Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 








Zeitgeschichte in Schlaglichtern

Jan Grossarths 27 Erkundungen
»Heiligenleuchten«

Von Peter Kern

Von den Symptomen auf der Erscheinungsebene auf das Wesen der Gesellschaft zu schließen, ist ein bald altehrwürdig zu nennendes Verfahren kritischer Soziologie. Für diese Soziologie ist kein Phänomen zu popelig, als dass sich nicht das Ganze der Verhältnisse an ihm ablesen ließe. Was die Zeitung unter Vermischtes meldet, ist ihr bevorzugtes Terrain. Ihr Vorgehen hat als ein methodischer Individualismus zu gelten. So gestrickte Texte kanzeln den Journalismus nicht mit einem elitären Lamento ab. Sie halten es stattdessen mit Walter Benjamin: „Es ist der Schauplatz der hemmungslosen Erniedrigung des Wortes – die Zeitung also – auf welchem seine Rettung sich vorbereitet.“ Dem erniedrigten Wort, der zur Zeitung heruntergekommenen Schrift soll in der Zeitung wieder aufgeholfen werden, das ist laut Benjamin eine dialektische Strategie.

Im vorliegenden Fall tritt neben dem Zeitungsverlag ein zweiter Helfer auf den Plan, ein Buchverlag. Die in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlichten, hier besprochenen Geschichten hat das Westfälische Dampfboot gebündelt und noch einmal publiziert. Wer die Geschichten mit Gewinn lesen will, braucht nicht den Blick der Soziologie, der eines Zeitunglesers tut’s auch. Denn man wird richtig gut unterhalten. Und was man über die bundesdeutsche Gegenwartsgesellschaft lernt, erfährt man gleichsam en passant.

Sie hat zum Beispiel eine Vorliebe für Bücher mit dem Wort Lüge im Titel. Als Bestseller favorisiert sie: Die Zucker-Lüge. Wie das Lebensmittel-Kartell uns einredet, dass Essen krank macht. Titel wie Die Milch-Lüge oder Die Mutterglück-Lüge haben auf dem Buchmarkt Potential, ebenso wie Die Fleiß-Lüge. Warum Frauen im Hamsterrad landen und Männer im Vorstand . Dieses Buch öffnet uns, laut Verlagswerbung, die Augen. All diese Bücher öffnen die Augen. Man sieht eine Gesellschaft, die sich unablässig betrogen und in einem Wahn befangen sieht. Denn Titel mit Wahn sind ebenfalls der Renner: Der Gotteswahn, Der Genderwahn, Der Sojawahn,  Eine Gesellschaft vom Irrsinn umstellt, die aus dem Bann böser Mächte ausbrechen will, lernt man in Jan Grossarths Buch kennen. Das lässt an die Irrenhaus-Witze der frühen Jahre denken: Der Direktor der Anstalt zeichnet mit Kreide eine Linie auf den Boden, und verspricht Freigang für jeden, der drunter durchkommt.

Viele Beulen sind in den 27 Stories zu besichtigen. Ganz neue Beulen, die uns die Influencer verpassen und ganz alte Beulen. Der Autor ist sich nicht zu fein dazu, reinzustechen. Im Falle der alten handelt es sich um eitrige Geschwüre. In der Idylle Mittelhessens, dem Übergang von der flachen Wetterau zu den Hügeln des Vogelsbergs, liegt Ober-Seemen. Hier, im Gasthof Zur Linde, hatte sich die jüdische Familie Schuster versteckt, aber das Versteck war keines, das sie vor dem Vernichtungslager Sobibor bewahrt hätte. In der Linde bestellt Jan Grossarth frittiertes Hähnchen und einen Kümmel, aber der Schnaps hilft nicht bei der Verdauung. Die Synagoge des Dorfs diente einmal als Standesamt, Grundschule, Fabrikraum und Gefängnis für Kriegsgefangene. Fünfzig Jahre später kam das New Age hierher und mit ihm das Om, Om, womit man das Bewusstsein leert und das Vergessen lernt. Die Meditationstechnik ließ sich in der Synagoge erlernen.

