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© Antonisse, Marcel / Anefo / Nationalarchiv der Niederlande, CC0













Deutsch-deutsche Pflichtlektüre

Streifzug durch die Stefan-Heym-Werkausgabe bei Bertelsmann

Ein Essay von Lothar Struck
 

Wer kennt ihn noch, Stefan Heym? Ein Mann mit einem großen Kopf, buschigen weißen Haaren an den Seiten, tiefer Stimme, fast ein Bass, bisweilen mit Baskenmütze oder in einem opulenten Sessel sitzend und ziemlich langsam, fast suchend, sprechend. Damals, in den 1970er Jahren, kam er häufig in den Kultursendungen im deutschen (West-)Fernsehen vor, seine neuen Bücher, die nicht in der DDR erscheinen durften, wurden regelmäßig vorgestellt. Heym hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Kommunist war. Aber er war kein Parteigänger. Seine Kritik hatte für mich damals immer etwas Doppeldeutiges. Galt doch im Zeitgeist der "Dissident" fast automatisch als "kalter Krieger". Wer die sich sozialistisch nennenden Regime kritisierte, wurde schnell als Revisionist abgestempelt, der der "Entspannung", also dem Fortschritt, im Weg stand. Dabei verstörte dann, dass ein Kritiker der DDR-Verhältnisse nicht auch gleich Antikommunist war. Die Schubladen klemmten.

Inzwischen ist die DDR Geschichte. Und Stefan Heym zwanzig Jahre tot. Aus diesem Anlass gibt der Bertelsmann Verlag in einer 28 bändigen Ausgabe das Gesamtwerk des Schriftstellers neu heraus. Und zwar, das ist ziemlich einzigartig, fast ausschließlich als digitale Werkausgabe, per E-Book (nur "Ashaver" und "Nachruf" erscheinen als Neuauflage in gedruckter Form). Im November ist "Flammender Frieden" der von Heym 1944 verfasste Roman "Of Smiling Peace" erstmals auf deutsch erschienen. Hier folgt man der Buchhandelslogik und publiziert zuerst das Papierbuch (nebst ungekürzter Hörbuch-Ausgabe). Von einem E-Book ist hier nichts vermerkt. So wird die digitale Gesamtausgabe  sofort wieder ein bisschen unvollständig, was schade ist. Denn die zum Teil verstreut erschienenen Bücher unter einem Dach zu bündeln und dann noch in digitaler Form ist eine kluge und nachhaltige Entscheidung, um das Werk dauerhaft verfügbar zu halten.

Biographisches
Geboren wurde Stefan Heym 1913 als Helmut Flieg in Chemnitz. Er war der Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Schon als Schüler fiel er mit seinen Gedichten auf. Abitur in Berlin, dann Studium der Journalistik, welches er 1933 abbrach. Nach dem Reichstagsbrand Flucht nach Prag, dort tätig mit kleinen Artikeln als "Stefan Heym". Durch gute Verbindungen bekam er ein Stipendium in die USA und setzte sein Studium in Chicago fort. Er wurde journalistisch tätig, u.a. für eine kommunistische Zeitung deutscher Emigranten. Heym hatte aber auch begonnen, Romane zu schreiben, in englischer Sprache (dies wird er für immer beibehalten; auch zu DDR-Zeiten schrieb er seine Manuskripte auf englisch). Sein erster Roman "Hostages" erschien 1942.

Heym nahm 1943 die Staatsbürgerschaft der USA an und landete 1944 mit den alliierten Truppen als amerikanischer Offizier in der Normandie. Er war, so die Literaturwissenschaftlerin Therese Hörnigk, in der "Abteilung für psychologische Kriegsführung" tätig, "verfasste Rundfunkansprachen, Flugblätter und verhörte Kriegsgefangene, wofür er mit der Bronze Star Medal ausgezeichnet wurde". Zusammen mit Hans Habe gründete er in München die "Neue Zeitung". Hier schrieb unter anderem Erich Kästner Feuilletons. Nachträglich wundert man sich – Habe und Heym waren politisch Antipoden: hier der konservative Ästhet, dort der gläubige Sozialist (vereint waren sie nur im Kampf gegen Hitler-Deutschland).  

1948 landete er mit dem als Antikriegsroman apostrophierten "The Crusaders" nicht nur in den USA einen großen Erfolg. Aus einen sozialistischen Ansichten hatte Heym auch in den Staaten keinen Hehl gemacht. Aber das politische Klima in den USA änderte sich. Aus Protest gegen die Kommunistenverfolgung durch McCarthy und den Koreakrieg gab er die Staatsbürgerschaft nebst seinen Auszeichnungen aus der Zeit bei der US-Army zurück. Er übersiedelte 1952 nach Prag, 1953 dann in DDR. 1959 wurde Heym mit dem Nationalpreis II. Klasse ausgezeichnet – die I. Klasse blieb den treuen Parteigängern wie Anna Seghers oder Hermann Kant vorbehalten. (1987 sogar noch Christa Wolf, aber das ist eine andere Geschichte.) 

Geschichtsunterricht
Große Verwirrung für den (westdeutschen) Nachrichtenkonsumenten und Entspannungspolitikbefürworter im November 1976. Der "Liedermacher" Wolf Biermann, der sich in Köln aufhielt, wurde trotz gültiger Papiere per Politbüro-Beschluss aus der DDR ausgebürgert. Ich erinnere das recht gut, weil wir der Meinung waren, uns das aufgrund der Situation ungekürzt im Fernsehen übertragene Konzert ansehen zu müssen. Dabei war selbst für den damaligen Schüler ersichtlich, dass Biermanns Kritik weniger das Theoriekonstrukt des Sozialismus betraf als deren Ausführung durch die SED. Die Ausbürgerung war somit eigentlich ein Paradox. Wovor hatte man Angst? Vor einem Mann mit einer Gitarre, der lustige und listige Liedchen sang (die einem in der Fülle mehrerer Stunden und ohne kontextuelle Einordnung irgendwann langweilten)? Oder war die Situation in der DDR tatsächlich so fragil? Konsultierte man die Medien, die den Entspannungskurs der Regierung freundlich begleiteten, erschien einem eine solche Annahme übertrieben. Andere Leute, die Kontakte in die DDR hatten, wussten es besser. Die Ausbürgerung schlug auch in der DDR hohe Wellen. Es gab Proteste. An vorderster Stelle fand sich Stefan Heym.

