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Flüchtige Figuren, die sich dem Festhalten entziehen

Zu dem Prachtband mit
»Kafkas Zeichnungen«

Von Wolfgang Bock

Um es gleich zuzugeben: dieses Buch enttäuschte den Rezensenten zunächst. Mit großem Aplomb wird hier anscheinend der Umstand gefeiert, dass erst 2019 Zeichnungen von Franz Kafka der Öffentlichkeit vorgestellt worden sind. Kafkas Schreibkunst liegt in der kleinen Form, dem Angedeuteten, nicht vollständig Ausgeführten und zerstückelt Fragmentalen. Diese allegorische Form, die ihren Ausgang von einer Verwundung des vollständigen symbolischen Ganzen als einem kleinen Teil nimmt, eignet sich nicht für große Feiern, denn es ist Ruine. Zugegeben, der große Schriftsteller Franz Kafka war ein ordentlicher Zeichner und ja, seine Bilder muten originell an. Aber daraus nun ein Jahrhundertereignis machen zu wollen, liegt doch wohl daneben! Viel Lärm also um ein petit rien!

Der Wille zur Allegorie
So lautet der skeptische Eindruck des Rezensenten beim ersten Durchblättern des Bandes – bis er die erhellenden Essays von Andreas Kilcher und Judith Butler gelesen hat, die die Kunst Kafkas erklären. Es geht, mit anderen Worten, um das Verhältnis von Bild und Schrift und um dessen Brüche. Kafkas Freund, Biograf und Interpret Max Brod ist bei den weiteren Kafka-Interpreten wie Gershom Scholem oder Theodor W. Adorno nicht gut gelitten. Auch Walter Benjamin schreibt einen Kafka-Essay; die Materialien verweisen auf ein weit größer angelegtes Kafka-Projekt. Der Lüneburger Literaturwissenschaftler Sven Kramer hat darüber eine instruktive Schrift verfasst, die sich um die „wolkigen Stellen bei Kafka“ dreht.[1] Kafkas Zeichnung sind solche Fälle von Wolken. Und auch die von Benjamin in seiner Kunsttheorie angewandten ästhetischen Kriterien, die zwischen dem Symbolhaften der Farbe und dem Allegoriehaften der Linie pendeln und die er systematisch in seiner vielschichtigen Schrift Der Ursprung des deutschen Trauerspiels entwickelt, lassen sich auf die Zeichnung anwenden: In der Kunsttheorie wird traditionell das vollständige Kunstsymbol, das für sich allein stehen kann, dem Bild zugeordnet, der Schrift aber das Fragmentarische, Bruchstückhafte zugewiesen, das einer Vermittlung bedarf. Die Geschichte der Kunsttheorie in der Moderne ist nun eine der Emanzipation des Bruchstückes des organischen Ganzen, der Fotografie und des Films von Gemälden, die in ihrer scheinbaren Geschlossenheit nur noch Relikte darstellen.[2] Was in dieser Hinsicht für Kafkas Texte gilt, gilt auch für seine Zeichnungen. Sie zeigen Gebrochenes, Vulnerables. Das macht sie so schwer aushaltbar. Deshalb spottet Carl Schmitt über ihn in einem Brief an Ernst Jünger.[3]

Zum Dokumentensinn der Bilder
Was den faschistischen Schriftstellern missbehagt, soll uns heute, wo der Antisemitismus auch in der Ästhetik wieder um sich greift, eine Lehre sein. Bevor Andreas Kilcher zu seiner luziden Interpretation der Bilder ansetzt, erläutert er in einer Einleitung zu ihrem Bestand und zu der Geschichte ihrer Überlieferung deren Dokumentensinn. Das Besitzrecht an Kafkas Zeichnungen fiel nach dessen Tod 1924 an seinen Freund Max Brod (1884-1968). Der veröffentlichte eine kleine Auswahl davon in seinem Buch Franz Kafkas Glauben und Lehre in den Ausgaben von 1966 und 1974. Brod sah in Kafka überhaupt zuerst einen Zeichner, einen Illustrator. Einige der Zeichnungen zieren die Titelblätter der Fischer Taschenbuchausgaben Das Urteil, Der Prozeß oder die Erzählungen, für die er verantwortlich zeichnet. Die Blätter selbst vermachte Brod wie auch die Manuskripte Kafkas seiner Sekretärin Ilse Esther Hoffe, die Rechte auf die Tantiemen ihren beiden Töchtern. Verschiedene Versuche seit den fünfziger Jahren – unter anderem vom Fischer- oder auch vom Hanser-Verlag – scheiterten an dem Beharren Brods und Hoffes, die Skizzen weiter unter Verschluss halten zu wollen. Im Jahre 2007 wurden die Besitzrechte an Kafkas Nachlass in einem aufsehenerregenden Prozess in Israel neu geregelt und fielen an die Nationalbibliothek in Jerusalem. Die hier vorgestellte neue Ausgabe der Zeichnungen präsentiert nicht allein diese, sondern auch weitere Blätter aus zerstreuten Beständen in Wien, Oxford oder dem Literaturarchiv in Marbach.

Kafkas Körperbilder
Die Skizzen stehen im Zusammenhang mit Kafkas Schreibprozess und bilden oft eine Übergangsform zwischen Schreiben und Zeichnen und wieder zurück. Abgedruckt werden von Brod zum Teil ausgeschnittene Blätter und Manuskripte aus den Briefen, Tagebüchern, Zeichen- und Notizheften zwischen 1909 und 1924. Gezeigt werden also Kafkas „Körperbilder“, wie Judith Butler sie treffend nennt: in den Einzelblättern und den kleineren Konvoluten 1901-1907 herrschen gestische Skizzen vor, die einzelne Bewegungen herausgreifen. Wir sehen gebogene Figuren, futuristisch mit Geschwindigkeitszeichen versehen und insgesamt ins Karikaturenhafte gehend. Im Zeichnungsheft finden sich weitere Strichmännchen, die an Giacometti erinnern, manche auch an Heinrich Zilles oder Wilhelm Buschs Skizzen. Dann sehen wir Tintenklecksfiguren, die durch Arme, Beine oder andere Teile des Korpus erweitert werden, manche mit Gesichtsstrichen. Wiedererkannt werden die Figurinen, die bereits auf den Umschlägen bei Fischer erschienen. Man kennt sie also doch bereits seit den Jugendtagen der Lektüre, nur waren sie bisher nicht aufgefallen, die schwarzen Männchen, dem Pardon-Teufelchen oder den Holzschnitten Franz Massarels nicht unähnlich, aber hier verzweifelt am Tisch sitzend oder die Hände aufgestützt. Ein stehender Mann, die Hände in Brusthöhe zusammengeführt, dann eine Figur von hinten, eine vor einer Klapptafel, ein gebogener Fechter, ein Mann an einem Stock gehend; ein weiterer in den Schranken (des Gesetzes?) stehend. Am Ende der Reihe sitzt eine solche kaum fingergroße Silhouette im Langsitz am Boden, mit der Geste des aufgestützten Kopfs.

Unter den Zeichnungen aus den Reisetagebüchern 1911-1912 und den Tagebüchern und Notizheften 1909-1924 finden sich unter anderem Skizzen von Goethes Gartenhaus, in denen der Briefe von 1909 bis 1921 weitere solcher Doodles und ein bemerkenswertes Blatt einer Folterszene mit teilnahmslosem Beobachter, möglicherweise im Zusammenhang mit der Erzählung In der Strafkolonie oder Ähnlichem.

Ornamentale Figuren und Text-Bild-Gefüge
Die Abteilung Manuskripte mit Mustern und Ornamenten 1913-1922 zeigt arabeske Textgewebe mit Wellenlinien am Rand, die Zeichnung eines winzigen Fahrrades, Striche, Unterstreichungen auf dem Weg von Schrift zum Bild: Annotationen am Rand, Übergänge von lateinischer Schrift zu Zeichen der Gabelsberger Kurzschrift, einer alten Form von Stenografie, die auch Edmund Husserl für seine Mitschriften verwandte. Das Schriftbild, in das hier zuweilen auch Skizzen eingestreut werden, mutet zum Teil wie arabische und hebräische Schriftzeichen für ein Traktat an, wo die Grenze zwischen Sternenkonstellation, Buchstabe und Zeichnung fließend ist.

Die geprügelte Kreatur
Eine neutrale Deskription der einzelnen Stücke findet sich am Ende des Katalogs in Pavel Schmitz Beschreibenden Werkverzeichnis. Freilich sieht jeder Betrachter etwas anderes und verbindet es zudem (Roland Barthes punctum lässt grüßen!) mit seiner persönlichen Lektüre oder seinem begehrenden Sehen. Als eines der schönsten und eindrucksvollsten Blätter wollen dem Rezensenten die Reiterbilder des Pferdes mit den lahmen Hinterbeinen und dem dynamisch peitschenden Reiter erscheinen (Nr. 56. S. 163). Nicht nur spielt sich hier eine Szene wie bei der prügelnden Olympiareiterin Annika Schleuch im August 2021 in Peking ab, die ihr Pferd vergeblich zum Springen schlagen wollte oder wie bei Nietzsche in Turin, der 1889 ein Pferd umarmt und um Verzeihung bittet. Die Zeichnung mutet an wie eine allgemeine Allegorie auf die Versuche, die prinzipielle Stasis einer leeren Bewegung mit einer Elektromobilität zu fetischisieren, die schon mit stinkenden Benzinkarossen und davor auch mit Pferden kaum gelang. Gequält wird jedes Mal nur wieder die Natur: Los geht die lange leere Reise wilder Bewegungen, die nicht vom Fleck kommt.[4]

Zeichnen und Schreiben bei Kafka
Kilcher zeigt, dass Kafka sich sein Leben lang mit der bildenden Kunst beschäftigt, auch wenn er Jura studiert. Er erläutert, dass der junge Prager den Kunstwart abonniert, sein Zimmer entsprechend dekoriert und sich für den einfachen Stil der japanischen Kunst begeistert. Seine Bekanntschaft mit Max Brod führt dazu, dass dieser ihn in der Prager Künstlergruppe Die Acht als „großen Zeichner“ vorstellt, bevor er überhaupt einen Text von ihm gelesen hat. Auch treffen beide Alfred Kubin, Anton Holub, Emil Orlik und andere. Diese teilen allerdings Brods enthusiastisches Urteil über Kafkas Kunsttalent nicht. Auch Kafkas eigene Haltung dazu bleibt zweifelnd. An seine Verlobte Felice Bauer schreibt er 1913:

»Wie gefällt dir mein Zeichnen? Du, ich war einmal ein großer Zeichner, nur habe ich dann bei einer schlechten Malerin schulenmäßiges Zeichnen zu lernen angefangen und mein ganzes Talent verdorben. Denk nur! Aber warte, ich werde Dir nächstens ein paar Zeichnungen schicken, damit du etwas zum Lachen hast. Jene Zeichnungen haben mich zu seiner Zeit, es ist schon Jahre her, mehr befriedigt als irgendetwas[5]

Man kennt die schlechte Malerin nicht, aber rund 150 Skizzen Kafkas aus den Jahren sind bei Max Brod erhalten. Als Brod Kafka kennenlernte, erbte er von dem Älteren juristische „Skripte“ mit Randzeichnungen, die er abschnitt und die so die Grundlage zu seiner Zeichensammlung von Kafka bildete. Brod spricht bald von Kafkas Doppelbegabung, einer Parallele zwischen zeichnerischer und erzählerischer Vision.[6]

Überzeichnungen
In seinen Beschreibungen der Bilder zielt Kilcher auf das Skizzenhafte als genuiner Kunstform: Die meisten von Kafkas Zeichnungen könnten nicht als ausgearbeitete Körper oder Porträts gelten. Sie seien weder räumlich ausgestaltet und situiert noch muskulös ausgebildet. Vielmehr schwebten sie meist ohne Umfeld und seien in sich disproportional, flach, fragil, karikaturesk, grotesk, karnevalesk. Mit den auf ihnen dominierenden Extremitäten wie Beine, Arme, Nasen seien Kafkas Körper damit weit entfernt von den klassischen Proportionen formaler Schönheit. Sie wirkten in manchen Fällen überzeichnet, wobei charakteristische Züge verstärkt hervorgehoben würden. Etwa ab 1908 stehen die Blätter mehrheitlich in einem erkennbaren Zusammenhang zu seinem Schreiben, wenn sie sich in Tagebüchern und Notizheften, Reisetagebüchern und Briefen etwa an Max Brod, an Felice und an die Schwester Otla oder die Verlobte Milena finden. Sie verdeutlichen etwas, was sich mit dem Text oft nicht ausdrücken lässt.

Japanisches Balancieren zwischen den Medien
So berichtet Kafka in seinem Tagebuch in einem selbst artistisch anmutenden Stück davon, eine Nummer der japanischen Equilibristen The Mitsutas aus dem Varieté zu beschreiben, die halsbrecherische Gleichgewichtsstückchen mit einer Leiter ausführen:

»Daß ich das nicht weiß, worin mein Zustand besteht, hängt wohl mit meiner Unfähigkeit zu schreiben zusammen. Und diese glaube ich zu verstehn, ohne ihren Grund zu kennen. Alle Dinge nämlich die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt. Das können wohl einzelne z.B. japanische Gaukler, die auf einer Leiter klettern, die nicht auf dem Boden aufliegt, sondern auf den emporgehaltenen Sohlen eines halb Liegenden und die nicht an der Wand lehnt sondern nur in die Luft hinauf geht. Ich kann es nicht, abgesehen davon daß meiner Leiter nicht einmal jene Sohlen zur Verfügung stehn. Es ist das natürlich nicht alles, und eine solche Anfrage bringt mich noch nicht zum Reden. Aber jeden Tag soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet. Und wenn ich dann einmal vor jenem Satze erscheinen würde, hergelockt von jenem Satze, so wie ich z. B. letzte Weihnachten gewesen bin und wo ich so weit war, daß ich mich nur noch gerade fassen konnte und wo ich wirklich auf der letzten Stufe meiner Leiter schien, die aber ruhig auf dem Boden stand und an der Wand. Aber was für ein Boden! was für eine Wand! Und doch fiel jene Leiter nicht, so drückten sie meine Füße an den Boden, so hoben sie meine Füße an die Wand.«.[7]

Hier finden sich am unteren Rand Strichmännchen, die diese Balance mit der Leiter zeigen, aber auch die fassungslosen Gesichter des Publikums. Der Text wird dadurch ergänzt und bis zu einem gewissen Grad gestisch präzisiert. Zur Darstellung dieser fragilen Sachverhältnisse scheinen Kafka die ephemere Ausdrucksform der Skizze gerade richtig zu sein. Bereits Hans Zischler hatte vor einiger Zeit in einem instruktiven Buch auf Kafkas Vorliebe für das in ästhetischer Hinsicht talmihafte des damals noch stummen Films und dessen besondere Ausdruckskraft hingewiesen.[8] Für Kafkas entsprechendes Gespür spricht auch die von Kilcher erwähnte Geschichte, wonach sich Kafka dagegen wehrt, dass den Buchausgaben seiner Erzählungen Der Heizer und Die Verwandlung (die hier treffend als „Wanzengeschichte“ apostrophiert wird), zu konkretistische und daher falsche Illustrationen beigegeben werden. Max Brods Freund Franz Werfel hatte als Lektor die bildlich ausgestattete Edition im Kurt Wolff Verlag zu verantworten. Schon vor Kafka hatte beispielsweise Gustav Flaubert sich 1862 weitaus wütender als der vorsichtige Kafka gegen Illustrationen seiner Romane Madame Bovary und Salammbô ausgesprochen.

Dass Kafka sich also den unterschiedlichen Wirkungen der verschiedenen Medien Bild, Inschrift und Unterschrift bewusst war – so wie sie beispielsweise Lessing in seinem Laokoon beschreibt und wie sie früh auch in der Emblematik zusammenkommen und sich miteinander verschränken – zeigt sich auch anhand der Intermedialität bei Kafka. Die von ihm in seinen Erzählungen beschriebenen Bilder brechen einerseits in den Text ein und unterbrechen dessen Fluss wie in einer Collage oder Montage die homogene Welt des Gemäldes. Zugleich wird der Blick darauf nicht klarer, sondern es handelt sich gleichsam um abgedunkelte Bilder innerhalb eines rätselhaft bleibenden Textes – Blöcke, wie Gilles Deleuze und Felix Guattari das nennen. Auch Andreas Kilcher spricht hier ganz richtig von unbildlichen Bildern, in dem Sinne, dass sie nichts Klares zeigten.[9]

Schleifen und Kurven
Kafka legte Wert auf das Schriftbild. Und tatsächlich wird z. B. der Text Die Bäume wie ein Gemälde oder ein Blatt konkreter Poesie als Bild gedruckt.[10] Nach Robert Musil als Rezensent drücke sich hier in absichtlich seitenfüllenden Sätzen etwas von der „gewissenhaften Melancholie aus, mit der ein Eisläufer seine langen Schleifen und Figuren ausfährt.“[11] Was Kilcher aber nicht berücksichtigt: in typografischer Hinsicht sind Text und Bild nicht bündig voneinander zu trennen. Das Wörtliche, das Bildliche, das Moralische und das Theologisch-Bedeutende sind verschiedene Ebenen der Schrift selbst. Und die Buchstaben, über die diese verschiedenen vier Sinne der Schrift traditionell vermittelt werden, sind selbst Bilder und Zeichen zugleich, indem sie für etwas anderes stehen. So ist der Text immer ein Mischgebilde aus bildlichen und textlichen Zeichen, Korpus und Bedeutung, Manifestation des Psychophysischen des Menschen auf der Ebene der Schrift. Wie auch wir Menschen als Figuren nicht nur für uns da sind, sondern für etwas anderes. Wofür genau, aber wissen wir, seit Gott tot ist, nicht. Diesen Zustand zeigt Kafka für diejenigen, die hinsehen mögen.

Allegorien des Unbestimmbaren
Der zweite erläuternde Essay in diesem Band stammt von Judith Butler. Sie interessiert die Darstellung der schwebenden Körper in den Zeichnungen. Dahinter steht offenkundig die Praxis einer lange Jahre Tai-Chi-Übenden. So betont sie die Propriozeption in dem Text Beschreibung eines Kampfes. Und sie erkennt auch eine Art von Freude im Körperausdruck der Figuren in den beiden Skizzen Nr. 9 und Nr. 6, wo es um futuristische Bewegungsdarstellungen geht. Das sind gleichsam die Gehilfen unter Kafkas Zeichnungen, denen es gut geht und die der Hölle entgehen, welche uns andere erwartet. Auch Butler betont die Verschränkung von Bild und Text.[12] Beides bleibe ebenso undurchsichtig sowohl im Text wie auch in den unbeholfenen Zeichnungsversuchen von Lesern. Diese versuchten nämlich oft genug, sich beispielsweise die Figur des Odradek aus Die Sorge des Hausvaters als Zwirnspule zu vergegenwärtigen. Odradek sei bekanntlich beweglich, flink und kaum zu fangen.[13] Die Figur wird für Butler wie Kafkas Zeichnungen insgesamt zu Allegorien des Unbestimmbaren. Das entspricht der von ihr auch in anderen Feldern favorisierten Denkfigur des unbestimmten Rests als Ergebnis des Dekonstruktionsprozesses, beispielsweise einer eindeutigen Gender- oder Geschlechtszuordnung.

Man sieht nur, was man weiß?
Eine solcherart verstandene Einbettung der Zeichnung Kafkas folgt zunächst der Maxime Goethes, wonach man nur das sähe, was man kennte.[14] Sie fragt dann aber weiter: Kennt man es wirklich? Man könnte mit dem gleichen Recht das Gegenteil behaupten, wonach man immerzu etwas anzuschauen hat, gerade weil man es nicht versteht. Dass aber die Rätselhaftigkeit so selbst zum Gegenstand gemacht wird, kann auf die Betrachtenden eine befreiende Wirkung haben. Das gilt sowohl für Kafkas Texte als auch für seine hier gezeigten zerbrechlichen Skizzen.

[1] Vgl. Walter Benjamin, GS II, S. 409-437; Sven Kramer, Rätselfragen und wolkige Stellen: Zu Benjamins Kafka-Essay (Kritische Studien), ‎Springe: zu Klampen Verlag 1991.

[2] Laszlo Moholy Nagys Buch Malerei, Fotografie, Film, Walter Benjamins Reproduktionsaufsatz oder Roland Barthes Das Reich der Zeichen weisen einen solchen Weg.

[3] „Der Deutsche hat jetzt keine Zeit, /Er muß jetzt Kafka lesen, /Er strengt sich an und ist bereit, /An Kafka zu genesen.“ (Carl Schmitt an Ernst Jünger 1955).

[4] Kafka schreibt: „Je mehr Pferde du anspannst, desto rascher gehts – nämlich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreißen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt.“ (Franz Kafka, Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt am Main: Fischer 1983, Aphorismus No. 45, S. 33.

[5] Brief Kafkas von 1913, in: ders., Briefe 1913 bis 1914, herausgegeben von Hans Gerd Koch, Frankfurt am Main, 1999, S. 87. An Felice Bauer vom 11./ 12 Februar 1913, hier S. 238.

[6] „Wie in seiner Dichtung ist Kafka auch in den Zeichnungen ebenso ein gewissenhafter Realist [...] Wie zugleich Schöpfer einer Phantasiewelt.“ (Ebd.)

[7] Kafka, Tagebücher, a.a.O., Seite 14f; hier S. 262.

[8] Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino, Berlin: Galiani, 2. Aufl. 2017.

[9] „Das trifft konkret auf Fotografien und Gemälde zu, beispielsweise in die Verwandlung (das Bild der Dame im Pelz an der Wand von Gregor Samsas Zimmer), Der Verschollene (die Fotografie der Eltern Karl Roßmanns) oder Der Prozess (die Gemälde des Malers Titorelli). Diese Bilder treten als Dingobjekte im Text semiotisch wie symbolischer vor, indem sie medial in Szene gesetzt werden und zugleich eine Verdichtung von Bedeutung versprechen. Dabei verweigern sie aber gerade eine lineare Lesbarkeit im Verbund mit dem Text. Kafkas Bilder im Text sind eminent opak.“ (S. 270). Vgl. Deleuze, Guattari, Kafka: Für eine kleine Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.

[10] In dem Band Betrachtungen, Leipzig: Ernst Rowohlt 1912, S. 79, hier S. 275.

[11] Kilcher kommentiert: „Treffend also bildlich, beschreibt er damit den Umstand, dass in Kafkas Betrachtung die Schrift als Körper zu einem Bild geworden ist, dass sich als Kunstform ästhetisch und körperlich behauptet und semantisch verweigert“. (S. 275).

[12] „Und doch gibt es überall in den Tagebüchern und Briefen Texte, die in Skizzen aufbrechen, und Texte, in denen sich Bilder gegen die Grenzen der literarischen Form stemmen.“ (S. 291-292).

[13] „Dieses immer bewegliche Dinge, dass nicht wirklich festgehalten werden kann, findet sich auch in diesen Zeichnungen, in denen der Körper aus seiner ihm eigenen, zweckmäßigen Form flieht und das „Zweckmäßige“ als genau das entlarvt, was die Risse überdeckt, die den Körper daran hindern zusammenzukommen, die zeigen, wie der Körper auseinanderfällt, wenn er seine Auflösung in Linie, Bewegung und Luft sucht, eine flüchtige Figur, die sich dem Festhalten entzieht.“ (S. 293).

[14] „Man sieht nur, was man weiß. Eigentlich: Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht“ (An Friedrich von Müller, 24. April 1819

Artikel online seit 26.11.21
 

Franz Kafka
Die Zeichnungen
Herausgegeben von Andreas Kilcher
Unter Mitarbeit von Pavel Schmidt
Mit Essays von Judith Butler und Andreas Kilcher
C.H. Beck 2021
368 S., mit 229 farbigen Abbildungen
45,00 €
978-3-406-77658-8

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