Der Autor besichtigt einen ehemaligen Kräutergarten. Dort sprossen einmal hunderte verschiedene Arten von Heilkräutern. Neben den Beeten stehen die aufgelassenen Gewächshäuser. Hier wuchsen der Salbei und der Thymian und die vielen anderen Sorten, bevor sie im Frühjahr ins Freiland kamen. Der Mondkalender gab den rechten Zeitpunkt vor. Statt Pestiziden wurde gemahlenes Kuhhorn zum Düngen untergegraben. Wer grub und erntete? Häftlinge des KZ Dachau. Vierhundert starben hier, auf der bio-dynamischen Plantage im Besitz der SS. Einen Hofladen gab‘s, und Gesundheitstees für die gesundheitsbewussten Bürger Dachaus.

Neben der Vergangenheit kommt die Gegenwart in dem Buch nicht zu kurz. Es ist die Gegenwart der Mc Kinseys, der Sozialverbände, der Elitehochschulen, der Mitfahrzentralen, der Althippies, der Stadtcamper, der Postmigranten, der Glücksforscher, der Redaktionskollegen und der Dalai Lama-Gemeinde. Auch zu Ausflügen über die deutsche Grenze nimmt der Autor uns mit. Dann geht es zu religiös enthusiasmierten Wolgaschiffern oder zu den Leuten der Vojvodina, die unablässig fragen: „Jan, wie findest Du uns Serben?“

Der Autor leidet nicht an der Urteilskrankheit, sondern hält einfach fest, was er sieht und hört. Bei den Absolventen einer European Business School hat er vorbeigeschaut, als die vorletzte, die Finanzkrise 2008, die Investition in den BWL-Master zweifelhaft erscheinen ließ. Der Abschluss kostet über fünfzigtausend Euro, nicht für jede Familie ein Klimpergeld. Felix, ein Absolvent, könnte trotz Krise bei der Firma Henkel anheuern; deren Personaler war gerade zum Firmenkontaktgespräch da. Der Managing Director International Haircare hat mit einem Produkt seines Hauses sein Haupthaar nach hinten gelegt. Mit Powerpoint-Folien will er die Power von Schauma Granatapfel rüberbringen. Das Produkt ist von der Wirtschaftskrise nicht tangiert, und ein Job bei Henkel wäre es ebenso wenig. Aber Felix hat auf Schauma keinen Bock. Consulting, Investment-Banking, Asset Management, das wär’s.

Die European Business School steht im mit Rieslingreben bestandenen Rheingau. Thomas Mann ließ seinen Felix Krull hier aus der Schiefererde wachsen. In den Bekenntnissen des Hochstaplers steht: „Ich erwachte zum Beispiel eines Morgens mit dem Entschlusse, heute ein achtzehnjähriger Prinz namens Karl zu sein, und hielt an dieser Träumerei während des ganzen Tages, ja mehrere Tage lang fest.“ Ein heutiger Felix Krull hängt keinen Träumereien nach, sondern macht vier Praktika, diverse Auslandsaufenthalte und absolviert Marathonläufe. Er hat auf sich selbst wie auf ein Rennpferd gesetzt. Er verfolgt eine Strategie, und zum Leidwesen seiner späteren, untergebenen Umwelt geht die mit ziemlicher Sicherheit auf.

Wird er glücklich dabei? Wie hoch ist überhaupt der Glückslevel der deutschen Gesellschaft? Es gibt Panels, Vektoren und eine World Database of Happiness, um dies herauszufinden, erfährt der Leser. Infratest geht der Frage nach. Der Bundestag hat eine Enquete-Kommission eingerichtet. Sie klingt, als wären Die Grünen schon Mitglied der Regierung: Alternative Wohlstandsindikatoren. Was das Glück stört, weiß man in Umrissen, Kinder beispielsweise. Sex soll man nicht übertreiben, sonst kippt die Sache in Unlust um. Auch folgendes haben hochbezahlte Wissenschaftler herausgefunden: „Das Gegenteil von Glück ist dauerhaftes Unglück, Depression, also ein Krankheitsbild, was auch kassenärztlich abrechenbar ist.“ Sollte nicht auch das Glück abrechenbar sein? Man könnte sich einen Bonus vorstellen. Wer soundso viele Punkte auf der Glücksskala aufweist, bekommt von der AOK einen Nachlass. Wie das Glück messen? Ganz einfach, die Gehirnströme, so hat die Wissenschaft erforscht, weisen es verlässlich aus.