Die Entscheidung ist gefällt: Es beginnt mit Geschichtsunterricht: "Der Winter unsres Missvergnügens - Aus den Aufzeichnungen des OV Diversant". Das Buch erschien erst 1996, also zwanzig Jahre nach den Ereignissen um die Biermann-Ausbürgerung. Heym hat seine Tagebuchaufzeichnungen (vom 16.11.-24.12.1976) flankiert mit Auszügen aus seiner Stasi-Akte, in der er als "OV Diversant" (OV steht für "Operativer Vorgang") und seine Frau Inge Heym, Dramaturgin bei der DEFA-Film, als "OPK Film" (OPK gleich "Operative Personenkontrolle") geführt wurde. Hauptsächlich geht es in den Aktenausschnitten um "IM Frieda", Heyms damalige Hausangestellte, die, wie sich herausstellte, eine handschriftliche Selbstverpflichtung abgegeben hatte, für ein Handgeld von 100 Mark "plus Prämien und kleinen persönlichen Geschenken" (einmal gab es einen Fernseher im Wert von 2000 Mark). Dafür übernahm sie die "konspirative Durchsuchung des Schreibtisches, des Papierkorbs, der Bücherablage u. a. in der Wohnung des Heym". Als das Ehepaar in Urlaub war, entnahm sie dem Schreibtisch auch Manuskriptseiten, lieferte diese ab und platzierte sie kurz darauf wieder exakt an der Fundstelle. Er habe nie etwas gemerkt, so Heym. Später erfährt man noch, wieviele andere Personen in die Beobachtung der Heyms verstrickt waren, sich für das Leben der Anderen interessierten. Der fast durchgängig auffällig-unauffällig geparkte Entstörwagen "MF-13-22" war da nur ein blasses Ablenkungsmanöver.

Kontaktschuld
Der Titel ist eine Paraphrase von John Steinbecks Roman "Der Winter unseres Missvergnügens" aus dem Jahr 1961, in dem die Auswüchse des amerikanischen Kapitalismus der Eisenhower-Zeit literarisch aufgearbeitet wurden. Im Zentrum des Buches von Stefan Heym stehen seine Tagebuchaufzeichnungen. Er arbeitet im Herbst 1976 am Roman "Collin", als er von der Ausbürgerung Biermanns telefonisch erfährt. Anfangs noch unwillig, dies zu glauben, informiert er schließlich die graue Eminenz der DDR-Literatur, Stephan Hermlin. Die Verblüffung und das Unverständnis sind groß. Am nächsten Tag schon ein improvisiertes Schriftstellertreffen bei Hermlin, Sofort arbeitet man an einer gemeinsamen Erklärung, die einerseits das Verhalten der DDR kritisieren soll, andererseits allerdings auch sorgfältig abgewogen werden muss, um nicht, wie es schon damals hieß, von der falschen Seite "instrumentalisiert" zu werden. Schließlich wird die harten Formulierung, die Ausbürgerung zurückzunehmen, verändert. Jetzt bittet man darum, "die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken."

Es sind dreizehn Personen, die unterzeichnen: Sarah Kirsch, Christa Wolf, Volker Braun, Fritz Cremer, Franz Fühmann (er erteilt abwesend carte blanche), Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider, Gerhard Wolf, Erich Arendt und Jurek Becker. Man beschließt, den einheimischen Medien – der Nachrichtenagentur ADN und dem "Neuen Deutschland" (ND) – die Erklärung sofort zu geben. Die Nachrichtenagenturen Reuters und AFP erhalten den Text mit Sperrvermerk von einigen Stunden.   

Auch im Vorsprung des Wissens um mehrere Jahrzehnte ist die Lektüre eminent spannend, was nicht nur daran liegt, dass im Präsens geschrieben wurde. Anfangs unterschätzten die Protagonisten den Vorgang bzw. glaubten an ein Einknicken der SED-Führung. Heym, der nun wieder an seine Arbeit gehen wollte, findet allerdings – wie auch all die anderen - nicht zur Ruhe. Zum einen erhält er zustimmende Telefonate (die er abbürstet, zum einen, weil er nicht weiß, ob es Fallen sind und zum anderen, weil er glaubt, dass er abgehört wird), zum anderen jedoch harsche Ablehnung, letzteres vor allem in den offiziellen DDR-Medien. Es gibt seitenlange Ergebenheitsadressen im ND, endlose Stellungnahmen, die in den Nachrichten verlesen werden, die alle die Ausbürgerung rechtfertigen. Die schneidigen Kommentare des "Dr. K.", in Wahrheit wohl "Dr. Kertzscher […] ehemaliges Mitglied der NSDAP und Ritterkreuzträger, auch sein akademischer Titel stamm[t] aus der glorreichen Zeit."

Es sind an erster Stelle Anna Seghers und Hermann Kant, später auch Walter Janka und Peter Hacks; auch der sei zu den "Philistern übergelaufen", so Heym süffisant. Aber das wäre auszuhalten. Gravierender ist der Druck, der von Seiten der Parteigremien und des Schriftstellerverbandes auf jeden einzelnen aufgebaut wird. Gleichzeitig gibt es weitere Proteste gegen die Ausbürgerung durch Schauspieler und Filmleute; besonders die Anekdoten um Manfred Krug sind nett. Die Lage ist unübersichtlich, unter anderem auch wegen zahlreicher Widerrufe, die aufgrund von Pressionen erfolgen. (Das Jargonwort "Kulturschaffende" ist hier omnipräsent.)   

Hauptvorwurf an die Protestler: Man hätte dem Klassenfeind dadurch in die Hände gespielt, dass man ihm bzw. dessen Nachrichtenmedien die Protestnote zugeschickt hätte. Diese werde nun zur Anti-DDR-Propaganda verwendet. Heute, 45 Jahre später, nennt man so etwas "Kontaktschuld": Alleine die Tatsache, dass ein Text in den "falschen" Medien, von den "falschen" Personen publiziert bzw. zitiert wird, diskreditiert dessen Aussage. Damals wie heute absurd.

Was hätte man tun sollen? Die Erklärung der 13 wurde in den DDR-Medien nicht veröffentlicht. Das Argument, von Christa Wolf formuliert: "Druckt unsere Erklärung ab im Neuen Deutschland, sie ist sehr gemäßigt, und sie enthält bereits die Distanzierung vom Westen. Wie sollen wir denn etwas Zusätzliches schreiben zu einer Erklärung, die hier gar nicht veröffentlicht wurde?" Stattdessen werden nur die parteitreuen Gegenstimmen veröffentlicht, was für die Konsumenten der offiziellen DDR-Medien ein gehöriges Maß an Phantasie und Abstraktionsvermögen verlangt, denn man hat ja offiziell keine Kenntnis davon, was die anderen dort angreifen.

 

Heym selber sagt eine wenige Tage nach der Ausbürgerung geplante Lesung in West-Berlin ab. Er ist nicht mehr sicher, ob er zurückreisen darf. Für die Absage benutzt er ARD und ZDF, um in den DDR-Medien nicht falsch zitiert zu werden. Eine Zensur in der DDR kann man, so Heym einmal, nur umgehen, in dem man im Westen veröffentlicht. Jahre später erfährt er, dass es nicht immer so ist.

Widerruf des Widerrufs
Heym und auch seine Frau leiden psychisch wie physisch. Die DDR ist – unabhängig beispielsweise von so etwas wie dem "Schießbefehl" - "ihr" Staat, aber die politische Identifikation fällt immer schwerer. Die Machthaber sprechen Drohungen aus, subtile und auch direkte; wer selber nicht angreifbar ist, der wird mit Partnern oder Kindern in Sippenhaft genommen. Einige  bekommen wirtschaftliche Schwierigkeiten, verlieren plötzlich Aufträge, wie beispielsweise ein Buchlayouter. Volker Braun wird zum Widerruf bewogen, widerruft dann kurz darauf diesen Widerruf. Heym, der Biermann nicht mag, aber dessen Kunst schätzt (und trefflich analysiert), sorgt sich um einen Staat, der seine Talente ausbürgert und gehen lässt, wie diesen jungen Thomas Brasch nebst seiner Frau, Katharina Thalbach, die binnen weniger Tage gehen durften. Heym schreibt in seinen Notaten auch kleine Personenportraits (wobei nicht klar ist, ob sie von 1976 sind oder später verfasst wurden). Überwunden geglaubten Zeiten Mitte der 1960er Jahre kommen ihm wieder in der Erinnerung. Und jetzt? Drohen wieder Prozesse? Wohin wird das Pendel ausschlagen? Inge Heym zieht die Konsequenzen und tritt aus der Partei aus. Ein mutiger Schritt.

Man taucht immer mehr ein in diese Szene, in die Abgründe der Vorladungen, (Schein-)Debatten, Abstimmungen, Rügen, Ausschlüssen, Widerrufen. Heym eruiert Seilschaften und Notverbindungen. Wem kann man trauen? Was kommt als nächstes? "Der dialektische Vorgang Sünde-Reue-Buße" wird zur Routine. Sogar Stephan Hermlin knickt ein, wenigstens teilweise, in dem er bekennt, es sei ein Fehler gewesen, die Protestnote an AFP zu geben. Und das von dem Mann, der mit Honecker reden kann.

Heym weiß, dass er verhältnismäßig sicher ist; seine Prominenz schützt ihn bis zu einem gewissen Grad. Sicher, da ist sein Kind (Inges Sohn). "Aber um die Kleinen, die Unbekannten ist mir angst", schreibt er. Die Notizen enden am Heiligen Abend. Biermann wird, das weiß man heute, nicht mehr zurückkehren. Es gibt Historiker, die hier die erste Zäsur, den Anfang von Ende der DDR ausmachen. Heym und die anderen konnten das damals nicht ahnen.

Unverstandene Generation – der Roman "Collin"
Aber drei Jahre später steht auch Stefan Heym vor dem Ausschuss des Schriftstellerverbandes der DDR. Der Grund war der bereits erwähnte Roman "Collin", der 1979 nur in Westdeutschland erscheinen konnte. Hauptfigur ist der Schriftsteller und Nationalpreisträger Hans Collin (geboren 1915), der mit einem Herzanfall in eine Berliner Spezialklinik verbracht wird. Der Zufall will es, dass auch der hochrangige Stasi-Mann Urack auf der Station liegt sowie die Frau des ehemaligen Spanienkämpfers Havelka.

Die einzelnen Kapitel des Buches sind je aus der personalen Erzählsicht einer Hauptfigur – Urack, Collin oder Roth - erzählt. Zusätzlich gibt es Kapitel die mit "aus den Notizen des Kritikers Theodor Pollock" überschrieben sind. Hier wird in einem eher an Thomas Bernhard erinnernden Duktus aus dem Tagebuch eines Theater- und Literaturkritikers berichtet. Vermutlich soll mit der bewussten Literarisierung dem Eindruck vorgebeugt werden, dass Pollocks Eintragungen Stasi-Berichte sind.

Der Roman greift zum einen in die Vergangenheit und schildert die Verwicklungen von Collin, Urack, Havelka und dem bereits verstorbenen Politbüro-Mitglied Faber, die bis in die 1930er Jahre zurückreichen. Collin hatte Havelka eine Etappennominierung im spanischen Bürgerkrieg zu verdanken. "Er müsse leben, um zu schreiben", so Havelka zum jungen Collin. Später entkam man dem Gefangenenlager und floh nach Mexiko. Auch hier spielten Beziehungen eine Rolle. Dann Rückkehr nach Deutschland, Aufbau der DDR. Der Tod Stalins 1953 ist die Zäsur, die zunächst als solche gar nicht wahrgenommen wird. Als die Ungarn sich 1956 auflehnen, strengt die immer noch im stalinistischen Denken verhafteten Nomenklatura Schauprozesse gegen Abtrünnige und "Verräter" an.

Die zweite Ebene ist die Gegenwart (also das Jahr 1979) in der Klinik. In einer Mischung aus "Zauberberg" und einer kafkaesken Variante vom "Krankenhaus am Rande der Stadt" wird in bisweilen durchaus humoriger Art und Weise die Feindschaft zwischen Urack und Collin ausgebreitet, ja zelebriert. So wünscht jeder dem anderen den Tod, weil der, der überlebt, glaubt, dadurch im Recht zu sein. Und dann wird auf einer dritten Ebene die Geschichte der zwischenzeitlich einzig normal erscheinenden Person, der Ärztin Dr. Christine Roth, erzählt. Roth, Mitte 30, hat eine Affäre mit dem jüngeren Peter, Uracks Enkel. Dieser wurde von dem Großvater als Zweijähriger nach dem Tod der Mutter aufgenommen. Und ausgerechnet der ist es nun, der sich nicht in den Apparat einfügt; seine Musik, die er in einer Band spielt, wird vom Großvater verachtet, vom System als mindestens zwiespältig eingeschätzt. Zur Sicherheit lässt er seinen Enkel rund um die Uhr beschatten. Der Clou ist, dass er trotz der Überwachungsmaßnahmen in den Westen flüchten kann.

Roth ist enttäuscht, resigniert und zieht sich so weit es möglich ist, zurück. Sie widersteht den schüchternen Annäherungsversuchen Pollocks. Und auch Collins Angebot als seine Muse zu fungieren, lehnt sie ab. Sie wird am Ende aus der Klinik wegbefördert, weil sie zu tief in die Mechanismen des Apparats geblickt hat und nimmt dies als Möglichkeit für einen Neuanfang.

Diese dritte Ebene des Buches braucht Heym, um den Generationenkonflikt in der damaligen DDR aufzuzeigen. Peter Urack, Beispiel der unverstandenen Jugend. Er nimmt frontal Stellung gegen "diese ganze Generation von gestern, die nicht mehr fertig wird mit der Welt" und mit Etiketten wie "Anarchist, Renegat, konterrevolutionäres, arbeitsscheues, unzuverlässiges, oppositionelles und so weiter Element, subjektiver oder objektiver Schädling, Gammler, Dissident, Traumtänzer" agiert und glaubt, "daß damit die Sache geklärt ist".

Das Schlimmste ist der Zweifel
Die Uracks und Collins sind die Generation, die "in Schuld verstrickt", "zu seelischen Krüppeln geworden" ist und mit "ideologische[m] Tohuwabohu" "aus Klassikern des Marxismus…über Nacht Ex-Klassiker" machte. Als Urack hört, dass der seit längere Zeit literarisch inaktive Collin an seinen Memoiren arbeitet, setzt er alles daran, herauszubekommen, was dieser bisher geschrieben hat. Wie sollte es anders sein: Er besticht ein paar Ärzte, damit Collin länger in einer Untersuchung außerhalb des Krankenhauses bleibt, um das Manuskript zu suchen und studieren zu können. Und er ist schockiert, was er liest.

Urack, der hohe Stasi-Offizier (mehr erfährt man nicht), sieht sich immer noch als Revolutionär, der Abweichlertum in keinem Fall dulden kann. Die Partei irrt nie, doziert er, denn "wir sind im Recht, historisch.". Das verhängnisvolle "Wir", bestimmt von Neurotikern. (Auch dies ist nicht auf die DDR beschränkt gewesen.) "Wir handeln für die Klasse, selbst wenn sie uns nicht immer versteht." "Das Schlimmste", so predigt er, "ist der Zweifel. Wer zweifelt, versagt. Wer zweifelt, schließt sich selber aus."

Schauprozesse um angebliche Abweichler, die sich nachträglich als unschuldig herausstellen, werden, wie man heute sagen würde, als Kollateralschäden betrachtet: "Falsch sei nicht gewesen, daß man irgendwelche Leute fälschlich verhaftet, fälschlich angeklagt, fälschlich abgeurteilt habe; wie könne falsch sein, was für die Diktatur des Proletariats getan werde? Falsch sei vielmehr das ewige Zurückweichen, die ewigen Konzessionen an die Intellektuellen, an die Kirche, an die Jugend, an die Konsumgier, an den Westen, ja, sogar die Mauer werde immer durchlässiger".

Dem gegenüber stellt Heym das Opfer, den Parteifunktionär Havelka, dessen Idealismus nicht mit der offiziellen Parteilinie übereinstimmte. Dessen Schicksal wird dem Leser wie eine Infusion tröpfchenweise verabreicht. Nach dem gescheiterten Aufstand in Ungarn 1956 wird Havelka als Verschwörer gegen die Parteiführung angeklagt, weil er die rebellierenden Kräfte in Ungarn unterstützen und dort vermitteln wollte. Die Schilderung des Prozesses von Havelka geschieht beim Tee bei Roth – symbolisch wird hier eine Generation informiert. Urack saß bei diesem Prozess, der sich vor vielen Jahren ereignete, prominent neben dem Generalstaatsanwalt (der ideologisch Hilde Benjamin ähnelt). Collin war auch anwesend, mit anderen "Kulturschaffenden" im ausgewählten Zuschauerkreis sitzend. Das soll abschrecken, was auch gelingt. Er, der große Schriftsteller, dessen Texte in Schulbüchern stehen, schweigt. Aber er fühlt sich von nun an immer schuldig, dem einstigen Lebensretter Havelka nicht beigestanden zu haben. Höhepunkt des Prozesses ist die Vorführung des vor einigen Jahren verurteilten und wieder freigelassenen Politbüromitglieds Faber als Zeuge, der, vollkommen eingeschüchtert, die suggestiven Fragen des Staatsanwalts zu beantworten hat – ansonsten droht man ihm offen, selber wieder angeklagt zu werden.

Der Schriftsteller als Instanz
Havelka muss für sechs Jahre ins Zuchthaus. Seine Schilderungen der Haft an Roth sind unprätentiös, fast nüchtern, aber dennoch ergreifend: "Das Schlimmste…ist der anonyme Wille, dem du ausgeliefert bist. Sie entscheiden, wann du aus dem Schlaf gerissen wirst und wie oft, sie entscheiden, wann die nackte, trübe Birne in der engen Zelle an- oder ausgeht, sie entscheiden, wann du atmest, denn es gibt ja nicht genug Sauerstoff da unten für deine Lungen, kein Fenster, das sich aufstoßen ließe, nur ein faustgroßes Loch in der Ecke oben an der Zellendecke, durch das sie gelegentlich Luft zu dir hinabpumpen, und oft genug glaubst du, sie lassen dich ersticken, und du willst schreien, aber du schreist nicht, denn dein Schreien würde den spärlichen Sauerstoffvorrat noch weiter verringern, und du weißt ja nicht, wann sie dir wieder Luft geben werden".

Nach der Freilassung bietet man ihm an, in den Westen zu gehen, was er ablehnt. Wieder einige Jahre später dann "volle Rehabilitierung, Wiedereinsetzung in seine Parteimitgliedschaft, die mit der Verhaftung automatisch geendet hatte. Sein Parteibuch wollte er wiederhaben, und zwar nicht irgendein neues, wie sie ihm anboten, sondern eines, das ausgestellt war auf das Datum seines ursprünglichen Beitritts zur Partei im Jahre 1932."

Heym versucht einen Spagat. Er idealisiert die Rolle des Schriftstellers als intellektuelle Wahrheitsinstanz (die sicherlich seinem Denken sehr nahe kam) ohne dabei die Person Hans Collin zu verherrlichen. Beide Antipoden sind unsympathisch und Collin ist nur anders unsympathisch als Urack, der später (für kurze Zeit) dem Wahnsinn verfällt – eine gewollte Übertreibung, die eher versöhnlerisch sein sollte, was man im Politbüro der DDR von 1979 nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Erst am Ende wird Collin von seiner mehr psychisch grundierten Herzkrankheit, seiner "literarischen Impotenz" und seinen Ängsten befreit, was unter anderem damit zu tun hat, dass sein Widersacher dem Tod geweiht zu sein scheint – und nun nicht mehr droht, zu stören. Havelkas Legat wird ergänzt: Collin hatte gelebt, um zu schreiben. Aber "jetzt würde er schreiben, um zu leben." Dass es dann doch noch anders kommt, ist am Ende nicht einmal tragisch.

Der Roman ist dramaturgisch geschickt geschrieben. Kein Wunder, dass er schon 1981 verfilmt wurde, mit Curd Jürgens als Hans Collin und Hans-Christian Blech in der Rolle des Urack. Kongenialer geht es kaum. Vergegenwärtigt man, dass er während der Biermann-Ausbürgerung verfasst wurden, erscheint Heyms Notiz von 1976 in Anbetracht der Verfahren gegen die Unterzeichner der Protestnote in anderem Licht: "Es ist das Vokabular Wyschinskijs, des Anklägers in den Moskauer Schauprozessen, und die Anklage lautete immer auf Verschwörung." Die Schauprozesse gab es auf kleinerer Flamme weiterhin – innerhalb der Schriftstellervereinigung. Heym wurde 1979 wegen dieses Romans, der nur in Westdeutschland erscheinen konnte, ausgeschlossen. Gleichzeitig wurde eine fadenscheinige Anklage über ein "Devisenvergehen" initiiert, die in eine Geldstrafe mündete.

Im langen Interregnum – "Die Architekten" von 1966
Heym hatte sich mit dem Interregnum in der DDR zwischen Stalins Tod und dem Jahr 1956, als die Inhalte der Geheimrede Chruschtschows vor dem Parteitag über die stalinistischen Verbrechen in die DDR peu à peu ruchbar wurden, schon viel früher in seinem Roman "Die Architekten" von 1966 beschäftigt. Naturgemäß konnte auch dieser Text nicht in der DDR erscheinen. Er wurde erst 34 Jahre später, im wiedervereinigten Deutschland, erstmals publiziert.

Der Roman spielt in einer nicht näher genannten Stadt, ungefähr im Jahr 1956. Arnold Sundstrom ist dort Chefarchitekt. Gerade ist seine "Straße des Weltfriedens" fertiggestellt. (Ob dieses Bauwerk eine Anspielung auf die "Stalinallee" ist, wie viele Exegeten meinen, ist eigentlich unerheblich.) Das Architektur-Kollektiv, dem er vorsteht, gilt als Anwärter auf den Nationalpreis. Sundstrom ist verheiratet mit der jüngeren Julia Goltz, die ebenfalls Architektin geworden ist. Im ersten Kapitel des Romans sind beide auf einem Empfang der Stadt zur Einweihung der Straße. Sundstrom bemerkt, dass es in der sowjetischen Delegation einen neuen Leiter gibt. Man spricht ihn auf einen Daniel Tieck, einen ehemaligen Architektenkollegen, an. Sundstrom erbleicht.

Rasch wird der Prolog des Romans, in dem irgendwann in den 1940er Jahren ein gewisser Goltz in einem Güterwaggon zusammen mit anderen durch russische Gebiete transportiert wird, bedeutsam. Goltz erinnert sich an Sundstrom, dem er aufgegeben hatte, sich für die Zeit der Abwesenheit um seine kleine Tochter zu kommen. Am Schluss des Prologs sind Maschinengewehrsalven zu hören.

Sundstrom hatte die kleine Julia Goltz wie eine Tochter aufgezogen, um sie dann schließlich zu heiraten. Eine zugegeben merkwürdige Konstellation. Es gibt schließlich einen gemeinsamen Sohn, Julian, ungefähr fünf Jahre alt. Julia liebt nicht nur ihren Mann, sondern bewundert ihn auch fachlich und weltanschaulich. Sundstrom hatte Julia im sozialistischen Geist erzogen. "Sozialismus", so sagt er einmal, "setzt der kapitalistischen Politik, in welcher alle menschlichen Beziehungen in der Gesellschaft zu solchen rein materieller Natur entstellt werden, das genau gegenteilige Ziel entgegen: Der Sozialismus ist bestrebt, die materiellen gesellschaftlichen Beziehungen in menschliche zu verwandeln."

Sukzessive erfährt der Leser, dass Tieck sechzehn Jahre in "Gefängnissen des NKWD, in Sibirien, jenseits des Polarkreises" verbracht hat und nun rehabilitiert sei – was immer das bedeutet. Der verunsicherte Sundstrom versucht, seine Frau schonend auf den angekündigten Besuch Tiecks vorzubereiten, denn die Tatsache, dass dieser ihre Eltern kannte, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber Tieck kennt ein Geheimnis und dies betrifft Julia.

Eklektizismus und Heuchelei vs. "Formalismus"
Parallel hierzu werden die Arbeiten zur Verlängerung der "Straße des Weltfriedens" weiter geplant. John Hiller, ein weiterer Mitarbeiter im Kollektiv, begehrt Julia, die Frau des Chefs, er klopft lockere Sprüche, erinnert an den Zimmermann in "Spur der Steine". Eines Tages entdeckt Julia bei ihm einen privaten Entwurf zur Fortsetzung der "Straße". Der Entwurf gefällt Julia, sie lobt ihn, wollte ihn schon ihrem Mann zeigen, als sie bei Hiller ein Buch von Albert Speer, dem Nazi-Architekten, entdeckt. War dies die Inspiration? Ein Nazi-Baumeister? Hiller verteidigt sich: "Es gibt einfach häßliche Bauten und solche, die uns aus irgendwelchen Gründen gefallen – alle anderen Werte sind in die Sache hineingelesen worden." Julia empört sich. Die angelernte Phrasenmaschine funktioniert noch: "'Es ist unmarxistisch, Form und Inhalt zu trennen', sagte Julia mit großem Ernst. 'Sozialistische Architektur hat sozialistische Inhalte; und Nazi-Architektur…'". Dass sie den Satz nicht beendet hat, soll, so suggeriert Heym, der erste Keim vom Anfang des Endes sein.

Sundstrom versucht Tieck zunächst in das Architekten-Kollektiv einzubinden. Zusammen mit Julia und Hiller besichtigen sie Sundstroms Arbeit. Schließlich erzählt Tieck, was er von der "Straße des Weltfriedens" hält: "Es ist nicht nur der Eklektizismus, den ich überall in diesen Bauwerken erkenne, die willkürliche Benutzung von Details aus einer Periode, die ihrerseits wieder von vorhergehenden Perioden lebte, architektonisch gesprochen. Entscheidend für meine Zurückhaltung sind auch nicht die offensichtlichen strukturellen Mängel und rückständigen Methoden. Es ist vielmehr die ganze Grundkonzeption, die ich kaum akzeptabel finde…"  Die so hochgelobte Straße sei eine "Heuchelei in Beton und Ziegeln".

Julias Welt gerät ins Wanken. Sie fängt auch noch ein Verhältnis mit Hiller an. Die neuen Entwürfe Sundstroms wurden von der Partei nicht angenommen. Sein Pochen auf die Ästhetik, die im "Leitbuch" des "Genossen Stalin" niedergeschrieben waren, ziehen nicht mehr. Der "dialektische Materialismus" wird mittlerweile anders interpretiert. Als Sundstrom Tiecks Entwürfe zu Gesicht bekommt, empört er sich. Das sei "Formalismus", angelehnt an das Bauhaus, "Form ohne Inhalt". Tieck hätte nach den vielen Jahren Haft keine Erfahrung mehr, wisse nicht, was in dieser Zeit notwendig sei.

Abrechnung mit dem Stalinismus?
Schließlich verbreiten sich überall Auszüge aus der sogenannten Geheimrede Chruschtschows. Konnte es tatsächlich sein, dass die Partei geirrt hat und Unschuldige ermorden ließ? Das Gerüst von Julias Grundsätzen "brach um sie herum zusammen, Zweifel spalteten den Boden, auf dem sie gestanden und den sie so lange für fest und zuverlässig gehalten hatte." Alles war zerstört: "ihre Ehe, ihre Arbeit, ihre Glaubenssätze." Und Tieck will die Geschichte ihrer Eltern nicht erzählen, sie müsse die Wahrheit von Sundstrom erfahren. Dieser flüchtet sich in Floskeln.

Die Verwicklungen nehmen ihren Lauf. Julia verlässt mit dem Kind ihren Mann, wohnt zur Untermiete dort, wo einst Tieck gewohnt hatte, der verschwunden ist. Aber Sundstrom ist mächtig. Er zwingt Julia den Schein der Ehe aufrecht zu erhalten und zu ihm zurück zu kommen. Gleichzeitig kühlt sich die Affäre zu Hiller ab; der möchte seine Karriere nicht über Gebühr gefährden. Als Tieck zurückkommt, hat er Beweise für Sundstroms Denunziation gegenüber Goltz (der schwächste Punkt im Roman), der zur Liquidierung der Eltern führte und Julia zur Waise machte. Julia verlässt endgültig Sundstrom, der in einem schwachen Moment bereit ist, sich von einem Gerüst zu stürzen. Aber es kommt anders – er packt seine sorgfältig aufgetürmten Sachen wieder zusammen. Im letzten Kapitel steht sein Entwurf zur Fortsetzung der Straße gegen einen Entwurf von Tieck und Julia. Man ahnt, welcher Entwurf am Ende gewinnen wird. Und liegt richtig.

"Die Architekten" und "Collin" werden gerne als Heyms "Abrechnung mit dem Stalinismus" vorgestellt. Das stimmt nur teilweise. Heym zeigt, dass der Tod Stalins die DDR als Satellit der Sowjetunion lange Zeit politisch-weltanschaulich führungslos zurückließ. Die Parteikader wussten schlichtweg nicht, wie sie sich auf die neue Situation einstellen sollten. Die Position Chruschtschows innerhalb der Partei und Führungsschicht schien nicht sicher. Ein zu schnelles Umschwenken – und man wäre unter Umständen kurze Zeit später als Konterrevolutionär angeklagt worden, wenn sich der Wind gedreht hätte. Am Schluss von "Die Architekten" gewinnen noch einmal die alten Kader. Der Roman wurde zweifellos unter dem Eindruck des 11. Plenum des Zentralkomitees der SED von 1965 beendet, der eine Art "Roll-back" für die Kulturpolitik der DDR bedeutete und unter dem Schlagwort "Kahlschlag-Plenum" das Ende einer sanften Liberalisierung, die zwei Jahre zuvor eingesetzt hatte, bedeutete. Diesmal reagierte man auf die Ablösung innerhalb der KPdSU (Breschnew folgt Chruschtschow) etwas schneller als 1953.  

"Schwarzenberg" – Heyms Utopia
"Die Architekten" ist nicht nur der literarisch anspruchsvollere Roman im Vergleich zu "Collin", er wirkt auch noch politisch ambitionierter – trotz seines eher ernüchternden Endes. In "Collin" sind die Fronten zwischen Nomenklatura und einstigen Idealisten festgefahren. Heyms Sorge gilt hier der jungen Generation, die aufgerieben zu werden droht und sich entweder ins Private zurückzieht oder, noch schlimmer, in den Westen geht.

Beide Romane beschreiben die Auswirkungen eines sich selbst als sozialistisch bezeichnenden politischen Regierung. Aber was könnte damit gemeint sein? Ob die Lektüre des Romans "Schwarzenberg", den Heym 1984 in Westdeutschland herausbrachte, Aufschluss darüber gibt, welcher Art sein Sozialismus-Begriff, seine politische Vision entsprang?

Heym verwandelt in diesem Roman die historische Leerstelle einer für 42 Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unbesetzten Region mit damals schätzungsweise 13000 Einwohnern zu einem sozialistischen Utopia im Erzgebirge, jener Region, die später berühmt für ihren Uranabbau werden sollte. Die Amerikaner in Auerbach – die Sowjets in Annaberg. Dazwischen: "Schwarzenberg". Eine Art "gallisches Dorf", gelegen im Erzgebirge. Die Hauptfiguren sind hier der Philosoph Max Wolfram, der wie durch ein Wunder die Gestapo-Todeszelle überlebte und der Bergbauingenieur Reinsiepe. Beide sind sie federführend in einer Art Regierung mit dem Namen Aktionsausschuß, "bestehend aus bewährten Antifaschisten", die "die Macht ausüben und alle Verwaltungsorgane, alte wie neu zu schaffende, anleiten und kontrollieren". Wieder also so etwas wie ein Interregnum, ein politisches Vakuum.

Erzählt wird zum einen durch einen fiktiven Mitaktivist, den "Genosse" Ernst Kadletz, der im Stil eines mündlichen Protokolls häufig ein bisschen umständlich erzählt. In den anderen Kapiteln berichtet ein allwissender Erzähler über die Ereignisse, von denen Kadletz' Eindrücke nur ein Teil sind.

Heyms Setting erinnert stellenweise an ein Lehrstück von Bertolt Brecht. Formal kann man den  Roman als freie Anverwandlung einer geschichtlichen Tatsache lesen. Natürlich weisen nahezu alle Rezensenten darauf hin, dass Heyms Text erheblich von der historischen Realität abweiche. So habe es beispielsweise keinen Münzwurf gegeben, der die Amerikaner davon abgehalten habe, in Schwarzenberg einzumarschieren. Und im erzählten Rahmen hätte es nie den Status einer autonomen Republik gegeben. Die Einwände sind müßig, denn der Text ist Literatur. Wallenstein oder Maria Stuart haben auch nicht so gesprochen, wie Schiller es niederschrieb. Die Verwandlung historischer Ereignisse in fiktionale Texte und die historischen Ereignisse zu verfremden, besitzt eine lange Tradition.

Der politische Kern des Romans sind die Aufzeichnungen Wolframs zu einer "Verfassung" der "Republik Schwarzenberg", die eindeutig sozialistische Züge trägt. Gleichzeitig liebäugelt er mit einem Status wie Monaco – und überlegt, ob man nicht mit einem Spielcasino ausländische Devisen generieren könnte. Wolfram und Reinsiepe werden im Laufe des Romans immer mehr zu Antipoden. Während Wolfram am Ende Schutz durch die Amerikaner sucht, betrachtet Reinsiepe ausschließlich die Russen als "Freunde" und verfechtet eine planwirtschaftliche, sozialistische, reine Lehre.

Mit einer guten Portion Humor werden die Manöver des Aktionsausschusses den beiden Alliierten gegenüber erzählt. Zunächst gelingt es, die beiden Vertreter der Siegermächte gegeneinander auszuspielen und die neue Republik als Versuchslabor zu etablieren. Mit den Sowjets will man die nazistischen Freischärler bekämpfen, während man von den Amerikanern Lebensmittelhilfen nachfragt.

Wenn Utopien zu Diktaturen werden
Für kurze Zeit erscheinen die Fortschritte der neuen Republik ganz passabel. Geschildert wird ein (kleines) Idyll mit Tauschwirtschaft und guten Vorsätzen. Aber die Spannungen zwischen Wolfram und Reinsiepe nehmen zu. Wolfram möchte gerne das Angebot des amerikanischen Lieutenant annehmen und in den US-Sektor migrieren (was er dann nicht macht), während Reinsiepe die Sowjets favorisiert. Am Ende sind die Amerikaner abgezogen und die sowjetischen Fahnen wehen über Schwarzenberg. Wolfram wird schon wieder verhört  diesmal weil er mit "feindlich gesinnten Kräften" zusammengearbeitet haben soll. Er resigniert: "Zumeist lag alles, einschließlich des Urteils, von vornherein fest, und es ging den Verhörern nicht so sehr um neue Erkenntnisse als um eine Rechtfertigung ihrer eigenen Haltung und um eine Art Bestätigung der heiligen Weisheit ihrer jeweiligen Kirche."

Ist das vergleichbar mit seinen Anklagen während der Nazi-Zeit? Wolfram verneint das dann doch. Die Nazis waren der Feind, während man mit Reinsiepe und seinen Freunden doch eigentlich auf der richtigen Seite stand. Und die verlangte nun, die "führende Kraft" der Partei der "ruhmreichen Sowjetunion", welche "die einzig wahren Vertreter der einzig richtigen und erstrebenswerten Utopie, des Sozialismus, waren" zu akzeptieren.

Das Buch endet mit einem "Nachspiel", einem Zeitsprung: Wolfram ist Professor in Leipzig und stellt sich vor den Semesterferien den Fragen seiner Studenten. Am Schluss fragt ihn der Sohn eines ehemaligen Aktionsausschussmitglieds nach dem einstigen Utopia. Wolfram erinnert sich: "'Schwarzenberg war eine große Illusion', Wolfram streicht sich über das in den letzten Jahren schlohweiß gewordene Haar an den Schläfen, 'ein Traum.'"

Heym greift insbesondere was die gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Utopieforschers Wolfram angehen tief in die Idealismuskiste sozialistischer Träumereien. Aber dann ist es im Buch das ehemalige SS-Mitglied Rosswein, Wolframs Doktorvater, der dessen Arbeit über politische Utopien ablehnte, der Wolfram an seine Worte erinnerte, nämlich "daß jede bisher entworfene Utopie eine Diktatur war, die die Menschen zu ihrem Glück zwang und jene, die sich eine andere Art von Glück vorstellten, liquidierte". Das war wohl zuviel. "Schwarzenberg" konnte nicht in der DDR erscheinen.

Zeitsprung
Und dann? 1989/90? Vielfach wird auf Heyms Rede auf dem Berliner Alexanderplatz im November 1989 rekurriert. "Es ist", so Heym damals, "als habe jemand das Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit." Wie viele Intellektuelle, die in der DDR verblieben waren (und einige wenige westdeutsche, deren prominentester Günter Grass war), favorisierte Heym eine von Westdeutschland autonome, weiterhin eigenständige DDR. Eine "Schwarzenberg"-Utopie dürfte er nicht mehr gehabt haben; soviel Pragmatiker war der damals 74jährige längst geworden.

In "Schwarzenberg" sagt Kadletz: "Aber vergessen wir doch nicht, daß es in Deutschland noch nie gelungen war, eine Revolution aus eigener Kraft zum Siege zu führen; alle Bemühungen in der Richtung waren stets in Blut erstickt worden." Nun also die zweite Ausnahme. Aber  Heym wird auch im wiedervereinigten Deutschland politisch nicht heimisch. Die friedliche Revolution 1989 ging nicht von den Intellektuellen und – man lese "Collin" noch einmal nach – Schriftstellern aus. Die hatten sich verängstigt arrangiert und waren, um ein Wort von Marcel Beyer zu verwenden, in ein "Refugienbürgertum" emigriert. Die Keimzellen des Wandels waren die Kirchen. Heym, der kein Atheist war (immer wieder verwendet er biblische Motive in seinen Büchern), unterschätzte nicht nur die politische Bedeutung der Kirchen in der DDR sondern überschätzte auch die Kraft der Schriftsteller.

Stefan Heym lässt sich 1994 auf der offenen Liste der PDS, der SED-Nachfolgepartei, aufstellen und kommt in den Bundestag. Es erscheint einem heute wie eine Trotzreaktion, wenn sich Heym auf eine solche politische Parteinahme einlässt. Er ist nun im Bundestag der Alterspräsident, der traditionell die neue Legislaturperiode mit einer Rede eröffnet. Einen Tag vor der Veranstaltung wird kolportiert, Heym sei IM der Staatssicherheit gewesen. Ein absurder Vorwurf, der sich später als gezielte Desinformation herausstellte. Aber er wirkte zunächst. Heym tritt ans Podium, aber die Abgeordneten – insbesondere der Union – stören die Rede in dem sie sich abwendeten, "in Akten herumblätterten, hin und her liefen ". Der (bisweilen fast prophetisch anmutende) Text wird entgegen der Usancen nicht im Bulletin der Bundesregierung abgedruckt. Der Fauxpas am Ende: Die Unionsabgeordneten verweigern Stefan Heym, der als amerikanischer Soldat den Nationalsozialismus mit besiegt hatte, die Ehrbezeugung: Sie erheben sich nicht; verweigern kein Applaus. Es ist eine der düstersten Stunden des deutschen Nachkriegsparlamentarismus. Heym selber nahm es gelassen. Im Gespräch mit Carsten Gansel sagte er nüchtern, diese Leute könnten ihn gar nicht beleidigen.

Brecht und Shakespeare
Es gibt Schriftsteller, die schreiben an ihren Figuren weiter, wenden sich ihnen nach vielen Jahren wieder zu. Stefan Heym hat das nicht gemacht. Gerne hätte man den Roman von Dr. Christine Roth zur Wende gelesen (sie wäre dann 45 gewesen). Wäre sie geblieben? Und was ist aus dem Architektenkollektiv von 1956 geworden? Aber auch so sind Stefan Heyms Bücher wie Archivfunde aus der Lebenswelt der untergegangenen DDR. Ihr Realismus war dabei nie ein "sozialistischer", sondern ein "dramatischer". Heyms Nähe zum Drama ist mit Händen zu greifen. Die Romane sind Kammerspiele, in denen unter einem Brennglas dramatische Konflikte entwickelt werden und Protagonisten zu moralischen Entscheidungen drängen oder diese aus der Vergangenheit reflektieren. Man merkt Brecht als Vorbild aber auch – diametral entgegengesetzt -  Shakespeare, der ab und zu zitiert wird. Aber Heym ist frei von jeglichem Idealismus. Wenn dieser auch nur am Horizont auftaucht, wird er von ihm sofort destruiert. Nach der Lektüre von Stefan Heyms Büchern sollte man - sofern bei klarem Verstand – von jeglichen Sozialutopien erst einmal befreit sein.

Die dramatischen Ereignisse hinter den Geschichten von Heyms Figuren sind auch heute, mehr als dreißig Jahre nach der Wende, von Interesse. Man erkennt die grundlegend unterschiedlichen Sozialisierungen zwischen West- zu Ostdeutschland klarer als es so manche Studie vermag. Deutlich wird dies beispielsweise, wenn man die jeweiligen Literaturen in den 1970er und 1980er Jahren vergleicht. In der DDR-Literatur dominierte die Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen Theorie und Praxis in einem sich sozialistisch nennenden (de facto jedoch diktatorischen) Land, während in Westdeutschland die politische Linke noch lange Zeit mit dem sozialistischen Modellen sympathisierte und dabei systemkritische DDR-Literatur weitgehend ignorierte.

Wenn Bücher von DDR-Autoren nur im Westen erscheinen konnten, so wurde dies im Westen als Dissidententum und Symptom für die Überlegenheit des marktwirtschaftlich-demokratischen Systems gedeutet, während im Osten die unerreichbaren Bücher alleine deswegen schon Neugier erzeugten. Stefan Heym betrachtete sich jedoch nie als DDR-Dissident.

Heym pochte allerdings in der DDR auf seinen Individualismus innerhalb des Sozialismus. Später dann, in der Berliner Republik, vermisste er das kollektive Element unter all den Individualisten. In dem Spannungsfeld zwischen Individualismus und Kollektivismus bewegten sich auch seine Figuren, obwohl diese sich nur im Sozialismus bewegten.

Nach der Wende wurden viele DDR-Autoren ästhetisch neu bewertet. Hatte man in der westdeutschen Literaturkritik zu stark auf die politische Dissidenz geachtet und die literaturästhetischen Aspekte darüber vernachlässigt? Bei einigen Autoren bzw. deren Romane kann man dies so sehen. Das wäre dann allerdings ein Problem der Literaturkritik gewesen. In dem Maße, wie sie außerliterarische und aktuelle Bezüge für ihre Bewertung heranzieht, wird sie schwach, weil sie ästhetische Kriterien der Konformität des jeweiligen politischen Zeitgeistes unterordnet. Damals machte das Wort von der "Gesinnungsästhetik" die Runde. Der Befund mag im Einzelfall richtig gewesen sein, aber die Stoßrichtung war die falsche: Statt die Literaturkritik für ihre Fehlbeurteilungen in die Pflicht zu nehmen, wurden die Autoren dafür verantwortlich gemacht.   

Stefan Heyms Romane blieben von den gesinnungsästhetischen Vorwürfen weitgehend verschont. Das hat auch damit zu tun, dass ihre Figuren sich nie als "Opfer" begreifen, selbst wenn ihnen Unrecht angetan wurde. Ein Manichäismus gibt es bei ihm nicht – jede Figur hat Ecken und Kanten, vereint vermeintlich Richtiges und Falsches. Mit diesen Zwiespalten ausgerüstet gilt es Entscheidungen zu treffen. Und hierbei Zeuge zu sein macht die Lektüre von Heyms Büchern auch heute noch anregend.

Die konzentrierte Neuveröffentlichung des Gesamtwerkes von Stefan Heym (in alter Rechtschreibung – richtig so) ist zu loben. Aber leider macht man es sich dann doch ein bisschen einfach. In jedem E-Book findet sich ein Nachwort. Aber es ist bei allen identisch - ein Text von Therese Hörnigk; eine Art Lebenslauf des Künstlers und Menschen Stefan Heym nebst einer kursorischen Publikationsgeschichte. Eine einzelne Nachbetrachtung zum jeweiligen Werk, dass man gerade gelesen hat, gibt es nicht. Das ist nicht nur für den "Winter unsres Missvergnügens" bedauerlich, da man sich hier einige weiterführende Erläuterungen zu den Lebenswegen der Protagonisten gewünscht hätte. Insgesamt sollte man dem potentiellen Leser außerhalb der biographischen Einzelheiten auch historische und literaturästhetische Betrachtungsweisen anbieten. Ansonsten droht die Gefahr, das Werk allzu biographisch zu deuten.

Artikel online seit 02.12.21
 

 

 


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