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Bäume, Menschen und signifikante Gleichartigkeit

Über die zunehmende Bedeutung des
»Neuen Materialismus«


Von Peter Kern
 

Ein Buch zur Einführung in eine philosophische Richtung, die im Plural auftritt, verspricht gut angelegtes Geld zu sein. Statt die Bücher von sieben Autorinnen und Autoren zu lesen, liest man nur eins und weiß dann ungefähr Bescheid. Die Neuen Materialismen bringen sich gegen die Sprachpragmatik in Stellung, das steht gleich in der Einleitung. Auf den linguistic turn soll der material turn folgen. Man ist gespannt. Bringt dieser Materialismus zurück, was die Sprachpragmatik unter den Tisch fallen lässt? Die versteht sich als Subjektphilosophie und die Welt der Objekte geht sie nichts an. An der äußeren und der inneren, der menschlichen Natur, zeigt sie sich desinteressiert. Daher fällt die Natur gleichsam doppelt aus: In der ökologischen Krise und in der Philosophie, die die Krise nicht verzeichnet.

In philosophischen Debatten, sofern sie etwas taugen, werden keine Spezialthemen für Eingeweihte verhandelt. Der Geltungsanspruch einer philosophischen Theorie hängt an der von ihr gebotenen Lösung für die Bruchstellen ihrer Epoche. Die Sprachpragmatik, die Diskurstheorie erscheinen als eine Philosophie der vergangenen Epoche, als passend zu den entwickelten, demokratisch verfassten Industrienationen des späten 20. Jahrhunderts, denen ihre natürliche Umwelt noch kaum problematisch geworden war.

Die von Katharina Hoppe und Thomas Lemke vorgestellten Autorinnen und Autoren arbeiten als Soziologen, Kunsttheoretiker und Kulturwissenschaftler. Alle argumentieren mit Bezug zur Philosophie und hantieren mit deren klassischen Begriffe: Objekt, Subjekt, Ding, Ontologie, Phänomen, Ding an sich. Die beiden Autoren würdigen und kritisieren ihre Kolleginnen (es sind meist Frauen), und das Schlusskapitel des Bandes gehört ihrer eigenen Position. An der Sprache der beiden darf man sich nicht weiter stören. Mittlerweile gibt es einen Sprech, den die Bürowelten und die akademischen wohl gemeinsam haben. Das Adressieren und Focusieren und Profilieren ist ubiquitär.

Die vorgestellten Theorien kommen durch die Bank gravitätisch daher. Es scheint Ehrensache zu sein, mit nicht weniger aufzutreten als den überwundenen »modernen Dualismen…von Kultur und Natur, Geist und Körper, Mensch und Nicht-Mensch.« Die größten Rätsel der Philosophie scheinen in Luft aufgelöst. Ist das Denken seinem Gegenstand adäquat? Was für eine Frage! Das materialistische Denken hat beides in der Tasche.

Im ersten Kapitel wird ein Graham Harman vorgestellt, und gleich fragt sich der Leser, worauf er sich denn da eingelassen hat. Der Herr hat Guerilla Metaphysics geschrieben und eine OOO, eine objektorientierte Ontologie erfunden. Gehört das in die Philosophie oder in eine Otto Muehlsche AAO? (Die Älteren erinnern sich vielleicht an den Begründer der Aktionsanalytischen Organisation Ende der 60er Jahre). Katharina Hoppe und Thomas Lemke gehen erkennbar auf Distanz. Vielleicht wollen sie erst einmal den Mist abräumen, damit die Substanz zum Vorschein kommt, hofft man beim Lesen.

Bei der OOO verhält es sich, wie geahnt: Unter dem Absoluten macht es Harman nicht, aber das Absolute zu denken, ist ihm zu beschwerlich, also schlägt er Schaum und gibt diesen als Substanz aus. Die »kantianische Katastrophe« habe den »echte(n) Zugang zum Realen verstellt.« Nun gälte es, »die wahre Natur der Dinge jenseits menschlichen Denkens zu entdecken.« Man versteht, die Guerilla führt hinter die feindlichen Linien des menschlichen Bewusstseins, und dann schauen wir die Dinge an, wie sie an sich sind. Von hier ist man schnell bei der Fundamentalontologie und folgerichtig wird Heidegger gerühmt, weil der weiß, was »hinter allen Phänomenen liegt.«

Und selbst Heidegger reicht nicht hin. Die »flache Ontologie« im Dienst der »ökologischen Sensibilität« will eine Objektwelt, in der alle Subjekte getilgt sind, weil es nur noch Objekte gibt, die Bäume, die Atome, die Lieder, die sie singenden Menschen. Das ist wahrlich flach gedacht. Die beiden Autoren notieren bei Harman einen naiven Realismus, aber das beleidigt eigentlich die realistische Philosophie. Dass sich die Subjekte dementiert finden, notieren sie nicht; es scheint sie nicht weiter zu stören. Was sie stört, ist etwas anderes: Harman spreche den Naturdingen Qualitäten zu, das könne nicht angehen, das sei ein mythischer Rest im Materialismus. Der von ihnen favorisierte verträgt solche »Essentialisierung« nicht.

Was ist mit Essenz (oder Wesen) und Qualität gemeint? Der Baum, von dem Harman handelt, steht als Esche im Wald, das qualifiziert ihn, das macht sein Wesen aus. Den Baum ohne Qualität zu denken, reduziert ihn auf ein isoliertes Einzelding, ein absolutes Objekt, das an keinem Allgemeinen partizipiert. Das Allgemeine, die Esche, ist dann nur ein Wort, ein Zeichen, das auf nichts Substantielles geht. So hat es die Philosophie gesehen, die mit der bürgerlichen Gesellschaft in die Welt getreten ist. Dem Herrschaftsanspruch über die Natur, auch über die menschliche, war diese Philosophie freundlich gesonnen. Ein Materialismus, der die Materie als entkernt ausgibt, stellt sich in diese Denktradition.

Im zweiten Kapitel wird ein vitaler Materialismus vorgestellt. Auch die ihn vertretende Jane Bennett überwindet locker alle traditionellen Dualismen, als da wären: Materie und Leben, anorganisch und organisch, passive Objekte und aktive Subjekte. Wieder muss die Ökologie herhalten, damit moralisch den Segen erhält, was ihn theoretisch nicht verdient. Es geht um die Macht der Dinge, demonstriert an einem Stromnetz in Nordamerika. Es kollabiert nicht deshalb, weil der US-amerikanische Staat die Infrastruktur verrotten ließ, sondern weil die Dingwelt, die Apparaturen, ein wirkmächtiges Gefüge bilden. Spinoza wird bemüht und seine natura naturans. Spinoza, so sei erinnert, ist der Name eines Philosophen, keine Art Heureka, die uns das Innere der Natur erschließt.

Für den Philosophen des 17. Jahrhunderts war die Natur göttlich, weil sie ihm identisch mit der Mathematik und den Naturgesetzen war. Wieso feiert Frau Bennett Spinoza? Der hätte sich die Augen gerieben über eine »neo-animistischen Ontologie«, die vier Jahrhunderte nach ihm zu Ehren kommen will. Hoppe und Lemke werfen der Kollegin einen romantisierenden Naturbegriff vor, was etwas merkwürdig ist, denn die zweite Natur, die Apparatur, ist ja technisch hoch armiert. Das propagierte Parlament der Dinge, das diesen Dingen Sitz und Stimme einräumen soll, finden sie nicht überzeugend.

Eine Wissenschaftstheoretikerin namens Karen Barad wird vorgestellt, die mit einer Synthese aus Quantenphysik und Poststrukturalismus eine »kritische Überprüfung der Grundannahmen der westlichen Epistemologie und Ontologie« vornehmen will. Der Leser ist mittlerweile abgehärtet; dass große Worte gelassen ausgesprochen werden, ist er vom Neuen Materialismus schon gewohnt. Die Quantenmechanik wird seit Heisenberg gerne dafür in Anspruch genommen, die Kantsche Natur, »das Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist«, in Frage zu stellen. Frau Barad folgt dieser Auffassung, und die Differenz zwischen Makro- und Mikrophysik irritiert sie nicht; denn das »übliche dualistische Denken über Kausalität« hat sie längst überwunden.

Für die Alten, die man einmal die Historischen Materialisten nannte, sollte es zu der Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt vielleicht in der Zukunft kommen, wenn die emanzipatorischen Kämpfe erfolgreich wären. Für die heutige Materialistin braucht es keine Zukunft und kein Sollen mehr, denn die Versöhnung gilt ihr als längst geschehen. Und ausgerechnet die Welt der Apparate – sie umfasst technische Instrumente, kulturelle Strukturen und soziale System, also eigentlich alles – biete sie. Hoppe/Thomas plagt schwer der Verdacht, dieser Materialismus könne mit Affirmation identisch sein.

Rosi Braidotti, das nächste Porträt, hat, so erfahren wir, eine Subjekttheorie erarbeitet, die der Philosophie den Logozentrismus austreibe. Ihre Subjektivität ist »materialistisch und vitalistisch, verleiblicht und eingebettet.« Das Wort vitalistisch taucht nicht zufällig auf. Braidotti spricht, das macht sie den beiden Autoren sympathisch, den »Entitäten«, also Mensch und Natur, kein Ansichsein zu; demnach passt ein Trieb besser zu ihnen als ein Zweck. Die alten Materialisten kannten noch Zwecke. Sie nannten Stoffwechsel den die Natur aneignenden Produktionsprozess, und Marx hat den Stoffwechsel der bürgerlichen Gesellschaft begrifflich bestimmt. An die Stelle des bestimmten Begriffs wabert bei Braidotti der Lebensbegriff (den Schelling einen »Notbehelf der Unwissenheit…und ein Produkt der faulen Vernunft« nannte). Mit dem nichtmenschlichen Leben wäre ein Bündnis einzugehen. Der Vitalismus, der die europäische Rechte im 20. Jahrhundert beflügelte, hat das Vorzeichen gewechselt und soll nun emanzipatorisch zu Buche schlagen. Eine befreiende Kraft entstehe, vorausgesetzt, wir würden »ontologisch sensibel agieren.«

Hoppe und Lemke sind auch mit diesem Schützling nicht wirklich zufrieden. Wiewohl sie ihm eine seiner Schoten durchgehen lassen, betrifft den menschlichen Leib. Ja, ihn gäbe es in der Regel zweimal, als männlichen und weiblichen. Dennoch eigne ihm kein biologisches Substrat. Was die geschlechtsdifferenten Körper hervorgebracht habe, seien bloß die kulturellen Codes. Man kratzt sich hinter dem Ohr. Wenn die Natur restlos in Codes verdampft, warum ist dann ständig vom Materialismus die Rede?

Elizabeth Grosz knüpft an die Evolutionsbiologie an. Vielleicht ist sie zu tief in das Fach eingestiegen, denn bei ihr liest man Sätze, die sich in das vorgestellte Theoriegebäude gar nicht einfügen lassen. Es geht ihr um »ein weitergehendes Verständnis der rahmenden Bedingungen von Materialität…, die selbst nicht materiell sein können.« Der erste Satz, der sich unterschreiben lässt, steht auf Seite 108 des Buchs.

Es ist die Fachwissenschaft, die Erkenntnis beisteuert. Die Psychologin Elizabeth Wilson schreibt über die wechselseitige Durchdringung von Körper und Psyche. Sie demonstriert keine Wechselbeziehung an einem Beispiel, das ihr ein philosophisches Theorem beweisen soll, sondern sie zeigt, wie erworbene Traumata mit den Muskeln verwobenen sind. Sie attackiert den neurowissenschaftlichen, das psychische Erleben im Gehirn lokalisierenden Vulgärmaterialismus. Von dieser Art Kritik hätte man gerne mehr gelesen.

Die zum Schluss vorgestellte Autorin, Donna Haraway, wird ein wenig als der Shooting Star der Szene gefeiert, haben ihre Schriften den neuen Materialismus wohl initiiert. Sie hat Manifeste mit witzigen Titeln geschrieben. (Das Manifest für Gefährten. Wenn Spezies sich begegnen – Hunde, Menschen und signifikante Andersartigkeit.). Donna Haraway liefert den Herausgebern dieses Buchs den ihnen am meisten behagende Materialismus. Ihm zufolge gibt es nur, was Haraway Verschaltung nennt. Diese sei das Primäre, denn aus ihr gingen die materiellen Körper erst hervor.

Das Wort von der Verschaltung ist strikt philosophisch gemeint, nicht bloß soziologisch im Sinne von Systemtheorie. Es geht um nicht weniger als um »ontologische Relationen.« Die Relationen bestimmen, was ist und was unterbleibt. In der Sprache der Philosophie: Sie sind das Sein. Das stellt vor ein Problem: Lässt sich etwas verschalten, wenn das Etwas sich dem Vorgang des Verschaltens erst verdankt? Es wäre eine creatio ex nihilo.

Katharina Hoppe und Thomas Lemke, weit entfernt sich vom starken Tobak abschrecken zu lassen, stimmen begeistert zu. Im Schlusskapitel umschreiben sie das Verschalten, nennen es, den Braidottischen Begriff aufnehmend, das Gefüge. Sie feiern das Gefüge, weil es »das epistemologisch-ontologische Primat von Relationen materialisiere«. Ihr Materialismus lässt die Welt in Funktionsbeziehungen aufgehen. Das ist die Konsequenz ihrer Erkenntnistheorie, die behauptet, die Natur, sie sei wesenlos.

Als wesenlose ist die Natur das Material von Herrschaft. Ein Denken, das den Dingen und Menschen ihr Ansichsein bestreitet, macht sich mit den herrschenden Verhältnissen gemein, auch wenn es vermeint, aus ihnen auszubrechen. Wer aus dieser Gedankenwelt ausbrechen will, muss sich nach einer Metaphysik umschauen. Ein Tipp: Karl Heinz Haag. In seiner Negativen Metaphysik erfährt man, wie teuer es zu stehen kommt, den Individuen und ihrer natürlichen Umwelt das Wesen abzusprechen.


Artikel online seit 02.09.21
 

Katharina Hoppe/Thomas Lemke
Neue Materialismen zur Einführung
Junius-Verlag
200 Seiten
15,90 €
978-3-96060-322-1

 


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