Auch Chefs machen unglücklich. Man ist, so ein vom Autor befragter Glücksforscher, „irgendwann nur noch Sklave des Arbeitgebers und der Kinder.“ Auf Kinder lässt sich verzichten, auf Chefs eher weniger. Kein Kraut ist gegen sie gewachsen, keine Partei oder Organisation. Einmal taucht in Jan Grossarths Geschichten ein SPD‘ler auf. Er heißt Strenge, aber nomen ist nicht immer gleich omen. In dem von ihm als Bürgermeister regierten Dorf geht alles seinen sozialdemokratischen Gang. Die Arbeitslosenquote ist gering, der Volleyballverein erfolgreich und Gewerbsteuer zahlt die erdölfördernde Industrie. Ist die SPD nach Saudi-Arabien abgewandert? Grossarth hat eine emsländische Raffinerie besucht.

Was es nicht alles gibt! Darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, ist das Schöne an diesem Buch. Es räumt weitflächig mit Vorurteilen auf. Ein Beispiel aus dem Selbstversuch des Autors, der sich als Anbieter der Dienstleistung Mitfahren versucht. Die seiner Ich-AG zur Verfügung gestellte App heißt Bla Bla Car; hier kann er gebucht werden. Die Mitfahrer von Frankfurt nach München haben alle Zeit der Welt zum Bla Bla. Was ist unerträglicher, die Politologin, über Marx und die Gegenwart dozierend, der Schokolade verteilende Killerspielprogrammierer oder der junge Tunesier, werdender Ingenieur im Hauptstudium und Islamforscher (oder Völkerkundler?) im Nebenfach?

„Du Jan, bist Deutscher, und du trinkst, stimmt es? Aber sag: Wie wirst du dann? Ruhig! Aber wir Araber, wir werden nicht ruhig, wir werden wild und aggressiv. Junge, ich kenne uns Araber, glaub mir! Gott kennt uns Araber, und Gott kennt euch. Er hat uns deswegen gesagt: Trinkt wenig, passt auf! … Es ist nicht böse, wenn wir ein bisschen Alkohol trinken. Und ich sage dir: Wenn es eine Chance, fifty-fifty, gibt, dass Gott existiert, was ist dann klug zu tun? Es ist klug, zu glauben. Wenn du nicht glaubst, und nach dem Tod gibt es Allah, dann bist du verloren in der Hölle … Also bewahre die Chance! Gott will, dass du glaubst.“

Blaise Pascal mit seiner Wette hat’s nicht schöner gesagt. Von ihm stammt der Satz, das ganze Unglück der Menschheit käme daher, dass ihre Vertreter nicht mit ihrem Hintern zuhause bleiben könnten. Blieben aber alle in ihren vier Wänden, wäre das Unglück nur ein anderes, denn dann müsste man auf Geschichten verzichten, wie sie Jan Grossarth von seinen Reisen mitgebracht hat.

Eine sei noch als Appetizer erwähnt. Das Heiligenleuchten passiert auf der Wolga, und es geht von den Ikonen aus. Man muss erleuchtet sein, um das Leuchten wahrzunehmen, ein hermeneutischer Zirkel, ohne den kein Heilsversprechen zu haben ist. In der titelgebenden Geschichte geht es um die russisch-orthodoxe Kirche und ihre Mission. Den Orthodoxen sind die Zeitläufte nach dem Ende der Sowjetunion wieder günstig. Als Jelzin den Zaren gab, war der Bau einer neuen Basilika einmal das größte Bauprojekt Moskaus. Auch mit seinem Nachfolger fraternisiert der Moskauer Metropolit; dass Putin eher Höllenhund als Christenmensch ist, spielt keine Rolle. Die Basilika auf dem Wolgadampfer kann mit der moskowiter natürlich nicht mithalten. Das Kapellchen auf dem alten Flussdampfer mit seinen drei vergoldeten Zwiebeltürmchen sieht eher kurios als prachtvoll aus. Maxim, der Pope und sein Kapitän Igor fahren die hintersten, am Fluss gelegen Käffer an. Sind sie dort angelandet, müssen sie für das Marketing sorgen, das Anschlagen von Werbezetteln an den Kiosken und den öffentlichen Gebäuden. Das Angebot der Taufe gilt für Neugeborene, Spätberufene, Feldfrüchte und Traktoren. Gibt es Rabatt bei Mehrfachtaufen? Der Autor des hier besprochen Buchs hat ausnahmsweise einmal seine Neugier gezügelt.


Artikel online seit 08.07.21
 

Jan Grossarth
Heiligenleuchten
Erkundungen (2008-2019)
Westfälisches Dampfboot 2021
170 Seiten
18,00 €
978-3-89691-062-2

 

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten