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Ein Wissenschaftskrimi mit Tiefgang

Die Rettung der Manuskripte Edmund Husserls
durch den flämischen Pater Leo Van Breda

Von Wolfgang Bock

 

Eine Rettungsaktion
Der flämische Publizist Toon Horsten schreibt einen spannenden Wissenschaftskrimi. Der Titel Der Pater und der Philosoph zeigt an, dass der Autor zwei Welten zusammenfügen will: die der katholischen Kirche in Belgien und die der Philosophie im Weltmaßstab. Horsten erzählt die Geschichte, wie der junge flämische Pater Herman Leo van Breda im Herbst 1938 nach Freiburg fährt. Es ist die Zeit der Münchner Konferenz und der „Reichskristallnacht“. Weil er eine Doktorarbeit über die Phänomenologie schreibt, will er in die Handschriften des Philosophen Edmund Husserl Einsicht nehmen. Dieser leidet sehr unter den Antisemiten im Deutschland der Nazizeit: er und seine Familie werden, obwohl sie bereits vor mehr als dreißig Jahren zum Protestantismus konvertiert waren, dennoch als Juden ausgegrenzt und auch von seinem ehemaligen Schüler Martin Heidegger verleugnet. Husserl stirbt im April 1938, aber seine Witwe und seine Manuskripte, immerhin 40.000 Blätter, sind in Gefahr. Horsten schildert mit vielen Details und Irrwegen, wie es dem Studenten und seinen Professoren gelingt, das Archiv und die Bibliothek Husserls in das Philosophische Institut HIW der Katholischen Universität Leuven nach Belgien zu überführen. Van Breda organisiert auch die Transkriptionen der Handschriften durch die ehemaligen Assistenten Husserls, die er nach und nach ebenfalls an seine Universität holt. Denn nur wenige Leser können die in einer seltenen Kurzschrift gehaltenen Papiere des Philosophen entziffern. Van Breda kümmert sich auch aufopferungsvoll um Malvine Husserl. Er bringt sie standesgemäß im Kloster unter und finanziert, ohne dass sie es wüsste, ihren sieben Jahre währenden Aufenthalt in Belgien.

In drei großen Abschnitten und 42 kurzen und gut lesbaren Kapiteln erzählt Horsten, wie es Van Breda gelingt, das Husserl-Archiv in Leuven einzurichten, es durch die Schwierigkeiten der Kriegszeit mit Migration, Bombardement und Judenverfolgung in Holland und Belgien zu führen und wie er es schließlich in der Nachkriegszeit als Wissenschaftsmanager zu einer wichtigen intellektuellen Pilgerstätte nicht nur für die französischen Existenzialisten um Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Levinas und Jean-Paul Sartre ausbaut. Als der Pater 1976 mit 63 Jahren stirbt, hinterlässt er eine weltweit wichtige wissenschaftliche Institution.

Ein Archiv
Van Breda ist ein Verwandter des Autors, genauer der Cousin seiner Großmutter mütterlicherseits. Das erklärt den familiären Tonfall, in dem das Buch gehalten ist und der eine besondere Nähe herstellt. Die eigentliche Spannung von Der Pater und der Philosoph entsteht aber aus der Differenz innerhalb der Universität Leuven, die sich des Juden Husserl annimmt, aber katholisch dominiert und neo-thomistisch ausgerichtet ist. Hier gibt es eine Spannung zu Phänomenologie Husserls, die sich in einer Hierarchie ausdrückt: Van Breda holt zwar die Materialien, das Archiv darf aber anscheinend keinen eigenständigen Status beanspruchen und etwa offiziell zu einem Zentrum der Phänomenologischen Philosophie werden. Die Oberhoheit darüber bleibt bei den katholischen Bischöfen. Es bleibt ein Archiv; nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Beifang
Damit hängt das Problem der Stellung der katholischen Kirche zum Faschismus, speziell der belgischen katholischen Kirche zu den deutschen Besatzern zusammen. Der Umgang mit den Husserl-Manuskripten wird so zum Aushängeschild eines Humanismus und einer Religionstoleranz einzelner Katholiken wie Van Breda, die nicht für den gesamten Komplex gilt. Anscheinend weil sich der Pater so aufopferungsvoll um die Witwe Malvine Husserl kümmert, konvertiert diese in Leuven zum Katholizismus. Einen solchen Weg war auch die frühere Assistentin Husserls Edith Stein gegangen, sie war als Jüdin 1934 konvertiert in ein katholisches Kloster eingetreten. Ihre Geschichte wird parallel erzählt: wie sie mit ihrer Schwester, die ebenfalls Nonne geworden ist, nach Auschwitz deportiert und umgebracht, wie sie vom späteren Papst Wojtyla heiliggesprochen wurde. Der Plan des polnischen Papstes, aus Auschwitz eine katholische Pilgerstätte zu machen, scheiterte dann am Widerstand der jüdischen und anderen Opferverbände.

Linien und Muster
Die Geschichte des Instituts bildet den Hauptstrang des Buches. Daneben findet sich eine allgemeine Darstellung von Husserls Philosophie im Gegensatz zu Heideggers Verleugnung seines ehemaligen Lehrers; eine Geschichte, die Martin Heidegger, mit dem Van Breda auch zu tun hatte, als karrierebewussten Nazi zeigt, der nach dem Krieg seiner Ideologie nicht abschwört. Das belegt Horsten zusätzlich mit Zitaten aus Heideggers Schwarzen Notizbüchern, die ab 2015 von Peter Trawny aufgelegt werden. Ansonsten endet die intellektuelle Geschichte des Archivs mit dem Tod des Paters 1976, der aktiv noch die Verbindung von Phänomenologie und französischem Existenzialismus mitbekommen hatte. Die weitere Entwicklung zum Poststrukturalismus mit den Antipoden zu Sartre wie Michel Foucault und Jacques Derrida oder in Deutschland mit Bernhard Waldenfels etwa verfolgt er dann nicht mehr weiter. Und auch Horsten scheint daran nicht interessiert.

Belgische Familiengeheimnisse
Unaufgeklärt bleiben in dieser Institutionsgeschichte auch das Verhältnis des Paters zu den belgischen Kollaborateuren mit den Deutschen der Kriegszeit und reziprok das zu den Sozialisten und dem kommunistischen Widerstand. Nur am Rande ist davon die Rede, wenn einmal ein Kandidat für eine Professur an einer katholischen Universität ausscheiden muss, weil er Mitglied der belgischen Arbeiterpartei ist. Er gibt dann den Platz für einen Husserl-Kandidaten frei. Und Rudolf Boehm, der langjährige Assistent Van Bredas, scheidet nach dessen Ableben wegen „marxistischer Umtriebe“ als Kandidat für den Direktorposten aus. Umgekehrt vermeldet Horsten es als Heldentat seines Paters, mit Kommunisten zusammenzuarbeiten. So betont er, dass Van Breda an Maurice Merleau-Ponty festhält, obwohl der als Kommunist zeitweise ein Anhänger Stalins gewesen sei. Auch liest man etwas verwundert, dass sich Van Breda in der belgischen Botschaft von Berlin 1938 bei der Deklarierung von Husserls Manuskripten als belgisches Diplomatengepäck vom zweiten Sekretär Jo Berryer helfen lässt. Der besaß dafür eine etwas seltsame Qualifikation, der er habe bereits im Spanischen Bürgerkrieg in Barcelona Anhängern von Franco Unterschlupf gewährt. Ebenfalls nicht recht deutlich wird in der Geschichte, dass es der belgische und der französische Staat waren, die von sich aus die Deutschen, die sich zuvor in ihr Land geflüchtet hatten, bei Kriegsbeginn unterschiedslos zusammen in eigene Lager sperrten. Die aus Belgien in die Lager nach Frankreich deportierten früheren Assistenten Husserls litten also unter dem Ressentiment und dem vorauseilenden Gehorsam dieser Staaten selbst. Das erscheint in der Schilderung Horstens nur schwach akzentuiert.

Für eine philosophische Zukunft
Kriegszeiten sind immer schlimm und es sind die Deutschen, die die ganze Sache angezettelt und durchgeführt haben, ohne Frage. Hier aber wäre hinter und neben der familiär gehaltenen belgischen Heldengeschichte dennoch eine differenziertere Darstellung angebracht, die auch in anderer Hinsicht so klar Ross und Reiter nennt wie im skandalösen Verhalten Heideggers gegenüber Husserl. Wenn es also einen freien Weltgeist gibt, dann arbeitet der wohl eher einer Philosophie und einer Ethik zu, wie sie 1670 von einem anderen Niederländer, nämlich von Baruch Spinoza, als Theologisch-politischer Traktat formuliert worden ist.

Artikel online seit 01.10.21
 

Toon Horsten
Der Pater und der Philosoph
Die abenteuerliche Geschichte von Husserls Vermächtnis
Übersetzt von Marlene Müller-Haas
Galiani Berlin
288 Seiten
24,00 €
978-3-86971-211-6

 

 


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