-down zu unserer Rezeption und Interpretation zur Verfügung gestellt", sondern "die Produktionsseite ist […] weitgehend der von der Stilgemeinschaft erwarteten Norm unterworfen". Das bedeutet, dass ein Comic, in dem Donald Duck Erfolg hat, ein Tarantino-Film ohne seine unzähligen Referenzen oder ein Tatort, der den Mörder entkommen lässt, nicht normgerecht wäre und daher logischerweise erst gar nicht entsteht. Früher nannte man solche Erwartungskunst trivial oder, etwas freundlicher, Boulevard.

Marktförmigkeit und Stilgemeinschaften
Das Publikum der Gegenwart teilt sich jetzt auf in je nach Phänomen ausdifferenzierte "Stilgemeinschaften", die den Schöpfer nur mehr als Erfüllungsgehilfen für ihre seriellen Anforderungen sehen. Wo früher die Unterschiede zwischen bi- oder tripolaren ästhetischen Diskursen entstanden, wuchern nach dieser Definition unendliche, kleinteilige Rezeptionsräume gemäss der je vorhandenen Fanbase vulgo Stilgemeinschaft. Die Folge ist, dass die Sensorik, allgemein gültige, übergreifende Ästhetiken zu erkennen, die andere als die gemeinte Stilgemeinschaft affizieren könnten, verkümmert. Das ist der Grund dafür, dass man Peter Handkes Aussage, er komme von Cervantes und Homer, nur noch als "deplatziert" wahrnehmen kann (Baßler/Drügh). Dabei sollte man vielleicht weniger den Kopf über Handkes Anspruch schütteln als über die eigene, intellektuelle Anspruchslosigkeit und Einfalt.

Es wird auch deutlich, warum Adornos ästhetische Theorie, gegen die von Anfang an polemisiert wird, keinen Platz in diesen Betrachtungen hat. Ihn und die These des Warencharakters von Kunst muss als durch die Zeit überholt abgeräumt werden. Die Autoren brauchen den kommerzialisierten Marken- und Objektfetischismus, der sich insbesondere in der modernen Kunst zeigt (leider schafft man nur zwei Hartmut-Böhme-Zitate), aber auch in der sogenannten "Pop"-Literatur, um diese entsprechend aufzuladen. Das "Schöne und Erhabene", worüber sich Baßler/Drügh fast ein wenig lustig machen (Erhabenes ist nur noch schnödes "too much") wird zu Gunsten einer stilgerechten Marktförmigkeit entsorgt. Es ist wichtiger, welche Jacke jemand trägt (oder nicht trägt) als die erzählerische Ausformung der Protagonisten.

Dabei ist es anscheinend nicht leicht, in der zeitgenössischen Literatur typische Beispiele für die Typ3-Ästhetik zu finden. Hat doch Literatur im Gegensatz zum Kunstwerk (Bild, Installation) ein Problem mit der "Aisthesis", dem ersten Sinneseindruck, jenem Affekt des Sinnlichen. Während der Bilder- oder Objektschauer sofort – wie auch immer – affiziert wird, braucht der Leser erst einmal eine bestimmte Lesezeit.

Baßler/Drügh haben immerhin drei Beispiele gefunden. Da ist Leif Randts letzter Roman "Allegro Pastell", Joshua Groß' "Flexen im Miami" und Juan S. Guses "Miami Punk". Randt und Groß werden als "ästhetische Komplementärunternehmen" (sic!) untersucht und recht ausgiebig zitiert. Sie erfüllen die Kriterien der "Extremgegenwart". Bei etwas genauerer, nüchterner Lektüre überrascht es allerdings, dass mindestens bei Randt, aber auch Groß eine Variation der Neuen Subjektivität, einer Literaturrichtung der 1970er Jahre, auszumachen ist. Die Innerlichkeits-Idiosynkrasien der gegenwärtigen Protagonisten erinnern an jene der Romanfiguren beispielsweise von Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann oder auch Peter Handke. Sie unterscheiden sich in zwei Punkten. Zum einen legte man seinerzeit größeren Wert auf literarische Ausdrucksformen jenseits eines eher vulgären Neorealismus. Wichtiger ist jedoch, dass Randts und Groß' Figuren die zeitgenössische Waren- und Konsumwelt zur Verfügung haben und sich damit bedenkenlos identifizieren, ja: sie geradezu affirmieren. Nähme man den aktuellen Protagonisten ihre Apparaturen (wie Smartphones und andere Gadgets) oder Markenklamotten weg, wären sie den Figuren von vor fünfzig Jahren ähnlicher als man zunächst denkt.

Von gelegentlichen Ausflügen wie beispielsweise (interessanten) Anmerkungen zu Theodor Fontane abgesehen, werden allerdings literaturhistorische Entwicklungen kaum zur Kenntnis genommen. Die Ausnahme ist eine Neudefinition von Umberto Ecos in den 1990er Jahren entwickelten Begriffs des "Midcult", der zum "neuen Midcult" weiterentwickelt wird.

Midcult-Purgatorium
Moritz Baßler hatte ihn Ende Juni in der Zeitschrift "Pop. Kultur und Kritik" in einem kontrovers diskutierten Text vorab vorgestellt. Vom Aufsatz finden sich große Teile im Buch (ein wichtiger Teil fehlt allerdings – dazu später mehr). Der "neue Midcult" scheint so etwas wie das Purgatorium des (gegenwarts-)ästhetischen Himmelsgewölbes zu bilden, immerhin oberhalb des Bildungsbürgertums, jenem spöttisch betrachteten Klein- bzw, Spießbürgertum. (Mit dieser Verachtung setzen die Autoren eine lange Traditionslinie fort.)

Der neue Midcult ist der "Mainstream des gehobenen Buchmarktes", karikiert als "Murakami-Franzen-Schlink-Knausgård-Ferrante-Kehlmann-Komplex" (dieses Ungetüm fehlt im Buch), der sich in einer stillschweigenden Übereinkunft zeigt, "in der richtigen Weise und vor allem: von den richtigen Autorinnen" Kenntnis zu nehmen und sein Urteil in die literarische Welt zu schicken. Er betrifft – wenigstens wie ich es verstanden habe – alle Akteure: Autoren, Verleger, Leser und auch Kritiker. Wenn auch unterschiedlich.

Der Widerspruch auf den Aufsatz musste natürlich kommen; meist von denen, die verantwortlich sind für das, was kritisiert wurde. Werkseitig repräsentiert der "neue Midcult" "eine leicht zu konsumierende Kunst", die "für alle verständlich und genießbar ist" (Umberto Eco zitierend). Versehen wird diese "mit 'Anleihen bei Verfahrensweisen der Avantgarde', die sich bereits als Marker für KUNST und ästhetisch-kulturelle Bedeutsamkeit bewährt haben, 'um den Eindruck zu erwecken, der Zusammenhang selbst sei Kunst'".

Es ist also, polemisch formuliert, eine Art Erbauungs- und Bekenntnisliteratur, in der ein Text nach bestimmten Moralvorstellungen, die auch ausgestellt werden, verfasst wurde. Mit einem Begriff von Sahra Wagenknechts könnte man hierfür "linksliberal" sagen. Bei Baßler/Drügh klingt das so: "Von Literatur wird…keine ästhetische Ambiguität erwartet, sondern ethisch-didaktische Einsichten, am besten solche, die die Überzeugungen treffen, die man ohnehin schon hat." Hierfür wird sogleich der listige Begriff der "Ästh-Ethik" eingeführt.

Der zeitgenössische Midcult-Rezipient konsumiert, wie er meint, "Hochkultur", ist stolz darauf und kann sich auch noch sicher sein, einen "korrekten" Text zu lesen, der mit ein bisschen Glück am Ende sogar vom Autor authentisch beglaubigt wird, ja, beglaubigt werden muss. Wie wichtig dies ist, zeigt sich am Beispiel einer amerikanischen Professorin, die das Werk von David Foster Wallace aus dem Lesekanon der Universität entfernt, weil dieser ein "problematisches Verhältnis zu Frauen" gehabt haben soll.

Der Autor lebt – und wie
Man erinnert sich: Mit Typ 3 sollte doch der "gottgleiche Autor" abgeschafft und die "Stilgemeinschaft", also das Publikum, als maßgebliche Instanz dargestellt werden. Die Betrachtungen zur Ästh-Ethik zeigen indes, dass der Autor gar nicht tot ist. Das Gegenteil ist richtig: er (sie) ist so lebendig wie nie. Die größte Gefahr für ästhetische Urteile sind nämlich nicht die ausgiebig im Buch behandelten Geschmacks- sondern – dieses Wort taucht aus vermutlich gutem Grund nicht auf – Gesinnungsurteile, die die Weltsicht des Autors vor jeder literarischen Formanalyse und/oder der "Story" setzen.

Illustriert wird dies am Literaturnobelpreis 2020 für Louise Glück. Von der dritten Garde der Feuilletonisten wurde die Vergabe kritisiert, weil die Autorin "weiß, westlich und englischsprachig" sei. Die literaturästhetische Betrachtung der Gedichte Glücks spielte gar keine Rolle, was auch explizit vermerkt wurde. Entscheidend sind Hautfarbe, Herkunft und Muttersprache (demnächst dann vielleicht noch Freundeskreis, Essgewohnheiten und Reiseplanungen). Literatur wird damit (wie schon die Bildende Kunst) durch die dezidierte Beschäftigung mit Kriterien, die außerhalb des Kunstwerkes liegen zur Nebensache degradiert. Aber vielleicht erhält das eigentlich immer überflüssiger werdende Feuilleton hierdurch kurzfristig die Chance für eine neue Marktlücke: Man muss nurmehr die Lebensläufe und -gewohnheiten der Autoren studieren, um Nobilitierung oder Verdammung des jeweiligen Œuvres aussprechen zu können. (Am Ende wird allerdings diese Aufgabe aufgrund ihrer Anspruchslosigkeit von Computern übernommen werden können; die Feuilletonisten werden ihren Bedeutungsverlust nur noch in kulturkritischen Sammelbänden verarbeiten, bevor sie endgültig in die wohlverdiente Vergessenheit geraten.)

Werke wie auch Kritik, die einer "Ästh-Ethik" folgen, sind, was die vorher ausführlich ausgebreiteten, strengen Maßstäbe eines Immanuel Kant angeht, "durch Sachurteile vorher entschieden", was sie aus dem Modus des Ästhetischen hinauskatapultiert. Auch ihre Rezeption, die ästhetische Betrachtung, ist nun nicht mehr "frei".

"Ästh-Ethik"
So weit, so gut. Aber wie agieren eigentlich die Autoren dieses Buches? Serialität, Spektakel, Marktkonformität werden als Kennzeichen von Gegenwartsästhetik hervorgehoben. Aber das gibt es auch um die "Stilgemeinschaften" von Bayern München, dem ZDF-"Traumschiff" oder den Donna-Leon-Kriminalromanen. Ist möglicherweise alles irgendwie "ästhetisch"? Das wird ausdrücklich negiert. Und tatsächlich: Es gibt Unterschiede beispielsweise im Ansehen von "Stilgemeinschaften". In der Ich-Form heißt es dann plötzlich: "Ich kann mit, sagen wir, […] Elfriede Jelinek wenig anfangen, hätte aber keine Probleme damit, wenn meine Liebsten und Nächsten hier glühende Fans wären. Wären sie aber ästhetisch wesentlich von […] Martin Mosebach affiziert, wäre das kaum zu ertragen". Für den Ich-Schreiber dieser Zeilen ist Mosebach, wie er weiter ausführt, eine "ästhetische Verirrung", die er "ethisch zu verurteilen und womöglich zu bekämpfen" habe (warum denn "womöglich"?). Es geht dann darum, "die Verirrten per Aufklärung aus ihrem Irrtum zu befreien." Damit wird das betrieben, was als "Ästh-Ethik" des neuen Midcult kritisiert wird. Eigentlich dann fast schade um die Zeit der Lektüre bis zu diesem Punkt, oder?

Und auch am Ende wird "Ästh-Ethik" betrieben, als auf das Beyoncé-Cover von Tylor Mitchell auf der amerikanischen "Vogue" hingewiesen wird. Mitchell ist der erste Afroamerikaner, der ein Cover für diese Zeitschrift "schießen durfte". Das ist sicherlich ein wichtiges politisches Statement, wenn man dieser Zeitschrift eine Relevanz zuweist. Aber ist die Autorschaft des schwarzen Fotografen auch sichtbar ("aisthesis")? Wenn ja: Wodurch? Oder muss ich die Geschichte des Covers kennen, um es einschätzen zu können? Dann wäre das Urteil aber kein Ästhetisches mehr, sondern ein Politisches oder Intellektuelles.  

Die Midcult-Debatte im vorliegenden Buch wird erst auf Seite 166 im Rahmen des Kapitels "Demokratisierung" eröffnet. Ein interessantes Detail am Rande ist, dass die Bemerkungen über die Lyrikerin Rupi Kaur, die ihre Karriere auf Instagram begann und über virales Marketing inzwischen rund 3,5 Millionen Bücher verkauft hat, mit dem Baßler seinen Aufsatz beginnt, im Buch fehlen. So bleibt außer Sigrid Löfflers Bedenkentum gegen die Profanisierung der Literaturkritik durch wen auch immer eine dezidierte Betrachtung über digitale Literaturvermittlung auf der Strecke und die Frage, wer jetzt nun ästhetische Urteile vornehmen "darf", wortreich unbeantwortet.

Die einzige "Demokratisierung", die in diesem Kapitel Erwähnung findet, ist der Protest der Buchhändler gegen die nahezu einstimmigen, bisweilen heftigen Verrisse von Takis Würgers Roman "Stella" durch die etablierte Literaturkritik. Ohne auch nur ansatzweise die Kritikpunkte an Würgers Buch aufzufächern, wird der "öffentliche Brief" der Buchhändler fast abgefeiert. Literaturkritik, die sich als solche argumentativ mit einem Buch auseinandersetzt, sollte also darauf achten, dass ihre Verrisse nicht als geschäftsschädigendes Verhalten interpretiert werden kann? Hinweg mit diesen "Gatekeepern"? 50 Jahre nach Enzensbergers Prognose vom Literaturkritiker als "Zirkulationsagenten" eine bittere Pointe. Und wer soll denn in Zukunft Bücher wie "Gegenwartsästhetik" überhaupt noch zur Kenntnis nehmen, wenn Literaturkritiker zu Buchvermarktern umgeschult worden sind?

Die letzten beiden Kapitel behandeln das Anthropozän bzw. auch "Kapitalozän" genannt und die Digitalisierung. Bei Gegenwartsästhetik "im Zusammenhang mit dem Anthropozän" geht es "vorrangig um zwei Aspekte: erstens sichtbar zu machen, in welchen ästhetischen Formen mit welcher Spezifik und welcher Stoßrichtung die ökologische Situation des Planeten verhandelt wird (ohne sich auf ein Vorrecht der Kunst zu kaprizieren, die Natur zum Sprechen zu bringen); zweitens der Vorstellung entgegenzuarbeiten, menschliche Subjekte hätten ab jetzt vor Hyperobjekten zu erstarren." Wer auf interessante Einsichten zum Trend (!) des "Nature-Writing" gehofft hat, wird enttäuscht. Auch in diesem Kapitel schimmert "Ästh-Ethik" durch, aber spätestens jetzt müsste man wohl Karl Heinz Bohrer hervorholen, der jedoch (wie sollte es anders sein) im Buch nicht einmal erwähnt wird. Sein radikaler Ästhetizismus ist natürlich alles andere als seriell oder marktfonform und pfeift auf die Erwartungshaltung von "Stilgemeinschaften".

Abrechnung
Zur Digitalisierung fällt den Autoren ebenfalls wenig ein. Da wird ein bisschen Kathrin Passig zitiert, die schon länger eher konventionell unterwegs ist. Anachronistisch erscheint auch der Hinweis auf die "Riesenmaschine". Diese Webseite ist nun seit mehreren Jahren praktisch tot – außer ein, zwei Fotografien im Jahr von Konsumartikeln (Rubrik "Essen und Essenzielles") kann man da nichts mehr entdecken. Wobei einem natürlich sofort wieder der Markt einfällt.

Konkreter wird es etwas später, als es um Digitalisierung in der Gegenwartskunst geht, die  zur "augmentierte Realität" erklärt wird, welche die "Zweiteilung von realer und virtueller Wirklichkeit" transzendiere und in ein Kontinuum verwandle. Und so wird eine "gegenwartsrelevante Literatur […] die augmentierte Realität als solche wahrnehmen und als ästhetische Herausforderung behandeln." Ja, das Smartphone muss dabei sein. Da schimmert ein "digitaler Realismus" hervor, aktuell, von mir aus auch "nice"  – aber man kommt doch rasch auf den Gedanken der Parallele zum unsäglichen "sozialistischen Realismus" der 1960er ff. als Idealzustand von "Kunst".

Gegenwartsästhetik ist, so heißt es einmal, wenn "die Entscheidung für ein Produkt […] nicht länger bloß als Effekt einer hinterlistigen Persuasion, sondern viel eher als Manifestation eines ästhetischen Urteils begriffen" wird. Das ist ein Satz, der eher an die FDP denken lässt als an literaturästhetische Betrachtungen.  

Am Ende erfolgt aus sicherer Hochschulwarte heraus eine veritable Abrechnung mit den "nostalgischen Verteidiger[n] des autonomen ästhetischen Spiels". Es mündet in der Aussage, dass früher das Private "vielleicht mal politisch" gewesen war, "heute ist das Politische privat." Das ist erstaunlich, denn zuvor wurde an  einigen Beispielen deutlich, dass das Politische (vulgo auch: das Ethische) längst zur Basis ästhetischer Normen bzw. Kriterien geworden ist. Privat ist heute – leider! - nichts mehr.

Alles wird moralisch aufladen. Es beginnt beim Gendern (von den beiden Autor:innen der "Gegenwartsästhetik" selbstverständlich praktiziert), setzt sich bei der Mosebach-Austreibung und der adäquaten Behandlung des Klimawandels in Kunst und Literatur fort und endet in einer "Ästhetik der Rückkopplung" – ein Euphemismus für: Kauf einer stilistisch aufgeladenen Ware. Gegenwartskunst dient damit, so könnte man es zuspitzen, entweder (vermeintlich) ethisch-moralischen Zielen oder verkommt zur Verkaufsveranstaltung. Im Idealfall beides.

Wer jetzt glaubt, die Lektüre des Buches sei überflüssig, irrt. Man sollte es schon deshalb lesen, um künftig seine gegenwartsästhetischen Erlebnisse auf ein Normalmaß zu beschränken. Zur Abschreckung, sozusagen.

Artikel online seit 16-.09.21
 

Moritz Baßler & Heinz Drügh
Gegenwartsästhetik
konstanz university press
307 Seiten, 52 überw. farb. Abb.
€ 28,00
978-3-8353-9138-3

 

 


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